04.10.2004. In der New York Review of Books rechnet Joan Didion mit der "Neuen Normalität" in den USA ab. In der Lettre erzählen Chen Guidi und Wu Chuntao wie ein Dorfbuchhalter vier Bauern tötete. Im Espresso fordert James Noyes, Vizeverteidigungsminister unter Nixon, den Rückzug der Amerikaner aus dem Irak. Folio wittert das intellektuelle Fluidum im Namen einer Katze. Die kolumbianische Semana fragt, ob die rechten Paramilitärs im Lande nicht einfach stinknormale Drogenhändler sind. Al Ahram begeistert sich für das europäische Kino. In der Gazeta Swiateczna untersucht Maria Janion die nationalen Stereotypen in Polen. Die New York Times bereitet uns auf das umgebaute MoMA vor.
New York Review of Books, 21.10.2004
In einem großen, bitteren, aber sehr lesenswerten Rundumschlag
rechnet Joan Didion (
mehr) mit der Politik im Amerika der
"Neuen Normalität" ab. So bezeichnet Didion den Zustand, der Amerika nach dem
11. September erfasst habe, eine Art
kollektive Amnesie, die jegliche politische Kultur als
Luxus betrachte, und in der es möglich sei, ungehindert grundlegende
begriffliche Neuprägungen in Umlauf zu bringen, mit nur allzu greifbaren Konsequenzen. "Selbst
das Wort 'Wahrheit' war insofern neu definiert worden, als man sich entschieden von der empirischen Methode der Wahrheitsfindung verabschiedet hatte: 'Die Wahrheit' war jetzt genau das, was auch immer man als Wahrheit gebrauchen konnte, die
Bestätigung der Vorschläge oder der Maßnahmen, von denen wir 'tief in unseren Herzen überzeugt waren'
oder an die wir 'glaubten'.
'Überzeugung' und
'Glaube' waren ihrerseits zu Wörtern geworden, die man benutzte, um einen undurchsichtigen Schleier über das, was gesagt worden war, zu werfen und dessen Entschlüsselung (von einer Diskussion ganz zu schweigen) unmöglich zu machen.
Benjamin M. Friedman
begutachtet das
ökonomische Konzept der beiden amerikanischen Präsidentschaftskandidaten
John Kerry und
George W. Bush (der nicht sonderlich gut abschneidet) und kommt zu dem Schluss, dass der Wähler, um sich für einen der beiden zu entscheiden, lediglich die Frage beantworten muss, wer
Anregungen zum Sparen braucht: die von Zinsen lebenden oberen Zehntausend oder die breite, arbeitende Mittelschicht.
Weitere Artikel: Nur
tiefes, persönliches Leid kann
Shakespeare in solch schwindelnde künstlerische Höhen getrieben haben,
glaubt Stephen Greenblatt. Und tatsächlich: Auf der Suche nach biografischem Humus für den
"Hamlet" ist Greenblatt auf den im Sommer 1596 verstorbenen
Sohn des Dichters gestoßen. Sein Name?
Hamnet. Max Rodenbeck
durchforstet eine ganze Reihe von Büchern, die uns
Saudi-Arabien näherbringen wollen. Stanley Hoffman
fordert einen unbedingten
Rückzug der amerikanischen Besatzungstruppen aus dem Irak und entwirft dafür einen Plan. Darryl Pinckney
lobt Edward P. Jones' Sklavereiroman
"The Known World" als bislang "
sonderbarste, traurigste Zusammenfassung dieses Themas".
Abgedruckt ist auch ein
Auszug aus einem
BBC-Interview vom 16. September, in dem
Kofi Annan auf das Drängen von
BBC-Reporter Owen Bennett Jones hin explizit erklärt, die militärische Operation im Irak sei
illegal gewesen (hier das
gesamte Interview als Videodatei).
Gazeta Wyborcza, 02.10.2004

Im Magazinteil der
Gazeta Wyborcza analysiert die Kulturhistorikerin und
Literaturwissenschaftlerin Maria Janion die bizarren Wiederbelebungsversuche von
romantischen, nationalen Stereotypen in der gegenwärtigen politischen Debatte in Polen. Sie stellt fest, dass das nationale Bewusstsein von einer Konzeption dominiert wird, die sich aus einer Mischung von
"Messianismus, Märtyrertum und Kreuzzugsmentalität" zusammensetzt, während die aufklärerische, rationalistische Tradition zunehmend an Boden verliert. Janion zitiert
Imre Kertesz: "Es scheint, als ob die mit einem
Vaterkomplex beladene, in einer sadomasochistischen Perversion lebende Seele eines kleinen, mitteleuropäischen Volkes ohne einen
mächtigen Unterdrücker nicht leben kann, dem sie die Schuld für alle historischen Niederlagen zuschieben kann, oder ohne eine nationale Minderheit, diesen Sündenbock, an dem man sich ausleben kann um all dem, durch das
alltägliche Versagen angestauten, Hass und den Ressentiments Luft zu machen". Besonders im Verhältnis zu den slawischen Nachbarn verfängt man sich in einer Art
schizophrenen, postkolonialen Diskurs, so Janion: einerseits fühlen sich die Polen von Russland dominiert und bedroht, andererseits würde man gegenüber den Ukrainern und Belarussen auch gerne die Großmacht geben. "Bis heute fühlen wir uns ihnen überlegen, empfinden aber gleichzeitig eine
Artverwandschaft mit ihrer Unterlegenheit".
