01.11.2004. In der New York Review of Books bespricht J. M. Coetzee den neuen Roman von Philip Roth. In Le Point geißelt Andre Glucksmann den zur Ideologie gewordenen Antiamerikanismus. Al Ahram wünscht sich eine rationale Analyse der arabischen Welt. Im ungarischen Magazin ES erklärt Istvan Eörsi, warum er sich nicht von den Islamisten "befreiten" lassen möchte. In der London Review trauert Judith Butler um Jacques Derrida. Die polnischen Magazine Plus-Minus und Gazeta Wyborcza widmen sich den ukrainischen Wahlen. Die katalanische Culturas feiert den Müßiggang. Das TLS feiert Luthers Medienmogul. Die New York Times besucht Tom Wolfe.
New York Review of Books, 18.11.2004
Garry Wills
feiert Michael Walzers neues Buch
"Arguing About War", dessen größtes Verdienst er darin sieht, dass Walzer die Debatte neu eröffnet hat, wer eigentlich die Autorität besitzt, einen
gerechten oder wenigstens
gerechtfertigten Krieg zu erklären - und wie demokratisch diese Entscheidung sein muss: "Walzer beschreibt, dass die amerikanische Regierung, wohlwissend um den Widerstand gegen einen nicht notwendigen Krieg, versucht hat, die Kriegsführung vom
demokratischen Prozess zu isolieren. Indem sie die Einberufungen abschaffte, erreichte sie, dass sich einflussreiche Bürger weniger um Einsätze im Ausland sorgten. Luftangriffe mit geringem Risiko und 'intelligente' Kriegsführung sollen die Sterberate reduzieren und den Anteil der Menschen an den Kriegen minimieren, für die sich ihre Herrscher entscheiden. Walzer findet es
abstoßend, andere zu töten, wenn man selbst nur ein geringes Risiko eingeht - das entspreche mehr der Rolle eines
Heckenschützers oder Attentäters als der eines
Kämpfers."
Nobelpreisträger J.M.Coetzee schreibt über
Philip Roth' neuen Roman, in dem Charles Lindbergh als Marionette der Nazis ins Weiße Haus zieht. Er zumindest konnte darin keinen Schlüsselroman erkennen: "In jeder sinnvollen Lesart handelt
'The Plot Against America' nur im alleräußersten Sinne von George W. Bushs Präsidentschaft. Es braucht schone einen
paranoiden Leser, um das Buch in einen Schlüsselroman der Gegenwart zu verwandeln. Aber schließlich geht es hier ja genau darum:
Paranoia." Allerdings meldet Coetzee auch Kritik an: "Roth schreibt einen realistischen Roman über erdachte Ereignisse. Nach Plausibilitätsstandards, denen er sich selbst unterwirft, ist der historische Rahmen mehr als nur ein
wenig wackelig."
Weiteres: David Cole
trägt zusammen, wie die amerikanische Regierung seit dem 11. September die
Bürgerrechte eingeschränkt hat. Russell Baker hat die wiederaufgelegten Bücher des großen Reporters
A.J. Liebling gelesen und
erinnert sich wehmütig an die Zeit, als
Journalisten noch bescheiden waren: "Danach wurden aus der Presse die Medien".
Joyce Carol Oates stellt die ultimative Biografie des Boxers
Jack Johnson vor, Geoffrey C. Wards
"Unforgivable Blackness". Und Richard C. Lewontin
bespricht zwei Bücher, die sich mit der
Integrität von Wissenschaftlern und der Frage beschäftigen, warum wir ihnen überhaupt glauben sollen.
Economist, 29.10.2004

Nicht direkt zwischen Pest und Cholera, aber immerhin nur zwischen
Inkompetenz und
Inkoherenz haben die Amerikaner am Dienstag die Wahl, meint der
Economist und
empfiehlt seinen 450.000 amerikanischen Lesern schweren Herzens, das kleinere Übel zu wählen:
John Kerry. Denn um innen- wie außenpolitisch zu bestehen "braucht Amerika einen Präsidenten, der in der Lage ist,
Fehler einzugestehen und aus ihnen zu lernen. George W. Bush hat sich durchweg geweigert, auch nur das Geringste zuzugeben, sogar nach Abu Ghraib, als er die perfekte Gelegenheit dazu hatte, Verteidgungssekretär Donald Rumsfeld zu entlassen und einen
Neuanfang auszurufen, hat er es vorgezogen, nichts zu tun." Seiner Empfehlung entsprechend
fragt sich der Economist in einem weiteren Artikel, wie es nach einer
Wahlniederlage um die politische Zukunft
George W. Bushs bestellt sein könnte.
