08.02.2005. Adam Michniks Gazeta Wyborcza will nichts wissen von der Wildstein-Liste. Die New York Review of Books bezweifelt, dass der Iran seine Atompolitik ändern wird. DU besucht die Seidenstraße. In Le Point glaubt Malek Chebel an die Ankunft eines islamischen Luther. Der New Yorker sorgt sich um die Glaubwürdigkeit der Presse. Franzosen und Deutsche wollen nur die Russen glücklich machen, meint das polnische Plus-Minus. Ist Demokratie westlich? Im Nouvel Obs erinnert Amartya Sen daran, dass die japanische Verfassung 600 Jahre älter ist als die britische. Im ägpytischen Al-Ahram plaudern Nadine Gordimer und Nagib Machfus über das erste Mal.
Gazeta Wyborcza, 05.02.2005

Der heftige Streit über den Umgang mit den
Stasi-Akten hat in der letzten Woche mit der Veröffentlichung der sogenannten
"Wildstein-Liste" einen Höhepunkt erreicht.
Bronislaw Wildstein, inzwischen entlassener Redakteur der Zeitung
Rzeczpospolita, hatte eine Liste mit
Namen von 240.000 Personen ins Netz gestellt, die entweder hauptamtlich und informell
für den SB gearbeitet haben oder angeworben werden sollten. Nach einigen Berichten sollen auch die Namen von Bespitzelten auf der Liste stehen. Die
Gazeta Wyborcza warnt deshalb: "Der Prozess ist nicht mehr aufzuhalten. Er wird
keine gerechte Abrechnung bringen,
keinen Fortschritt in der historischen Bildung der jungen Generation,
keine Offenlegung der heutigen Netzwerke der Korruption. In der gegenwärtigen Atmosphäre zählen nicht Recht, Verstand, die
raison d'etat oder der Anstand - es geht um ein paar
ideologische Slogans, um Angst und Begriffswirrwarr."
Times Literary Supplement, 04.02.2005

Ein
"intellektuelles Desaster" nennt
Lesley Chamberlain in ihrem Buch "A philosophical history of Russia" die russische Philosophie der vergangenen zweihundert Jahre,
moralisches Versagen will sie ihr aber nicht vorwerfen. Rezensentin Rachel Polonsky ist damit zwar nicht gänzlich einverstanden, aber doch sehr
beeindruckt von dem Buch: "Es gibt keinen
stabilen Algorithmus für die Beziehung zwischen Ideen und Geschichte in Russland, das Chamberlain
das philosophischste Land der Welt nennt. Das Drama seiner Dialektik hat sich gewaltvoll abgespielt. Chamberlain sieht im russischen Denken weder ein Opfer der politischen Repression noch den Ursprung und Motor einer
ruinösen totalitären Ideologie, sondern eine Geschichte von Hoffnung und Glauben mit eigenen inneren Impulsen, Errungenschaften und Leidenschaften. Selbstbewusst folgt sie den Fußstapfen von
Isaiah Berlin, dessen intellektuelle Präsenz in Einleitung und Schluss sehr lebendig ist. In einer Kritik seines liberalen Pluralismus, die vielleicht bei seinen Anhängern auf Missfallen stoßen wird und Berlin selbst überrascht hätte, demaskiert sie ihn als '
russischen Anarchisten im
milden Oxford-Gewand'."
Weiteres: Nun hat auch das
TLS Stephen Greenblatts Shakespeare-Buch
"Will in the World" gelesen. Alastair Fowler
hält es auf jeden Fall für lesenswert, auch wenn er
naserümpfend anmerkt, dass man nicht sagen könne, um welche "Sorte Buch" es sich handelt: Biografie oder Fiktion, Kritik Geschichte. Peter Barker ist mit den Essays
"Body Parts" gar nicht
warm geworden, in denen sich
Hermione Lee mit den Schwierigkeiten beschäftigt, Informationen über ein Leben zu einer Biografie zusammenzufügen. Und Adam Bresnick
sieht sich von
Philip Lopates "Waterfront: A Journey Around Manhattan" kompetent durch die
Peripherie der Insel geführt.
