Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
30.11.2004. Im Merkur besteht Hubert Markl auf seinen freien Willen. Im Nouvel Obs schießen Toni Morrison und Wole Soyinka alle Fundamentalisten auf den Mond. Im ägyptischen Al-Ahram rühmt der Musiksammler Mustafa Abul-Oyun die Vorzüge von Religion, Sex und Narkotika. In Outlook India versöhnt Bollywood Indien mit Pakistan. Der New Yorker macht Vorschläge für die Schaffung ekstatischer Normalität im Irak. Reportajes wundert sich, dass China mehr für Lateinamerika tun will als die USA. Die New York Times Book Review verreißt Tom Wolfe und V.S. Naipaul.

Merkur (Deutschland), 01.12.2004

Der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, erklärt in einem großangelegten Essay, was es mit Geist, Gehirn und Bewusstsein auf sich hat, was den Menschen vom Affen unterscheidet (Er kann lügen!) und welche Rolle die Spieltheorie in der Evolution spielt ("Ob ich angreifen oder fliehen oder vielleicht auch nur drohen oder bluffen soll, hängt außer von meinem Handlungspotenzial auch von dem Gegenhandlungspotenzial des Partners ab.") Und schließlich bescheidet er seinen Kollegen Wolf Singer und Gerhard Roth, die gezwungen sind, den freien Willen zu bestreiten: "Das wäre doch ein Scheißspiel, bei dem man selber keinen Zug machen dürfte."

Burkhard Müller besingt die juwelenartige Schönheit der Käfer, insbesondere des Carabus, wobei er auch Leben und Leistung des Biologen John Burdon Sanderson Haldane streift. Von dem berichtet Müller ungerührt: "Er führt, gemäß seiner Überzeugung, dass in jeder schwierigen Frage eine Unze Algebra mehr wert sei als eine Tonne Wortschwall, in die Biologie die Statistik ein. Falls das Universum heute zusammenbräche, rechnet er aus, so läge die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein neues bildet, bei 10 hoch 10 hoch 100."

Weiteres: Stefan Willer erinnert in der Sache Friedrich Christian Flick daran, dass "eine Kunstsammlung nicht nur eine Kollektion von Artefakten" ist, "sondern auch eine Akkumulation von Kapital - ein Zusammenhang, der konsequent beiseite geschoben wird, wenn Flick, der Ausstellungskurator Eugen Blume oder der Direktor der Berliner Staatlichen Museen Peter-Klaus Schuster als letztlich alleinentscheidend die künstlerische Qualität der Sammlung oder ihren 'unbezahlbaren geistigen Mehrwert' herausstreichen". John Bender schildert, wie aus den Romanfiguren Robinson Crusoe, Frankenstein und Dracula moderne Mythen wurden. Und Annegret Mahler-Bungers sieht sich Roman Polanskis Filme genauer an.
Archiv: Merkur

Nouvel Observateur (Frankreich), 25.11.2004

In einem Gespräch unterhalten sich die Literaturnobelpreisträger Toni Morrison (mehr) und Wole Soyinka (mehr) über Literatur, die beunruhigende Wiederwahl von Bush und das Problem des Fundamentalismus. Letzteres sei unleugbar, meint Soyinka, "ob es sich dabei um religiösen oder politischen Fundamentalismus handelt. Ich wollte, man würde die Fundamentalisten jeglicher Couleur mit einer Rakete auf einen unbewohnten, möglichst weit entfernten Planeten schießen, wo sie dann ihre monolithische Gesellschaftsvision verwirklichen können. Alle gemeinsam. Man wäre über die geringe Anzahl der Freiwilligen überrascht. Denn es handelt sich um nichts weiter als eine Randgruppe von Fanatikern." Toni Morrison wundert sich dagegen über die ausgesprochen "phantasielose und wörtlich verstandene Weltsicht" von Fundamentalisten, insbesondere über die christliche "Besessenheit von der Apokalypse". "Ich habe eine Bush-Wählerin, eine wiedergeborene Christin, sprechen hören, die sich nicht nur darüber freute, dass Gott nun im Weißen Haus wohnt, sondern darauf hofft, dass sich die Apokalypse noch zu Lebzeiten ihrer Kinder ereignet. Ihre Vorstellung davon sieht einer Atombombenexplosion zum Verwechseln ähnlich: der Himmel reißt auf und so weiter. Alle Fundamentalisten sind von einem Todestrieb beherrscht, den sie heilig halten, um ihre Angst zu vergessen."