Weitere Artikel: Endlich! Das demokratische Leben ist in das
technokratische Grau der EU eingebrochen,
freut sich der Economist angesichts der massiven - und erfolgreichen - Proteste gegen die Ernennung Rocco Buttigliones zum EU-Justiz-Kommissar. Daran werde deutlich, dass sich auch die
europäische Öffentlichkeit für die Brüsseler Entscheidungen interessiere, sobald es um
Werte, und nicht mehr um dröge Handelsrichtlinien gehe. Wie der Economist einigermaßen befriedigt
feststellt, hat sich das Diktum
"Sex sells" überlebt. Begeistert
stellt der Economist zwei Exemplare eines neuen Genres vor: die
grafischen Romane von
Art Spiegelman ("In the Shadow of No Towers") und
Marjane Satrapi ("Persepolis 2"). Nostalgisch
verabschiedet sich der Economist vom lange gejagten und nun erlegten indischen Robin Hood, dem
Banditen Veerappan.
Ein ganzes
Dossier widmet der Economist der hoffentlich bevorstehenden
Revolution im IT-Bereich - weg von kostspieliger und benutzerfeindlicher Komplexität, hin zu
mehr Menschenfreundlichkeit. Und schließlich lesen wir,
wie die
Musikindustrie sich das
Internet nutzbar machen könnte,
welche Art Verwandter der jüngst entdeckte
homo floresiensis ist, und
dass auch die
Sahara ihre
Westbank hat.
Outlook India, 08.11.2004

William Dalrymple hat ein "umfangreiches, ungewöhnliches, schwieriges und ambitioniertes Buch gelesen, eine Mischung aus Memoiren, Reisebeschreibung, philosophischer Studie und spiritueller Suche" -
Pankaj Mishras "
An End to Suffering: The Buddha in the World". Mishra will,
schreibt Dalrymple, "nicht nur eine
Einführung in den Buddhismus geben und die Geschichte seiner eigenen Suche nach Bedeutung erzählen, sondern zeigen, warum Buddhas Philosophie, die in einer Phase drastischer Veränderungen und
sozialen Aufruhrs entstand, auch in unserer schwierigen Gegenwart relevant ist, wie sie Antworten auf Fragen persönlicher Identität, Entfremdung und vor allem Leiden liefern kann." Wer, wenn nicht
Mishra, der kluge Essayist, renommierte politische Kommentator und ausgezeichnete Prosaist, sollte das schaffen, fragt Dalrymple und ist traurig, vermelden zu müssen, dass es dennoch nicht gelungen ist - trotz einer thematischen Breite, die von
Hobbes bis bin Laden reicht und alles von den Veden bis zu Borges einschließt. Möglicherweise gerade deshalb: zu viele Namen, zu wenig Ordnung.
Ansonsten ist es eine Ausgabe der leichten Lektüre: Smita Guptas
Titelgeschichte ist
erstklassischer Tratsch, der nach einem Schlüsselroman über die kulturelle und politische Elite Indiens schreit. Denn seit 1987 sind der mächtigste politische Clan - die
Gandhis - und die Familie von
Amitabh Bachchan, dem größten Filmstar des Subkontinents,
verfeindet, nachdem sie vorher eine bis in die vierziger Jahre zurückreichende Freundschaft verband. Das wissen die Inder natürlich längst, doch was genau die Gründe waren, darüber wurde immer nur gemunkelt. Kürzlich ist die
Fehde erneut aufgeflammt - Grund genug für
Outlook, die höchst komplizierte Geschichte der Feindschaft noch einmal aufzurollen.
Weitere Artikel: In den vergangenen Monaten gab es einige Ereignisse, die unter
indischen Filmschaffenden eine Debatte pro und contra
Zensur ausgelöst hat. Die meisten,
berichtet Sanghamitra Chakraborty, sind dagegen, aber so einfach ist es nicht: Es geht nicht allein um
Redefreiheit vs.
politische Zensur, sondern auch um
hate speech und
Gewalt. Sugata Srinivasaraju
schreibt über den Tod des Banditen
Koose Munisamy Veerappan, der auf vier Jahrzehnte krimineller Karriere zurückblicken konnte, als er vor zwei Wochen erschossen wurde. Und Hari Menon
hat interessante Neuigkeiten für
Himalaya-Fans: Der Fall des geheimnisvollen
Skelette von Roopkund, einem See in 5054 Meter Höhe, ist aufgeklärt - ein Hagelsturm hat den massenhaften Tod verursacht, und zwar im 9. Jahrhundert.