Nouvel Observateur, 03.02.2005

Im Debattenteil
entwickelt der indische Wirtschaftswissenschaftler, Harvard-Professor und
Nobelpreisträger für Ökonomie
Amartya Sen in einem Interview sein Demokratieverständnis und erklärt, weshalb die Demokratie
keine rein westliche Erfindung sei. So lehnt er etwa die Vereinnahmung der Griechen durch den Westen ab, weil diese "versessener waren auf einen Dialog mit den Persern, Indern und Ägyptern als mit den Goten und Westgoten." Das
griechische Erbe sei mithin
eher ein östliches. "Der Gegensatz Orient-Okkzident ist darüber hinaus ebenso künstlich
wie die Gegensätze, die mit der Rasse begründet werden, vor allem wenn es um Demokratie geht. 600 Jahre vor der englischen
Magna Charta hatte sich
Japan eine Verfassung gegeben, die dem Kaiser vorschrieb, vor jeder Entscheidung Beratungen einzuholen. Und
Indien hat eine große Tradition der öffentlichen Debatte. In diesen Ländern ist alles Diskussionsthema. Trotz der Bedeutung, die die Religion hat, verfügt Indien über die
älteste atheistische Tradition und den größten Anteil atheistischer Literatur. ... Die Demokratie an einer westlichen Tradition festzumachen, ist deshalb ein
fundamentaler Irrtum."
Das
Titelthema widmet sich - wie auch viele deutsche Medien - der Diskussion um die
"Internetpiraterie". So nennen es die Musikkonzerne, die das private Herunterladen verhindern und Nutzer zunehmend
einschüchtern und kriminalisieren wollen. In seinem
Dossier denkt der Nouvel Obs über Lösungsmöglichkeiten wie neue Finanzierungsmodelle nach und veröffentlicht seinen
Appell "Gebt die Musik frei!", den bereits eine ganze Reihe französischer Musiker, DJs, Produzenten und Komponisten
unterschrieben haben.
Elet es Irodalom, 04.02.2005

Einer der bedeutendsten
Autoren der ungarischen Gegenwartsliteratur,
Sandor Tar, ist gestorben.
Laszlo Darvasi (mehr
hier) im
Nachruf: "Es lohnt sich, seine Novellentitel nebeneinander zu schreiben: kurze, schwere Titel in einem dunklen Ton der Ironie, die an den Chronisten einer anderen schrecklichen Welt, den Polen
Borowski erinnern. Tars Texte haben einen
pochenden, sehr genauen
Prosarhythmus, in dem sich Figurenstimmen, gesprochene Sätze und innere Monologe, Reflexionen des Erzählers und Beschreibungen so abwechseln, dass die Spannung allmählich steigt. Wir nähern uns innerhalb einer
immer wilder werdenden, doch nie auseinanderfallenden Struktur einem plötzlichen,
brutalen Ende. Weder als Schriftsteller noch als Privatperson kannte er Ruhe oder Versöhnung. Ich habe ihm im erfolgreichsten Moment seiner schriftstellerischen Laufbahn, auf der Frankfurter Buchmesse von 1999 getroffen ... Im Innenhof eines Pavillons stand er von sehr vielen Menschen umgeben, fremd und
nichts begreifend unter dem grauen Himmel, mit rotem Gesicht, sein Blick glitt wie der eines Vogels hin und her. Er hätte sich über den Erfolg seiner Bücher in Deutschland freuen können, und schon dachte er daran, wie das
Kartenhaus der Erleichterung kurz nach der Rückkehr aus Frankfurt wieder einstürzen würde."
Al Ahram Weekly, 03.02.2005

Treffen sich
zwei Nobelpreisträger zum ersten Mal. Sagt sie: "Das Schreiben fällt mir unheimlich schwer. Ich habe gerade einen Roman beendet, aber jedes Mal denke ich, es wird mein letzter sein. (...) Mit meinen 81 Jahren habe ich das Gefühl, genug produziert zu haben." Und er: "Ich bin 93 und schreibe immer noch. Es ist eine
Frage des Verlangens und der Motivation, die man als Schriftsteller in einer Phase hat, in einer anderen nicht - unabhängig vom Alter."
Nadine Gordimer und
Nagib Machfus hatten in der vergangenen Woche eine "von viel Sympathie geprägte Konversation",
schreibt Mohamed Salmawy, der dabei saß. Sie beschenkten sich mit Büchern und tauschten sich über ihre Anfänge als Autoren aus: "Die zwei Schriftsteller schwelgten in Erinnerungen und lachten wie zwei Jugendliche, die gerade den Prüfungsraum verlassen haben und sich gegenseitig befragen, wie es gelaufen ist."
