Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.03.2005. Im Merkur geißelt Arnulf Barning die rot-grüne Außenpolitik, die Geist und Macht verwechselt. Outlook India erklärt uns, warum man im Cricket besser nicht gegen Pakistan verliert. Die London Review of Books ist schockiert über die Brutalität, mit der die Briten den Mau-Mau-Aufstand niederschlugen. In Literaturen feiert Urs Widmer die Schriftstellerin Terezia Mora. Im polnischen Plus-Minus erklärt Zygmunt Bauman Europas Wesen. In Le Monde erklärt Claude Lanzmann, wie er auf den Filmtitel "Shoah" kam. Das ungarische Elet es Irodalom stellt das Internetprojekt Babelmatrix vor. Al Ahram fragt, welches Geschlecht hat der Islam. Die New York Times Book Review stellt den neuen Helden der Neocons vor.

Merkur (Deutschland), 01.03.2005

In einem großangelegten Rundumschlag wettert der Historiker Arnulf Baring gegen die dilettantische rot-grüne Außenpolitik, die im Zeichen einer höchst dubiosen Realpolitik gegenüber Russland die "neoimperiale Zielstrebigkeit des Kremls" schönrede, Frankreich ohne Gegenleistung Gefolgschaft zusichere und sich von den USA isoliere, die uns immerhin "über Jahrzehnte hinweg die Russen vom Leib gehalten" haben. "Wir sind den Amerikanern vermutlich heute ähnlicher als vielen europäischen Nachbarn. Aber wie auch immer: Für die Frage, ob das Bündnis auch künftig erforderlich, ja vielleicht für uns lebensnotwendig ist, geben Besonderheiten deutscher oder europäischer Kultur nichts her. Wer anderer Meinung ist, also deutsche und europäische kulturelle Eigenständigkeiten betont, wie das Jacques Derrida und Jürgen Habermas getan haben, lässt die für Deutschland schon vor mehr als hundert Jahren charakteristische Verwechslung von Geist und Macht wieder aufleben und will damit sagen, unsere (angeblich höherwertige) Kultur könne die (uns fehlende) Macht ersetzen. Wer so argumentiert, bejaht erneut unseren Weg in die Isolation."

In seiner lockeren Serie über die kruden Gedanken unserer Meisterdenker knöpft sich Jörg Lau diesmal Michel Foucaults Lobgesänge auf die iranische Revolution vor. In mehreren Reportagen und Interviews (mehr hier) hatte Foucault zwischen 1978 und 1979 die "schöpferische Kraft des Islam" gepriesen und die Erhebung eines Volkes mit bloßen Händen als die "modernste und irrsinnigste Form der Revolte": Lau wundert sich: "Der Analytiker der Macht verwandelt sich in den Apologeten einer Machtergreifung, die ihren langen Schatten bis in unsere Gegenwart fallen lässt. Foucault, der Alleszermalmer, der die heiligen Worte der westlichen politischen Philosophie - Demokratie, Fortschritt, Humanität, Freiheit - zertrümmert hat, besingt den Auftritt des Islamismus auf der Bühne der Weltpolitik als 'einen Versuch, der Politik eine spirituelle Dimension zu verleihen'." Seltsam, so Lau, dass diese Konversion die Foucault-Exegeten kaum interessiert hat.

Zu einem seltsam gespaltenen Urteil kommt Siegfried Kohlhammer nach Lektüre von Mike Davis' Buch "Die Geburt der Dritten Welt", das nachzeichnen will, wie Imperialismus und Kapitalismus erst zu den großen Hungersnöten im 19. Jahrhundert und schließlich zur Entstehung einer veramten Dritten Welt geführt haben: "'Die Geburt der Dritten Welt' ist ein lesenswertes Buch. Was die Begründung seiner Hauptthesen anbelangt, tendiert ihre Überzeugungskraft gegen null."