Al Ahram Weekly (Ägypten), 25.11.2004

"Hüter der Stimme, die einst Ägypten war": Gamal Nkrumah hat Mustafa Abul-Oyun besucht, einen Kairoer Gynäkologen, der nebenbei die größte Sammlung ägyptischer Musik aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zusammengetragen hat - tausende Grammophonschallplatten, jede von ihnen eine Reise in die Vergangenheit des Landes. Die Stimmen und Texte der Sänger und Sängerinnen, erfahren wir, erzählen viel mehr als Liebesgeschichten, denn viele der Sänger waren auch Rezitatoren des Koran. Und dann war da die anregende Qualität der Musik: "'Religion, Sex und Narkotika', sagt der Doktor, sticht dabei mit melodramatischem Gestus seinen Zeigefinger in die Luft, als wollte er jedes einzelne Wort durchbohren, und fährt mit erregter Stimme fort: 'Das sind die einzigen drei bekannten Stimulantia, die nachweislich Ekstase produzieren.' Dann hält er inne, um Luft zu holen. 'Und Musik ist oft mit jedem von ihnen symbiotisch verbunden.'"

Weitere Artikel: Dina Ezzat berichtet von einem Ereignis, dass bei den internationalen Nachrichtenagenturen keine Beachtung fand: die Internationale Konferenz "Women Defending Peace", die in der vergangenen Woche in Genf stattfand. Gastgeberinnen waren Suzanne Mubarak, Gründerin und Vorsitzende des Women's International Peace Movement, und die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey. Der Chefredakteur des jährlichen Arab Strategic Report, Hassan Abu Taleb, analysiert ausführlich die Notwendigkeit und Aussichten gesellschaftlicher Reformen in der arabischen Welt: Warum die Beteiligung der internationalen Gemeinschaft unerlässlich ist, aber dennoch ein Problem darstellt; warum regressive religiöse und kulturelle Diskurse aufgebrochen werden müssen, doch nicht, ohne zuvor den Hebel an den konkreten politischen Institutionen anzusetzen. Und der amerikanische Regisseur und Autor Jon Jost, dessen neuester Film "Homecoming" in Venedig Premiere hatte, begründet seine Entscheidung, nach der Wiederwahl von George W. Bush nicht mehr in seiner Heimat zu leben.

Und ein letzter Nachruf auf Arafat: Hassan Khader (mehr) erinnert sich an einen Frühlingstag im Jahr 2002, als er mit einer internationalen Gruppe Schriftsteller, darunter die Nobelpreisträger Jose Saramago und Wole Soyinka, zu Besuch beim Präsidenten in dessen Hauptquartier in Ramallah war. Arafat, rekapituliert Khader, plauderte über Literatur, erzählte Geschichten, löste Bewunderung bei seinen Gästen aus. Und er offenbarte einmal mehr sein Vermögen, Menschen für sich einzunehmen und sie so zu kontrollieren - Basis eines Persönlichkeitskults, der Arafats politisches Vermögen zugleich etablierte und beschränkte.
Archiv: Al Ahram Weekly

Outlook India (Indien), 06.12.2004

"Nicht ist besser, als gemeinsam zu weinen - es hilft, die Dämonen zu vertreiben und die Seele zu reinigen. Ist es das, was Bollywood im Sinn hat?" Die Rede ist von Yash Chopras Film "Veer-Zaara", in dem die Liebe und die Tragik ganz selbstverständlich indisch-pakistanische Grenzen überschreitet. Allzu lange, schreibt Namrata Joshi, reflektierte das Kino die Feindschaft und die Hassliebe Indiens zu Pakistan. Jetzt ist der Inder bereit, für sein pakistanisches Mädchen zu sterben. Kein großer Film, meint Joshi, eher Dutzendware, aber gerade deshalb komme die simple Botschaft an: Inder und Pakistanis sind Menschen, und Menschen sind gut. Wer weiß: Vielleicht kommt bald der erste Bollywood-Hit mit einem pakistanischen Helden und einem indischen Mädchen?