Times Literary Supplement, 01.10.2004

Der
Schriftsteller Navid Kermani beschreibt in einem online leider gekürzten Artikel das
Erfolgsgeheimnis Osama bin Ladens: die Sprache. "Als ich Osama bin Ladens erste Video-Botschaft nach dem Beginn der Luftoffensive gegen Afghanistan gesehen habe, war ich von dem
exquisiten Arabisch beeindruckt, das er sprach. Nicht ein einziges Mal verfiel er in Dialekt, wie das üblich ist in der modernen Generation arabischer Führer, und er verwechselte auch nicht die komplizierten
Beugungsendungen, ein Fehler, den sogar Intellektuelle machen. Er wählte ein antiquiertes Vokabular, das gebildete Araber aus der religiösen Literatur und der klassischen Poesie kennen, und er vermied Neologismen. Es war tatsächlich das steife, puritanische, konformistische,
künstliche Arabisch, dass ich oben beschrieben habe, aber es war makellos. Und so, als ich bin Ladens Video sah, merkte ich, wie ich zum ersten Mal
in seinen Bann gezogen wurde."
Thomas Dixon
fragt sich nach der Lektüre zweier Aufsatzsammlungen und einer Monografie, zu was unsere
Gefühle gut sind. Beherrschen Sie uns oder benutzen wir sie? Keith Miller liest zwei Bücher über Massenmedien, Fernsehen und die Gesellschaft und
findet keines überzeugend.
Richard Hoggarts maßlose Kritik missfällt ihm besonders: "Die
Massenmedien in der Massengesellschaft bieten Hoggart eine lange Liste an Dingen, die seiner Meinung nach falsch laufen in England. Kultureller Relativismus, Starverehrung, (...) und
zu wenig Flughafenlounges." Recht freundlich dagegen
bespricht John Keegan
Elizabeth Büttners Untersuchung eines Themas, das die Briten wohl übersehen haben, "weil es direkt vor ihrer Nase lag": die verwickelte Situation der
Kinder britischer Beamter in Indien, die zur Erziehung nach England geschickt wurden.
Nepszabadsag, 01.10.2004
Wie sieht sich heute der kleine baltische Staat
Lettland? Die
Antwort, die der
Dichter Knuts Skujenieks in der in mehreren europäischen Tageszeitungen erscheinenden Artikelreihe
"Museum Europa" darauf gibt, ist unter anderem ein
Foto aus dem Jahre 1958. Darauf ist eine aus der sibirischen
Deportation zurückgekehrte Bauernfamilie zu sehen. Außerdem führt er auf: Eine lettische
Käsesorte, deren Form die Sonne oder auch das
Universum darstellt, einen nur für lettische Bauernhäuser typischen, von zeitgenössischen Designern wiederentdeckten Stuhl und eine Novelle von
Vizma Belsevica, in der es um zwei einsame Greisinnen geht, für die in den Zeiten der kommunistischen Diktatur die Vorbereitung auf eine
würdige Beerdigung zum Sinn ihres Lebens wird.
Figaro, 30.09.2004
Im
Figaro litteraire fragt sich Jacques de Saint-Victor in einem Essay, ob die
Intellektuellen am Ende sind, und warum sie - gleich, ob links oder rechts - nicht stärker den
Vorteil der öffentlichen Bühne nutzen. Unter Hinweis auf eine lesenswerte Neuerscheinung ("Histoire des gauches en France", herausgegeben von Jean-Jacques Becker und Gilles Candar, 2 Bände, La Decouverte) und nach einem kleinen Rekurs auf intellektuelles Selbstverständnis geht Saint-Victor hart mit diesem
ins Gericht: "Die Revolution steht nicht auf der Tagesordnung, die intellektuelle Kritik macht vielmehr mit dem gleichen Zynismus weiter, uns ihre ständig
mitleiderregende Lage beizubringen. ... Kurz: Sie spielt immer beide Karten aus, den
Moralismus und den Zynismus. Es gibt keinerlei Grund, dass dies aufhört. Zumal in einer Zeit die Mitgefühl und Opferhaltung zum Maßstab allen Erfolges gemacht hat ..."
Hingewiesen wird außerdem auf die Studie
"Les Intellectuels en France" von Jean-Francois Sirinelli und Pascal Ory (Collection Tempus, Perrin) und zwei weitere Artikel: Einen
Text über den
"Fluch der intellektuellen Rechten " sowie ein
Interview mit dem Geschichtswissenschaftler und Spezialisten für die Ideologiengeschichte des 20. Jahrhunderts,
Michel Winock, der darin erklärt: "Wir brauchen eher
Denker als Propheten".
Elet es Irodalom, 24.09.2004

Der
Schriftsteller Istvan Eörsi läutet in der prominentesten kulturellen Wochenzeitung Ungarns sämtliche Alarmglocken
: "
Unsere Geliebte, die Pressefreiheit, blutet aus mehreren Wunden, wir müssen schon um ihr bloßes Leben kämpfen". Eörsi wurde am 9. September wegen eines Zeitungsartikels angeklagt und hat in einem der spektakulärsten und vielleicht auch lehrreichsten
Medienprozesse der neuesten ungarischen Geschichte
verloren. Die erfolgreiche Klägerin ist
Maria Schmidt, Direktorin des Budapester Museums
"Haus des Terrors", die von Eörsi unter anderem "eine
auf Geschichtsfälschung spezialisierte Geschäftsfrau" genannt wurde, weil sie laut Eörsi die Horthy-Ära der 1930-er Jahre in unterschiedlichen Foren schön zu reden versuche. So bezeichnete sie das Ungarn dieser Zeit als "eine auf einem Mehrparteiensystem basierende, parlamentarische Demokratie". Eörsi beklagt, dass das Gericht nicht den
"Wahrheitsgehalt" seiner Äußerungen überprüfte, sondern ausschließlich ihren Stil.