Rania Khallaf
hat ein hochkarätig besetztes Seminar zur
arabisch-deutschen kulturellen Zusammenarbeit besucht, das im Rahmen der Kairoer Buchmesse stattfand, und ist mehr als nur ein bisschen enttäuscht: Es war viel von der
"Frankfurter Erfahrung" und ihren Impulsen die Rede, es wurden jede Menge "Komplimente ausgetauscht und die Absicht der kulturellen Interaktion bekräftigt". Das war's dann aber auch. "Was das Thema der
Zensur betrifft und die Frage, wie genau die Frankfurter Erfahrung die Kairoer Buchmesse
verändern wird - vielleicht werden diese Dinge ja in einem anderen Seminar debattiert." Auch Injy El-Kashef
findet auf der Buchmesse eher Grund zur Klage: Der vermeintliche Erfolg der Veranstaltung ist das eine - aber wie viele Besucher kaufen tatsächlich ein Buch? Wie viele sind eigentlich mehr am
Schnäpppchenmarkt interessiert, der unter dem gleichen Dach stattfindet?
Tarek Atia
hat das
größte Einkaufszentrum der Welt besucht: Dubai, Standort des einzigen Sieben-Sterne-Hotels der Welt und Gastgeber des
Dubai Shopping Festival, eines extravaganten und exzessiven Spektakels, das von nichts handelt als von sich selbst. Und währenddessen schießen ringsum neue Immobilien aus dem Boden. Dubai mag einer der eigenartigsten Orte der Welt, doch im Moment, so Atia, ist er "am
weitesten vorne".
Magyar Hirlap, 03.02.2005
Nach eingehender Analyse der Lage
Zyperns vor Ort
kommt der Publizist
Andras Sztankoczy zu dem Schluss, dass das Problem der Teilung der Insel in wenigen Jahren wohl von den
britischen Rentner gelöst wird, die sowohl die türkischen als auch die griechischen Inselbewohner in die Minderheit drängen werden. Bis dahin bleiben Absurditäten Teil des Alltags. Dazu gehört auch ein Besuch bei dem Regierungschef Nordzyperns Rauf Denktas: "Sein Zimmer ziert ein faszinierendes Foto von seinem
ins Mikrofon bellenden Hund 'Perle' und ein großes Gemälde Kemal Atatürks, des Vaters der modernen Türkei. In Nordzypern wird nicht allzu lange nachgedacht, nach wem eine Schule oder ein Stadion benannt werden soll - überall Atatürk-Abbildungen. Die bizarrste ist eine
riesige Atatürk-Silhouette auf dem Berg über der Stadt
Kirenia, die nachts beleuchtet in einer atemberaubenden Art und Weise an den Titelhelden der Zeichentrickfilmserie
"La Linea" erinnert.
In einem Beitrag vom Vor-Vortag wird das
"Jahrzehnt für die Integration der Roma", eine neue Initiative von acht Ländern Ost- und Mitteleuropas
vorgestellt: "Heute ist die Hälfte der Roma
jünger als zwanzig Jahre. Wenn sie weiterhin an der Peripherie und arm bleiben, werden sie womöglich die Kohäsion und die
Stabilität gefährden, und zwar nicht nur in jenen Ländern, wo sie leben, sondern auch in anderen Regionen Europas. Wenn sie sich dagegen aktiv und umfassend an der gesellschaftlichen Entwicklung beteiligen können, werden sie für die Zukunft der gesamten Region einen Beitrag schaffen."
DU, 01.02.2005

Die neue Ausgabe des Schweizer
du-Magazins ist der
Seidenstraße gewidmet.
Samarkand ist ein klingender Name und es bedarf nur eines "Sesam öffne dich", um den gesammelten Bilderschatz des Westens, von Schehezarade bis Kalif Storch abzurufen,
meint Andreas Nentwich. Allerdings hat dies mit der Wirklichkeit im unruhigen Herzland der Welt herzlich wenig zu tun: "Auch heute liegt Samarkand, Republik
Usbekistan, im Zentrum. Im Zentrum eines maroden Landes mit einem Präsidenten, der einen Kurs zwischen Vetternwirtschaft und Timuridennachfolge fährt und allenfalls für
Friedhofsruhe sorgt, indem er das religiöse Leben durch Staatskontrolle gegen den erstarkenden Islamismus abschottet. Den engeren Radius bilden Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan, Kirgisistan: die
armen Freigelassenen des Sowjetismus, Zwangsnationen, in denen die Nationalismen blühen und deren Namen wenig märchenlandtauglich erscheinen." Welche Fakten aber, fragt der Autor, kommen schon an gegen diesen Namen, gegen die "Metapher einer Metapher"?