Im Print schreibt Heinz Bude schreibt über die beiden "Denker der Nachkriegszeit", Jürgen Habermas und Jacques Derrida. Adam Krzeminski erblickt die Geburt der gemeinsamen EU-Ostpolitik auf dem Kiewer Majdan: "In der Ukraine und nicht, wie 2003 in Paris und Berlin zu hören war, in der Auflehnung gegen amerikanische Eigenwilligkeit, entsteht die gemeinsame Außenpolitik der EU." Thomas Frahm erklärt den bulgarischen Humor. Und vieles mehr.
Archiv: Merkur

New Yorker (USA), 07.03.2005

In einem wunderbar informativen Artikel beschäftigt sich Sasha Frere-Jones mit dem teuren Vergnügen beziehungsweise dem einträglichen Geschäft mit Klingeltönen fürs Handy. Vier Milliarden Dollar hätten ihre Anbieter 2004 weltweit damit umgesetzt. Wie alles hat auch diese Erfolgsgeschichte ganz einfach angefangen: "1997 hatte ein Handy genau zwei Klangoptionen: Es konnte 'klingeln' - unser anachronistischer Begriff für den elektronischen Triller, den Telefone produzieren, wenn man einen Anruf bekommt - oder eine einstimmige Melodie wie 'Für Elise' spielen. Keine große Auswahl also. Aber zu dieser Zeit führte Nokia das 'smart messaging' ein, ein Programm, welches das versenden von Textnachrichten übers Handy ermöglichte. Und Vesa-Matti Paananen, ein finnischer Programmierer, kam darauf, dass dies auch mit Teilen von Musikstücken funktionieren musste. Er entwickelte eine Software namens Harmonium, die es möglich machte, Handys mit harmonisch einfachen Melodien und Rhythmen zu programmieren und per 'smart messaging' an Freunde zu senden.

Weitere Artikel: Jeffrey Toobin schildert die "extreme Taktiererei", mit der Bush versucht, seine Kandidaten für den States Supreme Court durchzusetzen und fragt sich, ob sie mit der "Atomwaffen-Option" durchkommen. Louis Menand würdigt in seinem Nachruf auf Hunter S. Thompson den Erfinder des Gonzo-Journalismus als "einen der letzten wahren Gläubigen". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Gorge" von Umberto Eco.

Besprochen wird eine Studie über "Voltaire im Exil" (Grove), die den Philosophen als Vorkämpfer für die Menschrechte würdigt, und die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Biografie über Madame de Stael. Nancy Franklin stellt die TV-Serien "Medium" und "Supernanny" vor. Peter Schjeldahl führt durch eine Cy Twombly-Ausstellung im Whitney Museum. Und David Denby sah im Kino "Be Cool" von F. Gary Gray, eine Fortsetzung der Komödie "Get Shorty", und den Horrorfilm "Constantine" mit Keanu Reeves.

Nur in der Printausgabe: ein Text von Orhan Pamuk über seine Kindheit in Istanbul, ein Bericht über den unrühmlichen Abgang des CBS-Moderators Dan Rather und Lyrik von Charles Simic und John Updike.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 07.03.2005

Wenn Indien und Pakistan gegeneinander Kricket spielen, ist das Outlook allemal eine Sondernummer wert. Schließlich geht es um so viel mehr als nur um einen sportlichen Vergleich - die bevorstehende Spielserie wird auf einem schmalen Grat von nationaler Rivalität und offizieller Diplomatie ausgetragen. Für die Beteiligten könnte ein Endspiel um die Weltmeisterschaft nicht wichtiger sein, wie Suveen K. Sinha betont: "Regelmäßig nach einem Aufeinandertreffen der beiden Länder verlieren Kapitäne und Trainer ihre Posten, werden Karrieren beendet." Oder, wie es ein ehemaliger Spieler sagt: "Niemand verzeiht dir, wenn du gegen Pakistan verlierst."

Zwei Artikel verorten die indisch-pakistanische Kricket-Rivalität historisch und global. Einerseits, schreibt Boria Majumdar, ist Sport mit seiner Fähigkeit, Massen zu mobilisieren, hervorragend geeignet, die Botschaft von Verständigung und Frieden zu verbreiten. Andererseits - und aus exakt dem selben Grund - wirken sportliche Wettbewerbe als Verstärker nationaler Befindlichkeiten, als Medium der populären politischen Imagination. Man führe sich nur den Text der schottischen Rugby-Hymne zu Gemüte und stelle sich ein Match gegen England vor: "O flower of Scotland/ When will we see/ Your like again/ That fought and died for/ Your wee bit hill and glen/ And stood against him/ Proud Edward's army/ And sent him homeward/ Tae think again. Those days are passed now/ And in the past they must remain/ But we can still rise now/ And be the nation again."