Al Ahram Weekly, 30.09.2004

Kairo hat das
europäische Kino wiederentdeckt! Nachdem in den gesamten Neunzigern gerade man zwei (!) europäische Filme in Ägypten liefen, brachte ein zweiwöchiges Festival mit Filmen von
Lars von Trier,
Wim Wenders und vielen anderen die Erkenntnis, dass großes Interesse an Alternativen zu Hollywoods Big-Budget-Kino besteht - die Säle platzten aus allen Nähten,
berichtet Hani Mustafa. Organisiert wurde das Programm von der Regisseurin und Produzentin
Marianne Khoury, die von Yasmine El-Rashidi wunderbar
porträtiert wird: als Energiebündel,
Filmbesessene, Beobachterin des Lebens.
Mohamed Hassanein Heikal, einst ein enger Mitstreiter von
Nasser, seit vielen Jahrzehnten Journalist und renommierter politischer Kommentator in der arabischen Welt, hat den Sommer über im Fernsehsender
Al-Dschasira in einer wöchentlichen Sendung die
arabische Gegenwart im historischen Kontext dargestellt.
Al-Ahram veröffentlicht Auszüge, in denen Heikal den Verlust arabischer Einheit kritisiert, die imperialen Ansprüche der Vereinigten Staaten aus der amerikanischen Geschichte heraus erklärt und die Zukunft israelisch-arabischer Konflikte in einen geopolitischen Rahmen stellt.
Thema
Buchmesse: Rania Gaafar hat sich
angeschaut, was die
deutschen Medien im Vorfeld über die arabische Welt zu sagen haben, und stellt fest: erstens, jede Menge, und zweitens, endlich mehr über Literatur und Kultur und weniger über Politik - den Themen, die seit dem 11. September in einem krassen Missverhältnis standen. Peter Ripken,
Projektmanager und Leiter der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika,
bestätigt diese Eindrücke und ist optimistisch, dass die Präsentation einen enormen und
nachhaltigen Aufschwung arabischer Literatur und Kultur in Europa zur Folge haben wird - Anzeichen dafür hat er bereits im Vorfeld der Messe gefunden. Doch während Ripken die Kritik am offiziellen Programm abwehrt, wird sie vom Schriftsteller
Bahaa Taher verstärkt, der hier seine Entscheidung
begründet, die Frankfurter Präsentation zu
boykottieren.
Schließlich, als Bonbon, ein
Gedicht Mahmud Darwischs in Erinnerung an
Edward Said - hier der Beginn:
"New York/ November/ Fifth Avenue
The sun a plate of shredded metal
I asked myself, estranged in the shadow:
Is it Babel or Sodom?
..."
Economist, 01.10.2004

Mehr oder weniger belustigt
beobachtet der Economist, wie die EU-Diplomatie in Sachen
EU-Beitritt der Türkei ihre bewährte Methode anwendet: Sie treibt den Prozess in vielen kleinen Schritten voran, "die es einem fast unmöglich machen zu erkennen,
wann die Linie tatsächlich überschritten ist." Und in der Tat sei niemand wirklich in der Lage zu sagen, ob der türkische Beitritt schon beschlossene Sache sei oder nicht. Insgesamt, beobachtet der
Economist, beunruhigt diese Frage jedoch immer weniger Menschen, da vielerseits ein
grundlegendes Umdenken stattgefunden habe. Auch wenn einige, wie das niederländische Kommissionsmitglied Frits Bolkestein, der Meinung seien, "eine unkontrollierte muslimische Einwanderung nach Europa würde bedeuten, das Zurückschlagen der Türken vor den
Toren Wiens im Jahre 1683 sei umsonst gewesen."
Wachsendes Unbehagen hingegen
bereitet dem Economist, dass die
religiösen Wähler bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl zum
Zünglein an der Waage werden könnten - zugunsten der Republikaner, deren Anziehungskraft jetzt auch auf die Katholiken überschwappt. "Die Republikaner werden zur Partei der engagierten Christen, die Demokraten zur Partei der engagierten Sekularisten. Es könnte gut sein, dass diese Wahl zu einer Entscheidung zwischen
Michael Moores 'Fahrenheit 9/11' und
Mel Gibsons 'The Passion of the Christ' wird. Nicht gerade eine appetitliche Entwicklung für diejenigen, die sich für keinen der beiden Filme erwärmen konnten."
Im
Aufmacher: Böse Aussichten für die
Weltwirtschaft.
Spiegel, 04.10.2004

Petra Bornhöft und Tina Hildebrandt
suchen nach den tieferen Gründen für die Heftigkeit der Auseinandersetzungen zwischen
Otto Schily und seinen ehemaligen
grünen Parteigenossen: "Schily, der schon als Kind
in weißen Hosen Krocket spielte, regt die verbürgerlichten Grünen auch deshalb so auf, weil sie in ihm geradezu eine Karikatur ihrer selbst sehen."