Außerdem: Paul Kennedy betrachtet
Zentralasien aus
geopolitischen Augen. Olivier Roy erzählt, wie Geschichtsklitterung und Folklorismus die
nationale Identität der Staaten Zentralasiens ersetzen. Und es gibt mehrere
Bildstrecken von Daniel Schwartz, die allein das Heft schon lohnenswert machen.
New York Times, 07.02.2005
Mit Genuss hat der irische Schriftsteller
Colm Toibin Christopher Hitchens Essaysammlung "Love, Poverty and War" gelesen, die er als "interessantes und
abwechslungsreiches Schaufenster" der Arbeit des Polemikers, Reporters und Literaturkritikers
preist. Die Literatur nimmt mit der Zeit zwar einem immer größeren Stellenwert ein, trotzdem kann Hitchens nicht aus seiner
polarisierenden Haut, wie Toibin zufrieden feststellt. "Wie alle Polemiker ist Hitchens am glücklichsten, wenn er einen
Feind hat und am unglücklichsten wenn er zufrieden ist. Folgerichtig ist das schwächste Stück der Bericht über die Reise entlang der
Route 66, die er offensichtlich genoss, obwohl er
rosa Socken trug. Wenn er weder gemein noch glücklich ist, schreibt er genauso gut wie
George Orwell. Sein Zeugnis einer Hinrichtung eines Mannes mit der Giftspritze, der an einem Post-Vietnam Trauma litt, ist ein brillantes, eisiges Stück. 'Die
medizinische Schlachtung eines hilflosen und verrückten Verlierers, Nachfahre von Sklaven und ausrangierter Legionär des Empires, hat weder die Gesellschaft noch irgendjemanden sicherer gemacht. Und eine moralische Schuld wurde auch nicht getilgt.'"
Hier ein Auszug.
In bester buddhistischer Tradition beschäftigt sich
Pankaj Mishra in seiner intellektuellen Biografie "An End to Suffering" (
erstes Kapitel) mit
Siddhartha Gautama, den er als weltlichen Pragmatiker beschreibt. Adam Goodheart
zeigt sich von dieser frischen Perspektive recht angetan. "Buddha war kein Prophet -
keine religiöse Figur, sondern eine säkulare. Er ignorierte die Frage nach der Existenz von Gut und Böse, die nahezu jede größere Religion heimgesucht hat. Sein Anliegen war ein praktisches: das
Leiden zu lindern, sowohl in materieller als auch existenzieller Hinsicht. Seine Gebote kamen nicht als von himmlischem Donner begleitete Enthüllungen, sondern als kleine anekdotenreiche Einsichten: 'Ich erinnere mich noch gut, als ich
im Schatten eines Jambu-Baumes saß, an einem Weg zwischen den Feldern...'"
Weiteres:
Haruki Murakamis neuer Roman "Kafka on the Shore" ist eine "sehr alte Geschichte" des Schicksals in zeitgemäßen Kulissen,
meint Laura Miller, die wenig überrascht ist, aber wie gewohnt der
"nahezu unwiderstehlichen Tiefenströmung" des japanischen
Bestsellerautors erliegt (
hier beginnt sie). Julia Reed
vergibt Mireille Guiliano ihre patriotische Hymne auf den angeborenene Chic und die Eleganz der französischen Frau (
"French Women Don't Get Fat"), denn sie hat ja recht (ein
Auszug). Noah Feldman
weist auf einige neue Bücher zum konfliktreichen Verhältnis zwischen
Islam und westlichen Ideen hin. Und Rachel Donadio
entdeckt in den
studentischen Verissen von Tom Wolfes Campusroman "I Am Charlotte Simmons" trotz aller Kritik eine Verbeugung vor
Wolfes Scharfblick.

Im
New York Times Magazine fährt Michael Kimmelmann in die Wüste und
porträtiert den recht exzentrischen
Land-Art-Künstlercowboy Michael Heizer, dessen Lebenswerk, die enorme Skulptur
"45º, 90º, 180º/City" in der Ödnis von Nevada jetzt durch die geplante Bahnstrecke zum
atomaren Endlager bei Yucca Mountain bedroht ist. "Dies ist eine Geschichte über einen Mann, seinen Traum und eine Eisenbahn. Alles in ihr hat
Übergröße, die Landschaft eingeschlossen. Andererseits ist es auch eine vertraute Westernsaga, in der ein grüblerischer, entschlossener Einzelgänger gegen das
große, böse Washington kämpft. Nur dass in diesem Fall die Persönlichkeit des Helden mindestens so radioaktiv ist wie der Zug, der auf ihn zurast."