Inder Malhotra bespricht eine kompakte, gekürzte, aber immer noch gehaltvolle Ausgabe des monumentalen Briefwechsels zwischen Jawaharlal Nehru und seiner Tochter Indira Gandhi, herausgegeben von Sonia Gandhi. Viel ließe sich zu diesen Briefen sagen - über die menschlichen Dynamiken zwischen Vater und Tochter, über den Humor der Briefe, über die politischen Ereignisse, die in den Briefen gespiegelt werden, über die parallelen Lektüren der beiden. Doch Malhotra hat wenig Platz und beschränkt sich deshalb auf ein paar Beispiele, die belegen, wie energisch Gandhi zuweilen schon als junge Frau ihrem Vater widersprach. Und zieht das Fazit: "Dieses Buch hat die Qualität eines Jahrgangsweines. Es verlangt danach, langsam genossen, nicht hinuntergekippt zu werden."

Und Saba Naqvi Bhaumik sieht die Oppositionsparteil BJP trotzig nach jedem hindu-nationalistischen Strohhalm greifen - im Moment ist das die Sache der Verhaftung des mordverdächtigen "Hindu-Papstes" Jayendra Saraswati.
Archiv: Outlook India

New Yorker (USA), 06.12.2004

In einer Glosse macht George Saunders einen Vorschlag zur Lösung sämtlicher Probleme im Irak: Alle 300 Millionen Amerikaner sollten zwecks Aufbauhilfe unbewaffnet und geschlossen in den Irak gehen; bei rund 25 Millionen Irakern wäre dann jeder von ihnen für "einen zwölftel Iraker" zuständig. "Die beste medizinische Versorgung und neuesten Behandlungsmethoden? Haben wir mitgebracht. Probleme mit der Wasserversorgung? Bitte sehr. Kein Strom? Dass ich nicht lache. Amerikanische Elektriker sind die besten Elektriker der Welt." Und wenn der Irak dann schließlich friedlich und in einen Zustand "ekstatischer Normalität" versetzt worden sei, "dann könnten wir alle in den Sudan gehen und dort weitermachen."

Weiteres: In einem ausführlichen Porträt stellt Laura Miller den irischen Pionier der Fantasy-Literatur Lord Dunsany (mehr hier und hier) vor. Atul Gawande lotet die Untiefen des amerikanischen Gesundheitswesens aus und beschreibt, was passiert, wenn Patienten "herausbekommen, wie gut ihre Ärzte wirklich sind". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Foreigners" von Andrew O?Hagan.

Besprechungen: Peter Schjeldahl wirft einen Blick auf die neue Präsentation der MoMA-Bestände ("leicht anzuschauen"). John Lahr sah die neue Show von Dame Edna (mehr) "Back with a Vengeance!? und eine Inszenierung von Woody Allens Stück "A Second Hand Memory". Adam Gopnik rezensiert Michael Dregnis Biografie über Django Reinhard ("Django: The Life and Music of a Gypsy Legend", Oxford). Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Biografie über den russischen Choreografen George Balanchine.

Sasha Frere-Jones bespricht das neue Album "Encore" von Eminem. Es ist das schlechteste von allen, findet sie, nur einen Song nimmt sie aus: "Mosh". Und Anthony Lane besichtigte Oliver Stones neuen Monumentalfilm über "Alexander" - den Großen -, ein Projekt, das Stone "unerklärlicherweise" schon seit über 30 Jahren gereizt habe. "In der Zwischenzeit war Stone gezwungen, seine Zeit mit läppischen kleinen Kammerspielen wie 'Natural Born Killers', 'Born on the Fourth of July' und 'Platoon' zu füllen. Aber jetzt endlich ist die Stunde gekommen - zwei Stunden und fünfzig Minuten, um genau zu sein."