Times Literary Supplement, 29.10.2004

Alexander Murray
feiert im Aufmacher
Joseph Leo Koerners kunsthistorisches Buch
"The Reformation of the Image" über
"Luthers Medienmogul" Lucas Cranach den Älteren. Endlich, jubelt Murray, räumt jemand mit dem seit Erasmus verbreiteten Irrglauben auf, die Reformation sei eine Tragödie für die Kunst gewesen. "Niemand behauptet,
Wittenberg sei ein Florenz gewesen oder hätte es sein können. Doch in gewissem Sinne hatte Wittenberg sogar mehr Kunst als Florenz... Das lutherische Deutschland produzierte
Gemälde zu Tausenden, Drucke sogar zu Zehntausenden und hinterließ einen ganz speziellen Korpus, der für Betrachter, die mit seiner Ideologie nicht vertraut sind, irritierend sein kann, der aber heute
nach Interpretation schreit."
"Mit
Daniel Libeskind hat auch die neue Gegen-Reformation ihren
Bernini gefunden",
konstatiert Keith Miller, der einige Neuerscheinungen über den "ground-zero"-Entwurf des Stararchitekten nutzt, um mit dessen theatralisch-pathetischer Geste ins Gericht zu gehen: "Wie Amerika gerade seine Gründungsprinzipien der Aufklärung für einen
emotionalen Absolutismus und religiösen Eifer aufgibt, so betäuben auch Libeskinds Bauten anstatt zu erklären,
provozieren Emotionen anstatt Reflektionen hervorrufen."
Weiteres: Matthew Cobb
stellt ein ausgesprochen interessantes Buch über die Lernfähigkeit von
Primaten vor:
"Original Intelligence" von David und Ann Premack, beide Pioniere auf diesem Gebiet. Besprochen werden außerdem Edward McPhersons informative, vergnügliche und in ihrem Enthusiasmus ansteckende
Buster-Keaton-Biografie sowie Sue Townsends
neues Buch "Adrian Mole and the Weapons of Mass Destruction".
Espresso, 04.11.2004

Umberto Eco
rühmt die
anastatische Reproduktion (
mehr), mit der seltene alte Manuskripte und Handschriften auch Normalmenschen zugänglich gemacht werden, die sich keine Bücher "zum Preis eines
Jaguars" leisten können. Einen "Schlag in die Magengrube" gibt es zur aktuellen Printausgabe in Gestalt von
Michael Moores "Fahrenheit 451" umsonst mit dazu, informiert Lorenzo Soria und
verrät, dass sich Moores nächster Streich
"Sick" mit dem amerikanischen Gesundheitssystem befassen wird. Cesare Balbo
kündigt die bitterböse Satire
Team America - World Police an, deshalb vielversprechend, weil vom South-Park-Team produziert. Und Monica Maggi wird durch die Mailänder Erotikmesse
angeregt, die respektabele Größe der
einschlägigen Filmindustrie in Italien zu beschreiben.
Das exklusive Tagebuch der berühmten
italienischen Exgeiseln im Irak, Simona Pari und Simona Torretta, ist eigentlich nur für Abonnenten zugänglich, mit einem kleinen Trick aber für alle zu lesen. Auf der
Artikelseite einfach die Druckversion anklicken.
New York Times, 31.10.2004
Für das
New York Times Magazine besucht Charles McGrath
Tom Wolfe in dessen immer noch angemieteten Haus in Southampton und
verarbeitet seine Eindrücke des wild an "I Am Charlotte Simmons" (
erstes Kapitel) arbeitenden
Schriftstellers in einem ebenso schnell fließenden Bewusstseinsstrom. Beeindruckend findet er zunächst einmal Wolfes Sammlung von mechanischen Schreibmaschinen. "Da gibt es die
1966 Underwood, das Arbeitspferd der Flotte, auch wenn man langsam ihr Alter sieht, und wo verdammt soll er eine andere herbekommen?" (
bei Ebay!) "Dann gibt es die
Adler, eine deutsche Maschine, und obwohl wir uns von Stereotypen jedweder Art fernhalten wollen, hat diese Maschine nun mal, Vorurteile hin oder her, einige nationale Eigenschaften. Sie ist ein wenig steif, ein
bisschen teutonisch, aber sehr effizient. Jawohl! Die elektrische Smith Corona wollen wir gar nicht erwähnen, sie geht einem auf die Nerven, wie sie da sitzt und summt, als würde sie sagen:
'Also, großer Junge, auf geht's!'"
Im Aufmacher
fragt sich Russell Shorto, ob die
Religion nach der Sexualität das nächste große Diskussionsthema
am Arbeitsplatz wird. In den USA werden Glaube und Geschäft zunehmend verbunden, etwa beim
Beten für einen guten Kredit. Deborah Solomon
fragt die National Book Award
Finalistin Christine Schutt, ob 100 verkaufte Ausgaben auch für eine Qualitätsautorin nicht doch zu wenig sind. Und Mary Beth Pfeiffer
erzählt, warum eine Frau mit psychischen Problemen im
Bestrafungstrakt der Bedford Hills Correctional Facility Selbstmord begangen hat.