Hier eine Multimedia-Einführung zu Heizer. Kimmelmann
kennt den Künstler und sein Werk schon länger.
New York Review of Books, 27.02.2005
Zugegeben,
meint Christopher de Bellaigue, Korrespondent des
Economist in Teheran, nach den Erfahrungen im Irak dürfte ein militärisches Vorgehen der USA gegen den Iran ziemlich wahnwitzig sein. Aber es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass die Europäer mit ihren Verhandlungen über das
iranische Atomprogramm erfolgreich sein werden. "Frühere Verhandlungen gerieten über die Unfähigkeit des Iran ins Stocken, seine Politik zu ändern, besonders bei den
Menschenrechten und in der Außenpolitik. Seitdem ist der Iran, wenn überhaupt etwas,
noch kompromissloser geworden. Sein Bekenntnis zur Demokratie wurde bei den Parlamentswahlen vom Feburar 2004 diskreditiert, bei denen mehr als
zweitausend Reform-Kandidaten nicht zugelassen wurden. Seine Verpflichtung zum Freihandel wurde von den
isolationistischen Tendenzen der Hardliner in Frage gestellt. Ungeachtet der europäischen Forderungen hat Iran weder die
Menschenrechte seiner Bürger geachtet noch die Unterstützung für militante Gruppen eingestellt, die
gegen einen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern opponieren."
Weiteres: Brian Urquhart
beklagt, dass "der Geist des
Unilateralismus und des
Nationalismus" in den USA Einzug gehalten hat, das einzige Land, das zweihundert Jahre lang dagegen gefeit gewesen sei. Freeman J. Dyson
empfiehlt Brian Cathcarts dramatischen Bericht von den Anfängen der
Teilchenphysik "The Fly in the Cathedral - How a Group of Cambridge Scientists Won the International Race to Split the Atom". Martin Filler
stellt neue Bücher über den Wiederaufbau von
ground zero vor. Und Simon Sebag Montefiore
liest die Briefe zwischen
Katharina der Großen und Prinz
Grigori Potemkin als Zeugnisse einer königlichen Liebesaffäre und einer
gleichberechtigten politischen Partnerschaft.
Point, 07.02.2005

Der aus Algerien stammende Anthropologe, Islamexperte und Schriftsteller
Malek Chebel hat ein "Manifest für einen
aufgeklärten Islam" (Hachette) veröffentlicht und vertritt als zentrale Figur der Integration
die These, diese könne nur über den Weg der
Meritokratie beschritten werden. In einem ausführlichen
Interview antwortet er auf die Frage, ob der
Islam nicht einen großen Reformator, einen
Luther brauche: "Einen Luther, Gandhi oder Mandela! Ja, natürlich, aber ein großer Reformator lässt sich nicht einfach verordnen, dafür gibt es bestimmte Bedingungen. Niemand hat Atatürk, Nasser oder Bouguiba programmiert, keiner von ihnen wollte den Islam bewegen. Ein
großer Mann entsteht aus der Situation. Der islamische Luther wird an dem Tage kommen, an dem die Geisteshaltung der Muslime und die Entwicklung des muslimischen Denkens dafür bereit sind. Außerdem wird er mit Sicherheit aus dem Inneren kommen. Die Integrationsbilanz in Frankreich wird als negativ beurteilt. Aber ich bin
optimistisch. In der französischen Gesellschaft gibt es
interessante soziologische Entwicklungen."
New Yorker, 14.02.2005

In einer umfangreichen Reportage
untersucht Nicholas Lemann die
Krise der amerikanischen Presse und fragt sich, warum in den großen so genannten "Mainstream"-Medien allmählich
alle "irre" werden. Das liegt für Lemann unter anderem daran, dass sie spätestens seit dem letzten Präsidentschaftswahlkampf in zunehmender Weise
"unter Beschuss" geraten sind. Druck machten dabei die politischen Lager selbst, aber auch kleine, politisch klar positionierte Medien sowie die so genannten Blogger und nicht zuletzt die Öffentlichkeit. Die Parole, so Lemann, lautet nun
Anpassung. Aus Angst, "kulturell und politisch die Übereinstimmung mit vielen Amerikanern zu verlieren", setzen die meisten Mainstream-Medien jetzt auf Annäherung, sie wollen "sich künftig ernsthafter und verständnisvoller mit dem
Thema Religion zu beschäftigen. Für viele steht dahinter ein
wirtschaftlicher Zwang, ein Versuch, mehr Leser zu bekommen, vor allem unter den Konservativen." Die
Glaubwürdigkeit des journalistischen Berufsstands sei bereits schwer angeschlagen - "investigativen oder intellektuell aufrichtigen Journalismus gibt es schon nicht mehr". Die Hauptsorge von Journalisten laute heute deshalb: "Was, wenn die Menschen uns nicht mehr glauben - und
uns nicht mehr wollen?"