Nur in der Printausgabe: die Ergebnisse eines Forschungsberichts über die tatsächlichen Entscheidungsgründe für einen Präsidentschaftskandidaten, ein Porträt von Ole Anthony, dem pastoralen Vorsteher der Trinity Foundation, der die geldgeilen "Multimediapfaffen" geißelt, sowie Lyrik von Günter Grass, Mark Strand und Louise Glück.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 02.12.2004

Womit genau haben wir es zu tun, wenn Laurence Sternes Tristram Shandy unschuldig fragt, 'Sollen wir ewig neue Bücher so anfertigen wie Apotheker neue Mixturen zubereiten, indem wir nur von einem Gefäß ins andere schütten?', und dabei fast wörtlich Robert Burtons "Anatomie der Melancholie" (mehr hier und hier) zitiert, genauer genommen eine Passage, in der Burton literarische Nachahmer aufs Heftigste attackiert? Mark Ford versucht zu ergründen, wo genau beim Zitat die Liebe endet, und wo der Diebstahl anfängt, und erinnert sich dabei an eine Anekdote um Bob Dylan, dessen Album " 'Love and Theft' " (in Anführungszeichen wohlgemerkt) nach dem Titel einer Musikstudie von Eric Lott benannt ist: "Bei einer Pressekonferenz 1965 in San Francisco war Dylan überrascht, einmal nicht gefragt zu werden, ob er noch immer ein Folksänger oder ein Protestsänger oder die Stimme seiner Generation sei, sondern ob er glaube eines Tages als Dieb gehängt zu werden. Die Frage kam von Allen Ginsberg, und Dylan - dessen liebende Diebstähle aus einem ganzen Aufgebot von musikalischen und literarischen Quellen bis heute Heere von Dylan-Forschern beschäftigen - konnte nur kichernd antworten: 'Das solltest du doch nicht sagen.'"

Weitere Artikel: Für Neal Ascherson ist und bleibt Isaac Deutschers 1954 erstmals erschienene mehrbändige Trotzki-Biografie (mehr) ein Meisterwerk. James Davidson nimmt Michael Woods Studie über Orakel ("The Road to Delphi: The Life and Afterlife of Oracles") zum Anlass, uns über Poeten, Propheten und Seher aufzuklären. In den Short Cuts begeistert sich John Sturrock für das Fußball-Lexikon von Leigh und Woodhouse ("Football Lexicon"), das einen erfrischend trockenen "Klischeebummel" bereithält. Und schließlich muss Peter Campbell bis ins 19. Jahrhundert und zu Daumier zurückgehen, um auf so starke Opferbilder zu stoßen wie bei Paula Rego, der die Tate Britain zur Zeit eine Ausstellung widmet.

Espresso (Italien), 02.12.2004

Peter Gomez verrät mehr über die riesige Gruft, die Silvio Berlusconi auf seinem Anwesen bei Arcore einrichten hat lassen. Auf 180 Quadratmeter sollen einmal nicht nur seine Familie, sondern auch Freunde und Weggefährten ruhen. Einer zumindest macht bei der gemeinsamen Paradiesfahrt nicht mit, verrät Gomez hämisch. Der Publizist Indro Montanelli soll das Angebot nach einer kurzen Pause abgelehnt und in fulminanter Manier geantwortet haben: "Domine non sum dignus".

Umberto Eco lobt Barbara Frale für ihre seriöse Studie über die Tempelritter, die endlich mit dem Mythenwald rund um den Orden aufräumt. Natürlich kann es auch nach diesem Buch sein, dass irgendwo noch Tempelritter existieren, meint Eco, "genauso wie sich jeder als Hohepriester von Isis und Osiris bezeichnen kann, und das dem ägyptischen Staat ebenso herzlich egal sein kann".