Die
New York Times Book Review: Fragt man Anthony Quinn, hat
Alan Hollinghurst den
Booker Prize vollauf verdient.
"The Line of Beauty" preist er als "herausragendes" Stück Literatur mit einem großartigen Aufgebot an Charakteren, in dem zum ersten Mal auch Frauen prominent vertreten sind. "Außerordentlich
tollkühn ist Hollinghursts Vorstellung der 'Lady', auch bekannt unter dem Namen
Margaret Thatcher, die über das ganze Buch hinweg präsent ist, aber, wie Kurtz in 'Das Herz der Finsternis', bis zum Schluss unsichtbar bleibt. Als sie auf einer Party bei Fedden auftaucht, wird sie von ihren Höflingen belästigt bis Nick, durch
Kokain wagemutig geworden, seinen Augenblick gekommen sieht."
John Updikes (mehr
hier und
hier) 21. Roman "Villages"
erinnert Walter Kirn mit seinen
expliziten Sexszenen an Updikes erste, erstaunlich sichere Schritte auf der Weltbühne der Literatur. Mit langen Beschreibungen des Beischlafs kehre Updike, der sich damals "den Ruf als Amerikas möglicherweise redegewandtester und
gynäkologisch gründlichster Schmutzfink" erwarb, wieder zu seinen Wurzeln zurück, wenn auch in einer weicheren, reflektierteren Tonlage: "Beim frühen und mittleren Updike hatte jedes menschliche Genital seine
eigene Körperlichkeit, oftmals mit klinischer Präzision und lebendiger Individualität beschrieben."
Hier das erste Kapitel.
Weitere Besprechungen:
Nancy Reagan war weniger machiavellistisch als gedacht, aber auch einflussreicher als vermutet, hat Walter Isaacson aus
Bob Colacellos "Ronnie and Nancy"
erfahren, einer "respektvollen, aber nicht schleimigen" Doppelbiografie der beiden (
erstes Kapitel). Bei der Gelegenheit bespricht Isaacson auch gleich einen Band mit gesammelten Reden und Manuskripten Ronald Reagans (
erstes Kapitel).
John James Audubons Vogelzeichnungen (
mehr) sind so menschlich,
staunt Jonathan Rosen - "sein weißer Pelikan schaut aus, als würde er vor dem Losfliegen
seine Taschenuhr konsultieren" -, und Richard Rhodes habe diesen Aspekt in seiner Biografie des Künstlers (
erstes Kapitel) sehr gut verstanden. In einem kleinen Rezensionsessay
lernt Eric Weissbard aus drei neuen Bänden, dass der
moderne Pop auf sehr vielen verschiedenen Beinen steht.
Point, 01.11.2004

In seinem jüngsten Buch "Le discours de la haine" (Plon) führt der Philosoph
Andre Glucksmann (
mehr) aus, dass "zerstörerische Kräfte" für die Zukunft der Menschheit noch nie so bedrohlich waren wie heutzutage. In einem Gespräch mit dem Philosophen und Journalisten
Roger-Pol Droit erläutert er seine These, wonach die
USA "eines der
Hauptziele des Hasses unserer Zeit" geworden seien: "Der Antiamerikanismus ist zur
Ideologie geworden, der einzigen, die weltumspannend vorherrscht. In meiner verrückten Jungendzeit waren wir gegen den Vietnamkrieg, aber die Filme, die Lyrik, die Musik und die Literatur aus Übersee haben wir rückhaltlos bewundert. Über die derzeit gängige Vorstellung von 'zwei Weltanschauungen', also dass die
europäische Kultur aus einem anderen Holz und der amerikanischen
überlegen sei, hätten wir gelacht. (...) Der Hass auf Amerika ist ein
Selbsthass, blind und selbstmörderisch. Er ist eine antiwestliche, vom Westen selbst erzeugte Ideologie wie zuvor andere. Der nihilistische Geist der Zerstörung und Selbstzerstörung ist im 19. und 20. Jahrhundert oft über Europa hinweggefegt."