Weiteres: Der
New Yorker wird in diesem Jahr
80 Jahre alt. Zwei Beiträge tragen diesem Ereignis in der aktuellen Ausgabe Rechnung. So
erinnert sich Roger Angell in einem sehr persönlichen Porträt an seinen Stiefvater, den Schriftsteller
E.B. White (
mehr), der in den Anfangsjahren des Magazins eine
"Schlüsselfigur" war. Und Louis Menand
beschreibt die vielen Gesichter des Monokel tragenden viktorianischen Dandys
Eustace Tilley, der 1925 die erste Ausgabe des Magazins zierte und seither auf jeder Jubiläumsausgabe vertreten ist. Hendrik Hertzberg
kommentiert den Ausgang der
Wahl im Irak. John Kenney
glossiert einen Besuch im New Yorker
Sushi-Restaurant Masa, wo "ein Essen für zwei leicht
1.000 Dollar kosten kann". Zu
lesen ist außerdem die
Erzählung "Up North" von
Charles d?Ambrosio.
In einem Essay über das Werk der Schriftstellerin
Marguerite Yourcenar (
mehr) und aus Anlass der Wiederauflage ihres Romans "Memoirs of Hadrian" von 1951 (deutsch: "Ich zähmte die Wölfin - Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian")
zeichnet Joan Accocella nach, wie die 1987 gestorbene Autorin "die
Vergangenheit neu erfunden" hat. Die
Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einem Buch über die
"wissenschaftliche Sackgasse" Phrenologie. Alex Ross
porträtiert den finnischen Dirigenten
Osmo Vänskä, der als Leiter des
Minnesota Orchestra als "Phänomen" und "sensationeller Erfolg" gefeiert wird. John Lahr
bespricht die
Theaterstücke "Brooklyn Boy" und Hurlyburly". Und David Denby
sah im Kino Oliver Hirschbiegels
"Der Untergang" ("Deutsche Liberale müssen keine Angst haben: Dieser menschliche Hitler ist
genau so abstoßend wie der ikonenhafte.")
Nur in der
Printausgabe: ein Artikel über
Folter und ihre "außergewöhnliche Interpretation", eine Untersuchung, ob
Schuhe aus der Steinzeit bequem waren, eine Reportage über einen Dieb und seine
unerwartete Beute, das Porträt des Autors der
TV-Westernserie "Deadwood", ein Bericht über eine Klettertour durch die
Reedwoods und
Lyrik von Linda Gregg, Jorie Graham und Seamus Heaney.
Espresso, 10.02.2005

Die Wahlen im Irak haben nichts daran geändert: Die
amerikanische Okkupation des Irak ist ungerecht und aus dieser Ungerechtigkeit kann nie eine Demokratie erwachsen,
schäumt der marokkanische
Schriftsteller und Espresso-Kolumnist
Tahar Ben Jelloun. "Die Demokratie ist weder eine Technik noch eine
Pille, die man in Leitungswasser auflösen kann. Die Demokratie ist eine Kultur, die Zeit benötigt, Bildung, Erfahrung und vor allem die
Arbeit am Bewusstsein und an den Gewohnheiten. Es hat etwas mit Bildung zu tun: Die Demokratie eignet man sich in der schule an, auf der Straße, in der Familie, von den Medien, man lernt die Rechte anderer zu respektieren und Prinzipien und Werte mehr zu schätzen als Vorurteile. Es gibt keine Freiheit ohne Gerechtigkeit. Die Demokratie bildet sich nicht von selbst, und man kann sie nicht mit
Bomben und Zerstörung herbeiführen. Die Freiheit ist noch nie aus der Ungerechtigkeit geboren worden."
Weitere Artikel: Mit Hilfe des
Blogs der Regisseurin
Virginie Despentes rekonstruiert Emanuela Mastropietro die letzten Monate der Schauspielerin
Karen Bach, die durch den
Skandalfilm "Baise moi" bekannt wurde und sich nun in Paris das Leben genommen hat. Im Titel
spricht Marco Damilano mit Italiens Salonkommunist
Fausto Bertinotti (Vorsitzender der
Rifondazione Comunista und Generalsekretär der Europäischen Linkspartei), der nun oberster Linker des Landes werden will. Leider nur im Print gibt es eine Reportage über die
jungen Serben, die endlich in Europa ankommen wollen.