In der Titelgeschichte schildert Fabrizio Gatti das Los der illegalen Migrantenarbeiter auf Italiens Baustellen. Sabina Minardi stellt Lasn Kalle vor, der in seinem Buch "Culture Jam" Tipps für Konsum- und Werbungsverweigerer gibt. Kalle ist Gründer der Gruppe Adbusters. Monica Maggi lädt auf eine Mailänder Ausstellung lüsterner Comic-Schönheiten ein und beschäftigt sich mit einer Umfrage zum Thema Verkehr im Büro.
Archiv: Espresso

Spiegel (Deutschland), 29.11.2004

Der Spiegel stellt nichts online (außer für Abonnenten des E-Papers). Der Titel handelt von der immer noch zunehmenden Zahl von Scheidungen in Deutschland und ihrem angeblichen Hauptopfer: "Der geplünderte Mann". Alexander Osang schreibt eine lesenswerte Reportage über die Abiturklasse von Andrea Merkel.

Der Kulturaufmacher beklagt einen neuen Hang zur Leichtfertigkeit im Umgang mit der deutschen Geschichte bei Künstlern wie Norbert Bisky, der mit Vorliebe arische Knaben in "Heil Hitler"-Pose malt oder auch in Filmen wie "Napola": "Scheint ganz so, als mache sich derzeit in Deutschland ein oft irritierende Wille zur Unbefangenheit breit: eine Art Sehnsucht nach später Wiedergeburt...Die Grauen der Judenvernichtung scheinen auserzählt, aufs Publikum wirken die Täter unterhaltungstechnisch attraktiver."
Archiv: Spiegel

Reportajes (Chile), 28.11.2004

Unter der unbekümmert rassistischen Überschrift "Gelbfieber in Lateinamerika" berichtet Alvaro Vargas Llosa, der Sohn von Mario, in einem spannenden Artikel missvergnügt über die zeitgleich stattgefundenen Südamerika-Reisen des amerikanischen und des chinesischen Präsidenten: "Nur zum Vergleich: George W. Bush nutzt das Opec-Treffen in Chile zu einem winzigen Zwischenstop im kolombianischen Cartagena, bevor er die Region eiligst wieder verlässt - als sähe er die ganze Zeit besorgt auf die Uhr. Hu Jintao dagegen startet im Anschluss an das Treffen zu einer zwölftägigen Zaubervorstellung durch Brasilien, Argentinien, Chile und Cuba. Bush nutzt seinen gehetzten Kurzbesuch, um über Terrorismus zu sprechen. Hu Jintao spricht von Handel und Investitionen, 10 Milliarden Dollar in Brasilien, 20 Milliarden in Argentinien, 2 Milliarden in Chile, und erwähnt wie nebenbei, dass sein Land im Lauf der nächsten Jahre bis zu 100 Milliarden Dollar über Lateinamerika ausschütten könnte."

Persona non grata: Präsidentengattin Laura Bush, ausgebildete Bibliothekarin und passionierte Leserin, durfte bei demselben Chile-Besuch nur gegen den erbitterten Widerstand der Mehrheit des Vorstandes der Neruda-Stiftung das Haus des Dichters "La Chascona" besuchen, informiert Andres Gomez Bravo: "Sie mag ja sehr gebildet sein, aber sie ist die Ehefrau von Bush, dem Präsidenten des imperialistischsten Landes der Welt, und Neruda steht für das genaue Gegenteil: ein kommunistischer Dichter, Symbol des Fortschritts", wie eines der Vorstandsmitglieder meinte, der wie seine sämtlichen Kollegen nach zähen Verhandlungen schließlich am Tag des Besuches 'wegen dringender anderweitiger Verpflichtungen abwesend' blieb."

Mario Vargas Llosa steuert eine Neulektüre zweier spanischer Romane bei, die besser als jede historische oder soziologische Untersuchung Zeugnis von dem tiefgreifenden Wandel der spanischen Gesellschaft im Lauf der vergangenen fünfzig Jahre ablegen sollen: Carmen Laforets Klassiker "Nada" (1944) und Almudena Grandes' Skandal-Erstling "Las Edades de Lulu" (1989).