Weitere Artikel: Inzwischen arbeiten in Deutschland die ersten
Ein-Euro-Jobber. Caroline Schmidt
hat ausschließlich zufriedene Leute angetroffen. Alle brannten darauf, überhaupt irgendetwas zu tun. Anders gesagt - und in den Worten von Schmidt: "Die Probe aufs Exempel - wenn die antreten sollen, die bisher wenig Lust aufs Arbeiten verspüren - steht demnach noch aus." Der türkische Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan nimmt sich im
Interview der
Ängste der Europäer an. Und Jürgen Kremb und Peter Wensierski
erzählen die tragische Geschichte des
letzten Toten am Eisernen Vorhang: Der 36-jährige Architekt Kurt-Werner Schulz aus der DDR starb an der
ungarisch-österreichischen Grenze wenige Wochen, bevor diese endgültig geöffnet wurde. Als seine Frau "am 9. November 1989 den Fall der Mauer im Fernsehen verfolgt, wünscht sie, dass alles nicht wahr ist, 'damit Kurts Tod nicht so sinnlos war'."
Im Print: Artikel und Rezensionen zur
Buchmesse und ein Porträt des Reporters
Seymour Hersh.
Im Titel erklärt Volker Hage, warum
Friedrich Schiller heute noch immer "so frisch wie vor 200 Jahren" wirkt - und
Schiller-Biograf Rüdiger Safranski erläutert die "Bedeutung des Dichters als Philosoph".
New York Times, 04.10.2004

Vergangene Woche haben wir schon
Philip Roths Bericht über die Entstehungsgeschichte seines neuen Buches
"The Plot Against America" lesen dürfen, jetzt
bestätigt ein begeisterter Paul Berman, was sich schon angedeutet hat. "Philip Roth hat einen
grandiosen politischen Roman geschrieben, wenn auch in einer Weise, die seine Leser nie geahnt haben - die Fabel eines alternativen Universums, in dem
Amerika faschistisch geworden ist und das Alltagsleben unter einer Dampfwalze von nationaler Politik und Massenhass plattgewalzt wird. Hitlers Alliierte regieren im Weißen Haus.
Antisemitische Mobs beherrschen die Straße." Berman weiß gar nicht, wo er mit dem Lob anfangen soll. "Der Roman ist düster, lebendig, traumhaft, grotesk und gleichzeitig unheimlich glaubwürdig." Das Fazit: "Roth hat seinen Weg in einen archetypischen Alptraum gefunden - die bange,
uralte Mitternachtsangst der amerikanischen Juden."
Hier das erste Kapitel,
hier mehr über den Autor.
Großartig! David Orr ist in die Tiefen des Netzes getaucht und hat knapp
25 Websites heraufgeholt, in denen sich alles um
Literatur dreht. Von
Maud Newtons Blog, das als eine der besten Quellen für Neuigkeiten aus dem
Verlagswesen gepriesen wird, bis hin zu
WordsWithoutBorders, deren norwegische Betreiber es sich zur Aufgabe gemacht haben, möglichst viele Bücher
ins Englische zu übersetzen.
Tom Carson
mag Jon Stewart nicht nur, weil er in der ersten Folge seiner täglichen
Comedy Show nach dem 11. September geweint hat, sondern auch weil er Bücher schreibt wie "
America (The Book). A Citizen's Guide to Democracy Inaction", in dem er "selbstironischen jüdischen Witz mit
Ivy-League-Schickheit" verbindet. Nicht immer überzeugend
findet dagegen
Colm Toibin die Versuche Stephen Greenblatts, in seiner
Shakespeare-Biografie "Will in the World" aus der Vita des Meisters sein Oeuvre zu destillieren. Ben Macintyre
glaubt Jonathan Randal, wenn er Osama Bin Laden als
Geschäftsmann in Sachen Terror sieht, der beinahe schon unsterblich ist. Die Printausgabe kommt in aufgefrischtem Gewand daher, neu ist eine Kolumne zur Welt der
Bestseller. Dwight Garner
nimmt sich zum Einstand die allererste
Bestenliste aus dem Jahr
1935 vor, die es
hier als Pdf gibt.
Aus naheliegenden Gründen ist diese Ausgabe des
New York Times Magazine der
Kunst gewidmet. Am 20. November öffnet das
MoMa seine runderneuerten Pforten. Arthur Lubow
schafft es in einer der längsten Reportagen der vergangenen Jahre, aus der monatelangen Vorbereitungsarbeit der
Kuratoren eine spannende Geschichte zu machen. Lubow verrät auch schon einiges. So wird nicht mehr der
Badende von
Cezanne die Besucher in der Eingangshalle begrüßen, sondern
Paul Signacs Werk "Vor dem Hintergrund eines Hintergrunds voller rhythmischer Hebungen und Winkel, Töne und Farben, ein Porträt von
M. Felix Feneon im Jahr 1890". MoMA-Direktor Glenn Lowry soll begeistert gewesen sein, als er im April das briefmarkengroße Bild am
Schaumstoffmodell des Museums entdeckte, das den Kuratoren zur Veranschaulichung dient. "Ich würde sagen, wir können
den Vorhang heben."
Hier kann man sich unterlegt von Schwenks durch das halbeingerichtete Museum die Erklärungen des Kurators
John Elderfield anhören.