Bernard-Henri Levy hat eigentlich nur ein Buch
gelesen, nämlich
"Frere Tariq", die gründliche Recherche von Caroline Fourest über den vermeintlich gemäßigten, in Genf residierenden
Islamisten Tariq Ramadan (vgl. auch den in der letzten
Magazinrundschau verlinkten Artikel in
Al-Ahram). Aus dem Referat der in diesem Buch vorgebrachten Fakten macht Levy allerdings eine
flammende Anklage gegen Ramadan, dem offenbar keine Regung des islamistischen Terrors fremd ist: Das reicht von Verbindungen zur
Al-Qaida über Zustimmung zur Rushdie-Fatwa bis hin zur Unterstützung von Hamas-Selbstmordanschlägen. Levys Attacke mündet in
Vorwürfe an die Linke, die das Bündnis mit dem Islamisten Ramadan suche: "Das Bild vervollständigt sich, wenn man sieht, wie dieser Mensch Bündnisse mit einem Teil der extremen europäischen Linken sucht - und zwar auf der Grundlage des
Antizionismus und Antiamerikanismus. Es vervollständigt sich dadurch, dass Organisationen wie die Liga der Menschenrechte oder das Europäische Sozialforum in die Falle getappt sind und Ramadans Plädoyer für eine Anpassung des Laizismus an den Islam mit einem
authentischen Laizismus verwechseln."
Al Ahram Weekly, 28.10.2004

Die spanische Soziologin
Gema Martin Munoz ist eine "vehemente Kritikerin der falschen Darstellung des Islam in der westlichen Welt" - doch es geht, erklärt sie
im Gespräch mit Omayma Abdel-Latif, nicht um kulturelle Richtigstellungen, sondern um die Möglichkeit
politischer Einflussnahme. Die Medien, so Munoz, betonen das Besondere und verschweigen das Gemeinsame, sie fokussieren auf Kultur und Religion und ignorieren Politik und Ökonomie - sie handeln, anders gesagt, mit Differenz und zeichnen ein Standbild
unüberwindbarer Distanz, anstatt nach Anknüpfungspunkten zu suchen. Distanz schafft Phantasien und Phobien und lässt nur den Weg des bewaffneten Rückzugs frei. Dem, argumentiert sie, wäre entgegenzuwirken, wenn die obsessive Beschäftigung mit Kultur zugunsten einer rationalen Hinwendung zur
politischen Analyse der arabischen Welt aufgegeben würde.
In einem anderen Artikel geht es nicht um Wahrnehmungsfehler auf europäischer, sondern um
Repräsentationsfehler auf arabischer Seite. Denn Stereotypen "arabischer Kultur",
so Nehad Selaiha, kommt man nicht bei, wenn man ihnen "arabische Kultur" en bloc entgegenstellt, egal in welchem Gewand - zum Glück hat Selaiha, nachdem er bei der Frankfurter Buchmesse in die Sackgasse des uniformen Gegendiskurses geraten war, beim Festival "Theaterlandschaften Seidenstraße" Mülheim/Ruhr erlebt, wie
kultureller Dialog tatsächlich funktioniert.
Und schließlich: noch ein Zünglein an der einen Waage - Khaled Dawoud
berichtet von einem
Umschwenken der arabischen Amerikaner, die eigentlich traditionell republikanisch wählen und 2000 achtzig Prozent ihrer Stimmen für Bush abgaben; dieses Mal schlagen sie sich wohl auf die andere Seite.
New Yorker, 08.11.2004

In einem Essay
denkt Malcolm Gladwell über Formen der
Verarbeitung von Unglück oder schrecklicher Erfahrungen nach. Unter Einbeziehung neuerer psychologischer Studien vergleicht er in einem literaturwissenschaftlichen Exkurs
zwei Romane, deren Protagonisten denkbar unterschiedliche mit ihren Problemen umgehen:
Sloan Wilsons Roman "The Man in the Gray Flannel Suit" von 1955 über das Leben der amerikanischen
Mittelklasse in den Vorstädten ("verblüffend aktuell") und
Tim O'Briens Vietnam-Roman "In the Lake of the Woods" von 1994. Gladwells Fazit: Der Unterschied zwischen den Romanen liege darin, dass wir heute nicht begriffen, "dass die Wirklichkeit den Befürchtungen nie entspricht". Wilsons Buch "stammt aus einer Zeit und einer Kultur, die das Vertrauen und die
Klugheit besaß, diese Wahrheit zu verstehen". Den Schlusssatz von Wilsons Held - "Ich liebe dich mehr als ich sagen kann" - würde heute wohl niemand mehr schreiben, "aber nur deshalb, weil wir für die Tatsache blind geworden sind, dass die Vergangenheit früher oder später
verblasst". Vierzig Jahre später, in O'Briens Roman,
zerbricht der Held an seinem Kriegstrauma.