Ein langes Interview mit Marco Antonio Pinochet, einem der fünf Kinder des chilenischen Diktators, anlässlich der spektakulären Untersuchungen zu kürzlich entdeckten Geheimkonten seines Vaters bei einer US-Bank. Leider drückt sich Sohn Marco Antonio so diplomatisch aus, dass sich seinen Äußerungen kaum mehr als sein Ärger und seine Enttäuschung über die väterlichen Machenschaften entnehmen lassen. Klar wird nur, dass diese dem Ansehen des Diktatoren-Vaters in seiner Heimat stärker schaden dürften als seine Menschenrechtsverletzungen, weil letztere "ja doch, auch wenn ich sie keinesfalls verharmlosen will, etwas mit den Entscheidungen und der Verantwortlichkeit eines Regierenden, dem historischen Kontext und der Staatsräson, auch mit militärischer Logik zu tun haben. Diese Geldgeschichte dagegen ist eine rein persönliche Angelegenheit meines Vaters und deshalb viel schwerwiegender."
Archiv: Reportajes

Gazeta Wyborcza (Polen), 27.11.2004

Der russische Soziologe Jurij Lewada erklärt warum der ukrainische Wunsch nach Souveränität in Russland weder von Experten noch den Regierenden noch den einfachen Menschen verstanden wird: "Ich spreche jetzt mal nicht von den noch kleineren Staaten im Kaukasus. Unsere Menschen verstehen nicht, warum die sich so anstellen und aufmüpfig sind. Wenn wir nur einen Wink machen, sollen sie zur Ruhe kommen, und alles wird so sein, wie es sollte. Aber irgendwie wollen sie sich nicht beruhigen. Seltsam. Und jetzt will diese Ukraine auch noch irgendwas...". Man sollte aber die Weitsichtigkeit der Kreml-Strategen nicht überschätzen: "Unsere Machthaber verhalten sich wie Schachspieler, die nicht einmal einen halben Zug vorhersehen können."

Bronislaw Geremek, ehemaliger polnischer Außenminister und Vizepräsident des Europa-Parlaments, spricht im Interview mit der polnischen Tageszeitung über Populismen. "Ich glaube, wir befinden uns in einem Zustand, wo das Volk auf der politischen Bühne aufgetaucht ist und sich nicht länger ignorieren und manipulieren lässt. Die Radikalisierung der politischen Akteure entspringt der Annahme, dass der Populismus die beste Methode darstellt, sich die Unterstützung des Volkes zu sichern. Es ist auch eine Lektion aus den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, als man sich der Mobilisierung der Extremen bedient hat".
Archiv: Gazeta Wyborcza

Economist (UK), 26.11.2004

Die jüngsten Übergriffe in den Niederlanden und in Belgien auf sowohl christliche als auch muslimische Einrichtungen bestätigen laut Economist die unlängst von Francis Fukuyama geäußerten Befürchtungen, dass Europa nicht ein Krieg, sondern ein Bürgerkrieg gegen Terrorismus bevorsteht. Denn "der radikale Islam bedroht Europa von innen, und dies auf viel ernstere Weise als es für Amerika der Fall ist, wo die Bedrohung lediglich von außen kommt".

Weitere Artikel: Dass sich das linksliberale CBS-Urgestein Dan Rather nun aus dem Journalismus zurückzieht, wertet der Economist als - durchaus begrüßenswertes - Ende eines Medienzeitalters. Altes Frankreich, neues Frankreich - nach der Wahl von Nicolas Sarkozy zum Vorsitzenden der konservativen Mehrheitspartei UMP wundert sich der Economist über die ungewöhnliche Kraft, die die Franzosen mit Sarkozy verbindet: Nicht Zuneigung und Wärme (wie Jacques Chirac gegenüber), sondern schiere Faszination. Aus den USA wird gemeldet, dass sich die Justiz neuerdings auf unverschämte Art und Weise ins Schulwesen einmischt. Außerdem berichtet ein Artikel von einer neuen Methode der Authentizitätsprüfung bei Kunstwerken, die darin besteht, "jedes Kunstwerk in eine Reihe von mathematischen Funktionen zu konvertieren", und dabei so etwas wie den "Pinselstrich des Künstlers" zu festzumachen. Und schließlich hat der Economist seine "Bücher des Jahres" zusammengestellt.