Weiteres: Mit glamourösen Fotos von Tina Barney
stellt Maura Egan die
Frauen vor, die New Yorks Kunstszene als
Mäzene mit ihrem Geld nähren und lenken. Wo sind die großen
Impresarios der Vergangenheit geblieben,
fragt sich Jesse Green, wenn er sich die Anwärter auf den Chefposten des geschichtsträchtigen
Public Theatre ansieht. In einer weiteren Galerie sind Porträts aus der Hand von
Elizabeth Peyton zu
sehen, eine der erfolgreicheren jungen Malerinnen New Yorks. James Traub
grübelt, ob die Museen auch in Zukunft noch als
Rückzugstätten aus dem hektischen Stadtleben taugen werden. Und Russell Shorto
besucht Nonesuch Records, um herauszufinden, wie dieses kleine aber feine
Label den Weg in die Zukunft der Musikindustrie weisen könnte.
Lettre International, 01.10.2004

Im neuen Heft sind lange Auszüge aus den Reportagen der sieben Finalisten für den
Lettre Ulysses Award abgedruckt. Online lesen dürfen wir auszugsweise die
Reportage der Preisträger
Chen Guidi und Wu Chuntao über die Lage der
chinesischen Bauern - in diesem Auszug erleben wir, wie der Dorfbuchhalter Zhang Guiquan
vier Bauern tötet, um eine Überprüfung seiner Bücher zu verhindern. Weiter
Tracy Kidders Reportage über
Paul Farmer, einen Arzt, der die
Haitianer medizinisch versorgt, und
Daniel Bergners Reportage über
Kinder im Bürgerkrieg von
Sierra Leone.
Paulo Mouras Reportage über afrikanische Flüchtlinge, die in einem
Wald bei Tanger darauf warten, in die Festung Europa eindringen zu können, finden Sie
hier.
Jacques Derrida antwortet auf Fragen von Jean Birnbaum über
Leben und
Überleben: "Um ohne weitere Umschweife auf Ihre Frage zu antworten: Nein, ich habe niemals leben-gelernt. Ganz und gar nicht! Zu leben lernen, das müßte bedeuten,
zu sterben lernen, zu lernen, der absoluten Sterblichkeit (ohne Heil, weder Auferstehung noch Erlösung - weder für sich selbst noch für den anderen) Rechnung zu tragen, um sie zu akzeptieren. Seit Platon lautet der philosophische Imperativ: Philosophieren heißt sterben lernen. Ich glaube an diese Wahrheit, ohne mich ihr zu ergeben. Und zwar immer weniger. Ich habe
nicht gelernt, den Tod zu akzeptieren."
Weitere Artikel: Aus der
London Review of Books wurde
Andrew Hagans Reportagen über den Parteitag der
Demokraten und
den der
Republikaner übernommen. Loretta Napoleoni
beschreibt die intimen Beziehungen zwischen
Saudi-Arabien und den
USA. Und
Peter Sellars schreibt über das
Theater und die Freiheit.
Outlook India, 11.10.2004

Kulturpessimismus in
Outlook: Prem Shankar Jha
erinnert an den Schriftsteller
Mulk Raj Anand, einen der großen Männer der neuen indischen Literatur, der am 28. September verstarb. Und er erinnert an das
kulturell selbstbewusste Indien, dass nationalistische Idealisten wie Anand und Mahatma Gandhi zum Leitbild erhoben, dass aber, so der Autor, schon bald in der Trivialität der neuen Eliten versank, so dass heute Bollywood nationale Identität verkörpert: "Ihr Indien erwies sich als
Totgeburt. Seinen Platz nahm ein anderes Indien ein - ein
rohes, verwirrtes Land, dessen Bewohner nicht wissen, was sie in Ehren halten oder welche Richtung sie einschlagen sollen, und die diese Leere mit
Selbstinteresse, Materialismus und Gier zu füllen suchen."
Der Panchayat oder "Rat der Fünf" ist eine traditionelle Institution der
dörflichen Selbstverwaltung - eine ländliche Gemeindeverwaltung, die jahrhundertelang von den landbesitzenden Kasten dominiert wurde. Und das ist, so der erschreckende Befund von Soma Wadhwas
Reportage, vielerorts noch immer so; obwohl es gewählte Panchalyats gibt, haben oft die
Kasten-Panchayats große Macht und wenden sie vor allem
gegen Frauen und Mitglieder
"niederer" Kasten an: "Der Ältestenrat der Gemeinde - bestehend aus fünf oder mehr Mitgliedern, meist hochstehenden Kasten angehörend und ausnahmslos männlich - spricht Recht nach eigenen Maßstäben - um Streitfälle zu schlichten, die Regeln des Anstands festzulegen und die
feudal-patriarchale Ordnung zu erhalten. Diese Kastengremien bestrafen auf der Basis einer mittelalterlichen Moral: durch Ächtung und öffentliche Entehrung. Sie zwingen schuldig Gesprochene,
Exkremente zu kauen und sich auszuziehen, sie zwingen Frauen, nackt herumzulaufen, sie ordnen Folter und Verstümmelungen an, die lassen vergewaltigen und sogar töten."
Weitere Artikel: 62 Prozent aller Jungs in Delhi denken, dass ein Mädchen
nicht schwanger werden kann, wenn sie nur
ein- oder zweimal Sex hat, 29 Prozent aller indischen Teenager sind sich sicher, dass nur Schwule und Prostituierte
Aids bekommen können, und
Outlook macht sich Sorgen - die
Titelgeschichte von Sanghamitra Chakraborty. Anniruddha Bahal
sieht Anzeichen dafür, dass das
Massaker von Beslan eine Introspektion in der islamischen Welt ausgelöst hat. Und Khushwant Singh
hat eine atemlose Lektüre hinter sich:
Lucy Moores "
Maharanis: the Lives and Times of Three Generations of
Indian Princesses".