Weitere Artikel: David Remnick
schreibt über einen Besuch bei
Amos Oz (
mehr) in Israel. Meghan O'Rourke
porträtiert den bekanntesten Jugendbuchautor des USA,
Edward Stratemeyer (1862-1930,
mehr), der so populäre Bücherserien wie die "Hardy Boys" und "Nancy Drew" begründete. In einer Kolumne
beschreibt Ian Frazier mehrere Fälle heikler Urteile bei
Konflikten mit Kindern ("Das Gericht entschied, dass es ganz egal sei, was für ein Tier Dumbo ist, und dass
jetzt geschlafen wird"). Zu
lesen ist außerdem die
Erzählung "Breakup Stories" von
Jonathan Franzen (
mehr).
Buchbesprechungen: Louis Menand
rezensiert eine Studie über die nationale Bedeutung von
John F. Kennedys Rede von 1961 anlässlich seiner Amtseinführung ("
Ask Not: The Inauguration of John F. Kennedy and the Speech That Changed America", Holt). Peter Schjeldahl
verreißt eine "fette" Biografie über den englischen Kunsthändler
Joseph Duveen vor (1869-1939), der Anfang des letzten Jahrhunderts "die amerikanischen
Millionäre in Kunstliebhaber verwandelte" (Meryle Secrest: "
Duveen: A Life in Art", Knopf); dafür lobt er eine "kleine,
eher skizzenhafte Studie", die der Dramatiker
S. N. Behrmann bereits 1951 im New Yorker veröffentlicht hatte.
Alex Ross
durchstreift die New Yorker
Downtown Musikszene. John Lahr
bespricht das Ein-Personen-Stück
"9 Parts of Desire", das sich mit der Unterdrückung irakischer Frauen auseinandersetzt, und eine Inszenierung des Gerichtsdramas
"Twelve Angry Men". Joan Acocella
porträtiert den argentinischen
Tänzer Herman Cornejo ("derzeit wohl der
technisch vollkommenste Tänzer der USA"). Und David Denby
sah im Kino
"Ray", eine Verfilmung der Karriere von
Ray Charles, und das Wiedergeburtsdrama
"Birth" des britischen Regisseurs Jonathan Glazer mit
Nicole Kidman, den "inzwischen dritten Film in den vergangenen sechs Monaten, in dem sich eine
schöne Frau in einen Jungen verliebt, der sie an jemanden erinnert".
Nur in der
Printausgabe: eine Reportage über eine das FBI aufmischende Mitarbeiterin und die
Ausbildung zum Spion, die Geschichte eines Mannes, der das
Meisterwerk eines befreundeten Schriftstellers
zerstörte, sowie
Lyrik von Gerald Stern und Derek Walcott.
Elet es Irodalom, 22.10.2004

Der
Schriftsteller Peter Nadas denkt über das Geheimnis der ungarischen Fotografie nach. An
Laszlo Moholy-Nagy (mehr
hier),
Andre Kertesz (mehr
hier) oder
Eva Besnyo (mehr
hier) findet er vor allem faszinierend, "mit welcher enormen Kraft und Erfindungsgabe sie ihre
metaphysische Bestürzung in Lebensfreude, ihre Mutlosigkeit und Melancholie in
sozialkritische Lebenskraft umzuwandeln wussten." Nadas ruft einige "Bilder der Zerstörung" aus seiner eigenen Kindheit hervor. Seine allererste Erinnerung ist die Flucht aus einem Treppenhaus während der Bombardierung Budapests: "wir
fliegen gegen eine kalt aufflammende Wand und stürzen hinein." Die Aufgabe des Fotografen ist es, so Nadas, "in die dichteste Dunkelheit hineinblicken zu können. Es reicht nicht, den Unterschied zwischen hell und dunkel zu erkennen, man soll zwischen
schwarz und schwarz unterscheiden können. Wenn es Gott gibt, dann findet man ihn vielleicht in den kleinsten Mengen des Lichtes und im auf das Minimalste reduzierte Kompositionsprinzip." Nadas, selbst auch Fotograf, ist
Kurator einer
Ausstellung über die ungarische Fotografie des 20. Jahrhunderts, die bis zum 3. Januar 2005 in Den Haag zu sehen ist.
Für
Istvan Eörsi (mehr
hier)
sind Antiamerikanismus und
Antisemitismus die größten Gefahren, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Menschheit bedrohen. "Den Antisemitismus erzeugt
nicht Sharon, und den Antiamerikanismus erzeugt
nicht Bush. Die Klischees beider Strömungen kann man ja seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Israel, in den USA und in der ganzen Welt beobachten. Sharon und Bush verleihen jedoch diesen - auch ohne sie existierenden - Klischees ein geisterhaftes Dasein. Es erweckt den Anschein, als ob der
islamische Fanatismus - als Anführer der Unterdrückten der Dritten Welt sowie der in schlimmster Armut lebenden Menschen in der ganzen Welt - die Menschheit von der Hölle der US-amerikanischen und israelischen Aggression
befreien könnte. Diese 'Befreiung' würde die Welt aufgrund von meinem, auf der Aufklärung basierenden, europäischen Wertesystem
unbewohnbar machen."