Der Titel widmet sich den "neuen Königen des Kapitalismus": "private equity"-Firmen. Dazu gibt es neben dem Leitartikel ein ganzes Dossier - leider nur in der Printausgabe.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 29.11.2004

Unerwartet kurz ist die Besprechung von Tom Wolfes neuem Roman "I Am Charlotte Simmons" (Auszug). Denn Jacob Weisberg findet Wolfes Inspektion der Campuswelt einfach schlecht. "Wie alles, was Wolfe schreibt, packt 'I Am Charlotte Simmons'' einen von Anfang an und lässt jegliches Interesse an anderen Dingen versiegen, bis man fertig ist. Dennoch ist das Buch bei weitem sein schwächster Roman. Wolfe gibt zu schnell dem journalistischen Interesse nach, seine Charaktere zu erklären, statt sie einfach ihrem eigenen Leben zu überlassen." Überhaupt wundert sich Weisberg, warum Wolfe, den er für einen Journalisten hält, sich die Mühe macht, seine Reportagen in Romane umzuschreiben.

Sturz der Favoriten. Auch V.S. Naipauls neues Stück "Magic Seeds" (erstes Kapitel) kann die Book Review nicht erregen. Müde murmelt James Atlas: "Der Folgeband zu 'Half a Life' von 2001 ist eine subtile , wenn nicht schlanke Produktion, ein Roman der die Themen - Exil, Identität, die Gefährdung der Zivilisation - wieder aufnimmt, mit denen Naipaul seit mehr als fünf Jahrzehnten ringt."

Jedes neunte Buch, das in den USA verkauft wird, kommt aus dem religiösen Bereich, weiß Rachel Donadio. "Politische Bücher werden viel diskutiert, selten gelesen und schnell vergessen. Religiöse Bestseller bauen sich dagegen langsam auf, sobald es sich in den Gemeinden herumspricht." Passend dazu spricht James Wood im Aufmacher Marilynne Robinson und ihrem "ernsten wie luziden" Roman "Gilead" (Auszug) eine "spirituelle Kraft" zu, wie es sie in der zeitgenössischen Belletristik nur selten gebe.

Weitere Artikel: Thomas Frank stellt vier Studien vor, die sich mit der amerikanischen Identität beschäftigen, mal durch die Linse der Wirtschaftspolitik, mal durch die Untersuchung von Parteiklischees. Brenda Maddox lobt die Bestsellerautorin Barbara Goldsmith für ihre "exzellente" Biografie der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie. Lesely Downer freut sich, dass Donald Richie seine "Japan Journals, 1947-2004 " veröffentlicht, in denen er erzählt, wie er fast alle Künstler und Kulturschaffenden getroffen hat, die sich in den vergangenen fünfzig Jahren in Japan aufhielten, von Akira Kurosawa bis Truman Capote.

Das New York Times Magazine versucht, das Verhältnis von Kindern und Konsum zu beleuchten. In der Titelreportage besucht Jon Gertner Gepetto, eine Werbeagentur, die auf Kinder und ihre Mütter spezialisiert sind. "Gepettos Art, eine Kampagne anzugehen, basiert auf Rachel Gellers psychologischen und anthropologischen Untersuchungen an Kindern und Jugendlichen. Geller hat Gepetto etwa dabei unterstützt, die 'acht Spaßarten', die 'sechs Kindertypen' und die 'neun Prinzipien des Familien-Brandings' zu entwickeln.'' Ach ja, nicht zu vergessen die "sieben Gesichter der Mutter".

Weiteres: Ann Hulbert erklärt, was es mit der neuen Zielgruppe der "Tweens" auf sich hat. Elizabeth Weil berichtet in leicht sarkastischem Ton, wie das Design nun auch in den Kinderstuben Einzug hält. Und Francisco Goldman wünscht sich Robosapien, einen neuen und erstmals erschwinglichen Spielzeugroboter. "Sie wollen durchkrabbeln. Sie wollen draufklettern. Sie wollen reinbeißen."
Archiv: New York Times