Espresso, 07.10.2004

Die Amerikaner müssen sich aus dem
Irak zurückziehen, "ich sehe keine Alternative", sagt
James Noyes, ehemaliger Vizeverteidigungsminister unter Richard Nixon und Gerald Ford und jetzt
Analyst in der
Hoover Institution. "Und wenn dann ein islamischer Staat wie der
Iran herauskommt?", fragt Paolo Pontoniere. "Glauben Sie nicht, das wäre besser? Dann haben wir
wenigstens einen Verhandlungspartner. Anstatt den Stock zu gebrauchen, können wir die Handelsbeziehungen und humanitäre Hilfe benutzen." Das Interview ist Teil eines
Dossiers, in dem Enrico Pedemonte Analysten so verschiedener ThinkTanks wie
Csis oder der
Brookings Institution die Lage einschätzen lässt.
"Wir sind alle Veline", soll
Umberto Eco einmal geschrieben haben. In einer ganzen Bustina
wehrt er sich nun gegen diese Unterstellung. Veline sind die "seidigen", knapp bekleideten und
meist stummen Helferinnen, die in keiner italienischen Fernsehshow mehr fehlen dürfen (im Internet
hier und
hier anscheinend auch nicht). "Ich gehöre zu einer Generation, die dazu erzogen worden ist, nicht daran zu glauben, was in den Zeitungen steht, die
Todesanzeigen ausgenommen. Es ist wahr, dass wir nun in einer Diktatur leben, aber auch da glaube ich mir eine
reservierte Haltung gegenüber allem, was ich lese, aufrechterhalten zu haben."
Großes Thema ist natürlich die Rückkehr der beiden
italienischen Geiseln aus dem Irak. Denise Pardo
erzählt die wunderreiche Geschichte noch einmal und hat exklusiv mit dem neuen italienischen Helden und
Präsidenten des nationalen Roten Kreuzes,
Maurizio Scelli, gesprochen.
London Review of Books, 07.10.2004

Es passt,
findet Adam Shatz, dass Algeriens bekanntester Schriftsteller der letzten zehn Jahre
Kriminalromane schreibt - und dazu noch unter dem lange Zeit mysteriösen weiblichen Pseudonym
Yasmina Khadra. Denn eigentlich sei das
Algerien des letzten Jahrzehnts, mit all seinen Ermordeten und Vermissten, mit einem einzigen großen "murdery mystery" vergleichbar. Shatz interessiert aber in erster Linie, was Khadra zum
islamistischen Terrorismus zu sagen hat. "'Binnen kurzem', schreibt Khadra, 'begannen die Leute zu glauben, spektaktuläre Attacken hätten
Klasse und die Mörder eine geradezu
aufregende Rücksichtslosigkeit.' Religiöse Prinzipien oder Ideologien sind nicht die treibende Kraft. Hier geht es um das Begleichen einer Rechnung und eine berauschende Ödipale Wut - um
die Rache der Unterdrückten. In Ghachimat, wo 'das kollektive Gedächtnis den Groll nährt', sind die glühendsten Befürworter der islamischen Aufrührer entweder die
Söhne der Harkis (Algerier, die im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite der französischen Armee kämpften), die die Verfolgung ihrer Eltern rächen, oder einfach junge Männer, die gegen die Älteren, die '
das Gesicht verloren haben' aufbegehren."
Weitere Artikel:
A. L. Kennedy versteht es zu zeigen, "wie zwei Menschen hin- und hergerissen werden zwischen ihrem
Bedürfnis geliebt zu werden und ihrer Angst, die Möglichkeit der Liebe aufs Spiel zu setzen, indem sie einander missverstehen oder - schlimmer noch - völlig verstehen",
schreibt Thomas Jones. In Kennedys jüngstem Roman "Paradise" (
Leseprobe) hat er mit einer neuen Variante dieser Situation Bekanntschaft gemacht - dem
Alkohol. Tom Paulin
erzählt uns etwas langatmig, unter welchen Umständen er
Dean Godsons Biografie des nordirischen Freiheitskämpfers und Friedensnobelpreisträgers
David Trimble (
"Himself Alone") gelesen hat - und schließlich auch, was er darin gelesen hat. Angesichts einiger jüngst vor Gericht verhandelter Fälle, in denen das
Münchhausen Syndrom by proxy zu einer Art Erklärungs-Zauberformel wurde,
ermahnt John Sturrock den Ärztestand, sich nicht den
"Idolen des Marktplatzes" hinzugeben, sondern der Vielfalt an Krankheitsbildern, die sich hinter einem
modischen Krankheitsnamen verbirgt, Rechnung zu tragen. Und in der Tate Britain
steht Peter Campbell staunend vor
zwei Porträts desselben Modells, die bezeugen, wie sehr sich die Malerei der Geschwister
Augustus und Gwen John voneinander unterscheidet: Hier ist Dorelia "stärker und exotischer", da "gewöhnlicher und interessanter".