London Review of Books, 04.11.2004

"Wie steht man letzten Endes für sein Leben und seinen Namen ein?" Diese Frage, die
Jacques Derrida in seinem letzten
Interview mit der Zeitung
Le Monde stellte,
gibt Judith Butler ihm nun zurück und hat in Derridas eigener Beschäftigung mit verstorbenen Freunden und Denkern erkannt, wie man um ihn trauern sollte: indem man seinen Namen nennt. Hier ein Zitat für Liebhaber: "Der Akt des Trauerns wird so zum einem
fortgesetzen Gespräch mit dem anderen, der gegangen ist, obwohl er gegangen ist, und gerade weil er gegangen ist. Wir müssen jetzt
'Jacques' sagen, um denjenigen zu nennen, den wir verloren haben, und in diesem Sinne wird 'Jacques Derrida' der Name unseres Verlusts. Und doch müssen wir damit fortfahren, seinen Namen zu sagen, nicht nur um uns sein Hinscheiden zu vergegenwärtigen, sondern weil
er derjenige ist, an den wir uns mit dem, was wir schreiben, richten; weil es für viele von uns unmöglich ist zu schreiben, ohne uns auf ihn zu berufen, ohne mit ihm und durch ihn zu denken. 'Jacques Derrida' als Name für die
Zukunft unseres Schreibens."
Weitere Artikel: Michael Wood
zeigt sich zutiefst erstaunt von
Philip Roths wilder Gegengeschichte
"The Plot against America", in der erschütterte jüdische Familien in einem
nicht ausreichend erschütterten Amerika bestehen müssen. Theo Tait
lobt V. S. Naipauls "Magic Seeds" als
schreckliches Buch, das dem Leser sogar physische Leiden bereitet, ihn aber dafür mit "schwingenden Bildern, heimtückischer Klugheit und dem
entfernten Cousin eines Sinns für Humor" entlohnt. Jacqueline Rose
vergleicht zwei sehr unterschiedliche Bücher über
Selbstmordattentäter: eine moderne Historie (Christoph Reuters "My Life Is a Weapon") und einen reichlich romantisierten Erzählband (Barbara Victors "Army of Roses"). Thomas Jones
besieht sich das gefallene
TV-Idol Robert Kilroy-Silk, der Ambitionen auf den Vorsitz der britischen
EU-Gegnerpartei Ukip hegt. Und Peter Campbell
stellt voller Verwunderung fest, dass
Bruce Nauman es mit
"Raw Materials" geschafft hat, aus der Turbinenhalle der Tate Modern einen
Ort des Lauschens zu machen.
Plus - Minus, 30.10.2004
"Es sind dreizehn Jahre vergangen seit dem Zerfall der UdSSR, und
Russland hat keinen demokratischen Staat aufgebaut, sondern ein System des
feudalen Kapitalismus. Die Gesellschaft versteht nicht, dass der Staat keine imperiale Politik führen kann, die Bürger interessieren sich nicht für die Politik, die Politik interessiert sich nicht für die Bürger". Der polnische
Russland-Kenner und Chefredakteur der
Zeitschrift "Novaja Polscha", Jerzy Pomianowski, spricht im
Interview mit dem polnischen Magazin
Rzeczpospolita über Russlands Dilemma: "Sowohl diejenigen, die den Russen nur nachsichtig mit einem Ohr zuhören, als auch diejenigen, die nach jedem Wort in Entzückung geraten, wollen nicht wahrnehmen, dass ein Großteil der Konzepte, die in Russlands Gedankenwelten herum geistern, von außen herein geschleppt wurde. Nachdem die hiesige Marxismus-Atrappe das Feld räumen musste, blieb
eine Brache zurück, die an eine
radioaktive Müllhalde erinnert".
In einem gemeinsamen
Artikel plädieren
Kai-Olaf Lang von der
"Stiftung Wissenschaft und Politik" und
Mateusz Falkowski vom "Insitut für öffentliche Angelegenheiten" für eine aktivere, von Deutschland und Polen gestaltete Politik der EU gegenüber der Ukraine. Trotz der Meinungsunterschiede, was die Position des Landes in Europa, seine Beitrittsperspektiven und die Rolle Russlands angeht, könne eine deutsch-polnische Initiative für die Ukraine für alle Seiten Gewinn bringend sein. Schließlich sei sie "das einzige Land auf
postsowjetischem Gebiet, in dem ein paar Tage vor der Präsidenschaftswahl der Sieger noch nicht fest steht".