Folio, 07.02.2005

Die heutige Ausgabe von
NZZ Folio ist den "Normen" gewidmet. Manfred Papst
philosophiert über die Verbindlichkeit von
Rechtschreibregeln und plädiert für
mehr Gelassenheit. Hierfür zitiert er die
Spiegel-Kolumne "Zwiebelfisch": "Gmäess eneir Sutide eneir elgnihcesn Uvinisterät ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wrot snid, das ezniige, was wcitiig ist, ist, dsas der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion sehten. Der Rset knan
ttoaelr Bsinöldn sein, todzterm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das legit daarn, dsas wir nihct jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als Gnaezs."
Mikael Krogerus
erklärt, warum wir noch immer an der völlig unergonomischen Buchstabenanordnung unserer Computertastatur
Qwerty festhalten und bemerkt: "Das einzige alternative Texteingabesystem, das sich durchgesetzt hat, ist erstaunlicherweise ebenfalls
elend unpraktisch: das alphabetische System beim Mobiltelefon, das für
SMS genutzt wird." Andreas Heller wundert sich, dass es für alles die
Euronorm gibt, nur nicht für
Klamotten, und
beobachtet die mühsame Arbeit des Europäischen Komitees für Normung (CEN), Gruppe "Textilien und textile Produkte" (TC 248), Untergruppe "Größensystem" (WG 10). Und Marc Schürmann
zeichnet das Bild des Berliner Ingenieurs
Walter Porstmann, den man wohl einen Spießer nennen müsste, wäre er nicht ein Genie: der Erfinder der
Norm aller Normen, der
Deutschen
Industrie
Norm.
Das Sportlexikon
handelt heute von Schlittenfahren in
"freudig gurzendem" Schnee, und Luca Turin
hält in der Duftkolumne den neuen Herrenduft von
Guerlain für einen "perfekten Sprung vom Zehnmeterbrett", der von
Estee Lauder erscheint ihm dafür
"konsequent graugrün".
Plus - Minus, 05.02.2005
Vor sechzig Jahren - vom 4. bis 11. Februar 1945 - fand im Schwarzmeerkurort
Jalta eine Konferenz der alliierten Mächte Großbritannien, Sowjetunion und USA statt, die die
Gestalt Europas für die nächsten Jahrzehnte bestimmen sollte. Die Rote Armee stand an der Oder und die Zukunft der
mittel- und osteuropäischen Staaten schien besiegelt. Die Westmächte akzeptierten das. Die "Ordnung von Jalta" war fortan für die
Polen Sinnbild des Ausgeliefertseins, für die Westeuropäer war sie dagegen ein Segen,
schreibt Bohdan Cywinski in
Plus-Minus, der Wochenendbeilage der
Rzeczpospolita. "Trotz der anfänglichen Angst um die Sicherheit der Grenzen, stellte sich für die Westeuropäer heraus, dass die konstante Bedrohung von außen nicht nur ihre Entwicklung nicht störte, sondern sogar den Integrationsprozess im westlichen Teil Europas förderte."
Stabilität war - und ist - für die Westeuropäer alles, meint Cywinski. Hauptsache, die Russen sind glücklich! Und das "ist auch der Grund dafür, warum
Franzosen und
Deutsche so
nervös auf jede selbstständige Politik der Osteuropäer reagieren: von der
Solidarnosc über den
Irak-Krieg bis zur
Orangenen Revolution in der Ukraine."
"Wissen Sie, ich habe einen
Hund. Ich schaue ihm täglich in die Augen und sehe Ruhe. Er ist ruhig, weil er weiß, dass er ins
Paradies kommt - egal, was passiert. Wir sind aus dem Paradies vertrieben worden und können uns damit nicht abfinden". Der russische Schriftsteller
Wladimir Sorokin spricht im Interview über sein
Buch "Das Eis", über die Erneuerung der russischen Sprache, über den Status der Schriftsteller und über das
Böse im Menschen, das Sorokin bei einem Besuch in
Dachau entdeckte.