Plus - Minus, 02.10.2004
Die Wochenendausgabe der
Rzeczpospolita befasst sich diesmal mit dem neuen Buch des berühmten Reporters, Schriftstellers und Weltenbummlers
Ryszard Kapuscinski (mehr
hier), "Podroze z Herodotem" (Reisen mit Herodot). In einer umfangreichen
Rezension beschreibt Krzysztof Maslon die
unvergesslichen Momente des Buches, z.B. die Totenstille bei einem
Louis-Armstrong-Konzert in Khartum oder das Eingeständnis Kapuscinskis, dass er Englisch während seiner ersten Auslandsreise nach Indien lernte, anhand von Hemingways "Wem die Stunde schlägt". Ein kurzer Ausschnitt aus der Rezension: "Und dann
öffnet sich der Autor. Er blickt vierzig, fünfzig Jahre zurück. Und so, wie er die Gegenwart für uns offen legte, so zeigt er uns die Vergangenheit. Eine
sonderbare Vergangenheit, aber er wundert sich mit uns. Er stellt die selben Fragen: so war das also, so hat das damals ausgesehen? So habe ich damals ausgesehen, als ich das erste Mal in diese andere Welt fuhr?
Benommen, voller Angst, schlecht angezogen. 'Man musste keinen Pass bei sich tragen', sagt er, 'schon von weitem konnte man sehen, wer von welcher Seite des Eisernen Vorhangs kommt'"
Im
Interview erzählt Kapuscinski, wie der antike Geschichtsschreiber
Herodot sein Weggefährte während der Reisen in den Nahen und Mittleren Osten war, und dass er den
West-Ost-Konflikt genauso wie den
Aufstieg und Fall von Imperien auf eine bis heute beeindruckenden Art und Weise analysiert hat. "Herodot zeigt uns den
Mechanismus, wie ein Imperium entsteht, was einen grenzenlosen Drang, eine Notwendigkeit zur Dominanz und Beherrschung zur Folge hat." Und zur eigenen Arbeitsweise: "Wissen Sie, dass ich meine Texte
immer geglättet habe, weil ich dachte: wenn ich es so beschreibe, wie es wirklich war, wird man mir es nicht glauben und sagen
'das ist erfunden'? Ich habe gezielt Adjektive gestrichen, die Beschreibung getönt. Dabei war die Wirklichkeit viel
dramatischer, furchtbarer...".
Folio, 04.10.2004

Zürich, Zürichbergstraße 93. Unter dieser noblen Adresse würde man keine
Studenten-WG erwarten, doch die
Villa ist tatsächlich fest in studentischer Hand, wie der "NZZ-Folio-Onkel" Andreas Dietrich, der dort einige Monate zu Gast war,
bezeugen kann.
Und - wie sind sie so, die Studenten? Sind sie hingebungsvolle Bibliotheks- und Laborinsassen? Oder sind sie
der Boheme und ihren Lastern verfallen? "In den
kleinen Dingen enthüllt sich das
intellektuelle Fluidum, das die studentische von der kommunen Kommune unterscheidet. Die
Katze Löffel zum Beispiel: Sie hat nicht bloß einen Namen, sie hat eine
Nomenklatur. Ursprünglich hieß das Sheba-verwöhnte Tier 'Josephine', was im mündlichen Alltagsausdruck zu 'Josy' verkürzt oder in einer inzwischen abgestorbenen Verästelung zeitweilig von 'Luchs' verdrängt wurde; dann setzte sich aufgrund eines auffälligen anatomischen Merkmals 'Flauschig' durch, das später mittels
fremdsprachlicher Artikelerweiterung zu 'Le Flauschig' veredelt wurde; durch Verkürzung und Lautverschiebung, die von einem signifikanten Teil der Sprechgemeinschaft vollzogen wurde, entstand schliesslich die aktuell gültige Bezeichnung 'Löffel' -
angewandte Linguistik für die Katz."
Weitere Artikel: "Gescheit oder gescheitert?"
Folio hat Studenten in der Mensa mit einem
Fragenkatalog auf ihre
Allgemeinbildung hin getestet. Fazit: Durchwachsen. Peter Stücheli-Herlach, Dozent für Politische Kommunikation an der Zürcher Hochschule Winterthur,
sinniert über die
Zukunft der europäischen Universitäten im vielbeschworenen internationalen Wettbewerb. Die Studentin Pascale Bruderer, der Geisteswissenschaftler Ulrich Rudolph und der Naturwissenschaftler Gottfried Schatz gehen im
Gespräch der Frage nach, inwieweit
Auswahlverfahren an den Universitäten berechtigt sind. Markus Schneider
führt eine
Kosten-Nutzen-Rechnung aus der Sicht des Steuerzahlers durch. Trotz wachsender Studentinnen-Zahlen stellt sich die
Frauenfrage immer noch,
weiß Yvonne-Denise Köchli. Von Dario Venutti erfahren wir,
warum die
Leistungsbewertung an Universitäten zunehmend zum Problem wird. Schließlich
stellt Jürg Ramspeck die Spezies des
abgebrochenen Studenten vor und plädiert für dessen Recht, "seinen
biografischen Knick als interessante Wendung in seiner Vita interpretatorisch nachzubessern".
Außerdem: "Welcher Duft atmet jene
Stille, die auf
langen Spaziergängen, auf denen man nur von seinem Schutzengel begleitet wird, nach und nach bis in die Fingerspitzen dringt?" Luca Turin hat
"den Duft zum Sonntag" gefunden. Und Reto U. Schneider
berichtet von einem bezeichnenden Experiment, bei dem ein ganzes Expertengremium auf den
sinnlosen, aber brillanten Vortrag eines Schauspielers hereinfiel.