Gazeta Wyborcza, 30.10.2004
"Die
Wahlen in der Ukraine werden nicht durch die abgegebenen Stimmen entschieden, und auch nicht - wie Stalin es einst formulierte - durch diejenigen, die
sie zählen. Entscheidend wird sein, inwieweit die Wähler bereits sind, für ihre Rechte zu kämpfen". Waclaw Radziwinowicz
berichtet in der Wochenendbeilage der polnischen
Gazeta Wyborcza von der Stimmung in der Ukraine kurz vor der wichtigen Abstimmung und sieht Anzeichen für eine
"Revolution der Kastanien" (in Anlehnung an die "Revolution der Rosen" in Georgien), falls die Wahlen manipuliert werden. Zu welchen Mitteln die Regierung des Kremlfavoriten
Wiktor Janukowitsch greift, um sich den Sieg zu sichern, illustriert Radziwinowicz am Beispiel einer Umfrage: Einen Vorsprung Janukowitschs meldete als erste die russische Stiftung 'Öffentliche Meinung', die - wie sich heraus gestellt hat - gar keine Umfragen durchgeführt hatte.
Der Oppositionsführer
Wiktor Juschtschenko spricht im
Interview über die
europäischen Ambitionen seines Landes: "Wir sind Teil Europas, unsere Kultur und Identität sind mit den europäischen Werten verbunden.
Europa ist unser Haus. Wir sind davon überzeugt, dass der europäische Einigungsprozess ohne die Ukraine nicht vollendet ist."
Wlodzimerz Kalicki
fragt, warum es Polen seit 1989 eigentlich nicht geschafft hat, das Problem möglicher
Vermögensansprüche der Vertriebenen international oder bilateral zu lösen. "Es ist schwer zu verstehen, warum in den letzten fünfzehn Jahren keine juristischen und politischen Analysen dieses Problems angestellt wurden. Die Konsequenz ist, dass die durch die Forderungen der Vertriebenen und der
Preußischen Treuhand überrumpelte rechte Opposition von heute auf morgen Rechtsexpertisen erstellen lässt, um dann blindlings, ohne die Möglichkeiten und Konsequenzen abzuwägen, einen Parlamentsbeschluss mit gewichtigen internationalen Folgen zu erlassen." Und was jetzt? "Sollen wir Berlin mit den von der Bundeswehr geschenkten
Leopard-Panzern erobern? Oder eher
vor Scham im Boden versinken?"
Culturas, 27.10.2004
Ausgerechnet jetzt, wo der Herbst begonnen hat und alle arbeiten - oder wenigstens wählen - gehen sollen, singt
Culturas, das Kulturmagazin der katalanischen Zeitung
La Vanguardia, dankenswerterweise einmal mehr das
Lob des Müßiggangs: Jordi Ibanez Fanes
klassifiziert die Energieleistung der großen Philosophen - "Stünden
Descartes und
Wittgenstein angesichts der gegenwärtigen akademischen Hyperaktivität nicht als
totale Schlafmützen da, die den Mund nicht aufkriegen, geschweige denn jemals all das publiziert bekämen, was man heutzutage zu publizieren hat?" Gloria Soler
untersucht die Geschichte der
Sommerfrische am Sonderfall des (katalanischen) Großbürgertums, insbesondere dessen "Kultur des Zweitwohnsitzes" in ländlicher Abgeschiedenheit, die durch zunehmende Verstädterung vor dem Verschwinden steht. Und Enric Soria
kommt mit der Bibel zu dem Ergebnis: "Wir hatten die
paradiesische Muße nicht verdient."
Passend hierzu eine ausführliche Rezension von "Memorias de mis putas tristes", dem neuen Roman von
Gabriel Garcia Marquez, in dem ein Neunzigjähriger seine Mußestunden mit der Betrachtung einer
schlafenden Schönen verbringt. Offensichtlich sehr zufrieden mit der Lektüre
lobt J. A. Masoliver Rodenas insbesondere die Melancholie,
Delikatesse und Abgeklärtheit von Autor und Erzähler. Voll des Lobes über die Sprache, Feinfühligkeit und
Erzählkunst von Altmeister Garcia Marquez zeigt sich auch der
Schriftsteller Marcelo Birmajer in seiner
Rezension für das argentinische Magazin
Radar - Birmajer rät, das kunstvolle kleine Werk keinesfalls in einer (Liebes)Nacht durchzufetzen, sondern häppchenweise zu genießen -, und selbst die "argentinische F.A.Z.", die strenge
La Nacion aus Buenos Aires,
rühmt "die lächelnde und verspielte Melancholie" des Buches. Die hymnische Besprechung aus
El Pais ist dagegen leider nicht im Netz nachzulesen.