Economist, 04.02.2005

Sie war eine Wissenschaftlerin der alten Schule, und ihr Leben ein regelrechter
Flohzirkus, lesen wir im
Nachruf auf
Dame Miriam Rothschild, die ihre ganze Energie der Erforschung von Flöhen gewidmet hat. "Das vielleicht schönste Porträt von ihr war jenes im lateinischen Zitat ihres Oxford-Ehrendoktors. 'Sie ist zu diesem unserem Capitol aufgestiegen, nicht über Titel und Stufen, sondern mit einem Sprung wie dem ihrer Flöhe, in einem
triumphalen Wagen, gezogen nicht von Venus' Tauben, Junos Pfauen, Alexanders Greifen oder Pompejus' Elefanten, sondern von ihren
fünf Dutzend Spezies Vogelparasiten.' "
George W. Bush hat eine Affäre. Und dazu noch eine intellektuelle. Und dazu noch mit "dem Buch eines jüdischen Intellektuellen über einen abstrakten Begriff",
verkündet der Economist mit unverhohlenem Amüsement. Ein Blick auf den Liebhaber erklärt jedoch einiges, so der
Economist weiter: Der Intellektuelle ist der israelische Minister und Hardliner
Natan Sharansky und der abstrakte Begriff die
Demokratie ("
The Case for Democracy: The Power of Freedom to Overcome Tyranny and Terror"), natürlich hübsch eingegliedert in eine
manichäische Weltansicht. "Mr. Sharanskys Botschaft beinhaltet drei wesentliche Punkte. Erstens: 'Realpolitik' ist bankrott. Amerika kann nicht länger tyrannische Regimes wie
Saudi Arabien hätscheln, weil diese Regime ausnahmslos ihre innere Stabilität mit dem Export von Hass erkaufen. Zweitens: Demokratie ist die beste Versicherung gegen militärische Angriffe. Drittens: Die Welt ist wirklich geteilt zwischen Gut und Böse."
In weiteren Artikeln
erklärt der Economist
Gerhard Schröder zum
Überlebenskünstler und Comeback-Kanzler, fragt sich allerdings, ob die für die Regierung günstige Trendwende nicht etwas zu früh kommt, will heißen: zu lange vor den nächsten Wahlen. Großes Lob ernten zwei Bücher über die
Abschaffung der Sklaverei.
Adam Hochschilds "Bury the Chains: Prophets and Rebels in the Fight to Free an Empire's Slaves" und
Steven Wises "Though the Heavens May Fall: The Landmark Trial that Led to the End of Human Slavery",
schreibt ein schwärmender Economist, gemahnen uns, "wie eine engagierte Minderheit die Mehrheit davon überzeugen kann zu sehen, was sie zunächst nicht sehen kann oder sehen will." Schließlich
wertet der Economist die
Wahlen im Irak als Erfolg für die Demokratie - und den Irak.
Der
Aufmacher ist der
neuen Welle von Firmen-Fusionen gewidmet, die laut Economist erfolgreicher zu sein versprechen als die großen Pleiten der Neunziger (siehe AOL und Time Warner).
Revista de Libros, 04.02.2005

Mit einem schönen Text über das komplizierte Verhältnis von
Blick und
Gesetz in verschiedenen Teilen der gegenwärtigen Welt
eröffnet der mexikanische
Schriftsteller Juan Villoro eine neue Kolumne für die
Revista de Libros, die Literaturbeilage der chilenischen Tageszeitung
El Mercurio:
"'Für die Fotografie gibt es nur noch in der Dritten Welt einen frei zugänglichen öffentlichen Raum', meinte der Fotograf
Raul Ortega nach seiner Rückkehr von einer
Reportage aus Chiapas. Für eine Aufnahme wie
Robert Doisneaus berühmten '
Kuss vor dem Rathaus von Paris' müsste man heute zuvor mit Anwälten eine Vereinbarung aushandeln. Paradoxerweise wird aber in den Städten der entwickelten Welt, in denen man die Fotografie als
aufdringliche Zumutung betrachtet, jedermann aus Sicherheitsgründen ungefragt per Video überwacht. Von einer besonders eindrücklichen Erfahrung auf einem
deutschen Bahnhof berichtete der
Schriftsteller Javier Marias: Als er sich einmal am Fahrkartenschalter beschwerte, weil man ihm falsch herausgegeben hatte, erklärte der Verkäufer, als handelte es sich um die natürlichste Sache der Welt, er werde sich das Ganze noch einmal
auf Video ansehen. So erfuhr Marias, dass alles, was er dort getan hatte, offensichtlich Teil einer großen Reality-show gewesen war."
Passend dazu ebenfalls in der aktuellen Ausgabe der Revista de Libros: Eine Kurzgeschichte des jungen chilenischen Schriftstellers und Journalisten
Daniel Villalobos über eine Razzia gegen peruanische Migranten - die auch auf einem Foto zu sehen sind - in der chilenischen Hauptstadt Santiago: "
Fuerza publica".