Semana, 03.10.2004

Weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit verhandelt derzeit die
kolumbianische Regierung mit den rechtsradikalen
paramilitärischen Verbänden des Landes über ein eventuelles Friedensabkommen. Vergangene Woche
veröffentlichte das Nachrichtenmagazin
Semana brisante Auszüge aus einem Mitschnitt der ansonsten
geheimen Gespräche zwischen Regierungsunterhändler (und Psychoanalytiker) Luis Carlos Restrepo und den Anführern jener mehr als 10.000 Kämpfer, die mit brutalsten Methoden den linken Guerillagruppen entgegentreten. Seither gehen in der Redaktion
düstere Drohungen ein und werden die Telefone der Journalisten abgehört.
Beides könnte damit zusammenhängen, dass
Semana die Frage
aufwirft, mit wem da eigentlich Gespräche geführt werden. "Sind das paramilitärische Gruppierungen mit
sozialem Rückhalt und einem politischen Projekt zur Aufstandsbekämpfung? Oder handelt es sich um
Drogenhändler, die die militärischen Strukturen der Selbstverteidigungsgruppen übernommen haben, um
politischen Status zu erlangen, was es ihnen ermöglichen würde, mit der Regierung zu verhandeln, die
Herkunft ihres Geldes zu verschleiern und ihr Strafregister zu bereinigen?",
fragt das Magazin nun in einem sehr besorgten, außergewöhnlichen Leitartikel. Beispiele dafür, wie das funktioniert -die Drogenhändler kaufen sich tatsächlich für
ein paar Millionen Dollar einen ganzen paramilitärischen Verband - hat
Semana ebenfalls recherchiert (
hier und
hier, sowie ein
Webdossier mit der bisherigen Berichterstattung über die Verhandlungen). Auch Experte Sergio Jaramillo findet, dass "der Begriff des Politischen" hier "an seine Grenzen" stößt. Trotzdem
hält er ein Friedensabkommen noch für möglich.
In einem weiteren Artikel
versucht der Schriftsteller
Hector Abad seinen Landsleuten das
Schweizer Staatsbürgerrecht zu erklären, das wie das deutsche auf dem Abstammungsprinzip basiert: "Wenn eine türkische Familie 1910 in die Schweiz einwanderte, dort 1920 einen Sohn zur Welt brachte und dieser Sohn seit nunmehr achtzig Jahre dort gelebt und gearbeitet hat, heißt das noch nicht, dass seine Söhne Schweizer sind". Sein Kollege Antonio Caballero indes wundert sich über die
Blauäugigkeit der jüngst im Irak freigelassenen
italienischen Geiseln. Die beiden Frauen erzählten, ihre Entführer gehörten vermutlich keiner politischen Gruppe an, denn schließlich hätten sie sich "hauptsächlich" über Religion unterhalten. "Dass die beiden, obwohl Italienerinnen, noch nicht bemerkt haben, dass
Religion nichts anderes als Politik ist, erinnert daran, dass im Koran, laut Borges, kein einziges Kamel erwähnt wird. Unnötig, über derart Offensichtliches ein Wort zu verlieren",
spottet Caballero.
New Yorker, 11.10.2004

In einer umfangreichen Reportage
berichtet Michael Specter über die Bedrohung, die in
Russland inzwischen von
AIDS ausgeht. "AIDS ist keine Thema, über das die Leute in Russland reden. Obwohl es sich hier schneller ausbreitet als anderswo in der Welt, gibt es praktisch keine Informationsspots im Fernsehen, und die Regierung tut
so gut wie nichts für Prävention, Behandlung, Aufklärung oder Betreuung. In diesem Jahr beträgt das Gesamtbudget für HIV-bezogene Belange etwas über
fünf Rubel pro Person - weniger als der Preis für ein Päckchen Zigaretten."
Weiteres: John Cassidy
untersucht, ob sich Amerika von
fremdem Öl unabhängig machen kann. Adam Gopnik
verabschiedet den Fotografen
Richard Avedon, der noch bis zum Schluss in jedem
New Yorker mit einem Porträt vertreten war. Zu
lesen ist außerdem die
Erzählung "The Scheme of Things" von
Charles D'Ambrosio.
Besprechungen: David Denby
las eine Studie, die sich mit der Geburt des modernen Lebens aus dem
intellektuellen Milieu in Edinburgh im 18. Jahrhundert beschäftigt (
"Crowded with Genius",
Harper Collins). Die
Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer
Biografie der Malerin
Georgia O'Keeffe. Nancy Franklin
stellt die vierteilige
TV-Serie "Tanner on Tanner" über einen fiktiven demokratischen Präsidentschaftskandidaten vor, mit der
Robert Altman und
Garry Trudeau ihre Produktion "Tanner ?88" von 1988 fortsetzen, außerdem die Dokumentation "Diary of a Political Tourist" von Alexandra Pelosi, die fast zwei Jahre lang die Kandidatensuche der Demokraten für den Präsidentschaftswahlkampf begleitet hat. Und David Denby
sah im Kino
Mike Leighs Sozialdrama
"Vera Drake",
das in diesem Jahr in Venedig den Goldenen Löwen gewann, und den Historientheaterfilm
"Stage Beauty" von
Richard Eyre.
Nur in der
Printausgabe:
Porträts der ökologischen Marketingstrategin
Mary Jane Butters und des religiösen Geldschefflers
Creflo Dollar sowie
Lyrik von Edward Hirsch und Mark Strand.