Brian Stoddart trägt weltweite Beispiele für solche Rivalitäten zusammen - Celtic vs. Glasgow Ranger, Real Madrid versus Barca, Neuseeland versus Australien im Rugby - und zeigt, dass sie, obwohl ursprünglich politisch motiviert, mittlerweile enorme ökonomische Faktoren darstellen. Währenddessen bewahrt der krude Symbolismus seine Wirkungsmacht: "Viele solcher Repräsentationen sind genau das - Repräsentationen. Beispielsweise im spanischen Fußball: Natürlich sind die politische Komplexitäten vielschichter, als es eine schlichte Gleichsetzung von Athletic Bilbao und baskischem Separatismus glauben machen könnte. Doch Millionen Menschen erhalten dank solcher Repräsentationen die Möglichkeit zum Ausdruck tief verwurzelter Ansichten, Ambitionen, Vorurteile und Feindschaften."
Archiv: Outlook India

Espresso (Italien), 03.03.2005

Kein ernstzunehmender mittelalterlicher Intellektueller hat sich die Welt als Scheibe gedacht, konstatiert Umberto Eco in seiner Bustina di Minerva, selbst wenn das auf den Abbildungen so aussieht. "Diese Karten hatten eher symbolische als geografische Funktion (mit Jerusalem im Zentrum) und stellen damit nicht die Welt dar, sondern die bekannte Welt. In unseren heutigen Atlanten wird dasselbe gemacht: , die darstellen wollen, wie weit Rom von Jerusalem oder Athen entfernt ist, und die Europa auf einem flachen Blatt Papier abbilden. Wenn einer unserer Atlanten in dreitausend Jahren in die Hände eines Außerirdischen fällt, könnte er genauso glauben, dass wir uns die Erde als platte Scheibe dachten."

Auch in Italien diskutiert man über die Verarmung der Mittelschicht und den immer schneller wachsenden Reichtum der Oligarchen. Monica Capuani stellt Ferzan Ozpeteks Film "Cuore sacro" vor, der provokativ die gesellschaftliche Spaltung thematisiert. In einem anderen Interview beteuert er hingegen, den sozialen Hintergrund nur der Story wegen ausgesucht zu haben. Alessandro Gilioli informiert sich bei Marco Cavina über das Duell, die Institution, auf der die europäische Zivilgesellschaft begründet sei.

Im Titel wird Silvio Berlusconi wieder einmal die Liste seiner Vergehen vorgehalten.
Archiv: Espresso

London Review of Books (UK), 03.03.2005

Bernard Porter empfiehlt zwei "brillante, genau recherchierte und schockierende" Bücher, die darlegen, wie die Briten den Aufstand der Mau Mau in Kenia niederschlugen: David Andersons "History of the Hanged: Britain's Dirty War in Kenya" und Caroline Elkins' "Britain's Gulag: The Brutal End of Empire in Kenya". Anderson geht von 20.000 Menschen aus, die bei Kämpfen getötet wurden, Elkins schätzt, dass bis zu 100.000 Menschen in Internierungslagern ums Leben kamen. "Die Dinge gerieten ein wenig außer Kontrolle", erzählte ein Zeuge Elkins über ein Verhör. "Als wir ihm die Eier abschnitten, hatte er schon keine Ohren mehr und ein Augapfel, ich glaube es war der rechte, hing aus der Augenhöhle. Leider starb er, bevor wir viel aus ihm herauskriegen konnten."

Saree Makdisi schildert die Lage in der palästinensischen West Bank nach der Lockerung der israelischen Sicherheitsmaßnahmen. Dabei wird klar, dass zwischen "besser" und "gut" ein gravierender Unterschied besteht. "Als Hani und ich uns auf den Weg nach Kalkilia machten, befürchtete ich, dass uns die grünen West-Bank-Kennzeichen an unserem Auto Schwierigkeiten bereiten könnten. Einwohner von Jerusalem haben gelbe, israelische Kennzeichen. An Straßensperren ergeht es ihnen besser, und sie sind keinerlei Routinedurchsuchung der Armee ausgesetzt. 'Zur Zeit ist es nicht so schlimm', versichert mir Hani. 'Vor ein paar Monaten war die Lage schrecklich. Wir konnten uns nirgendwo hin bewegen. Doch die Armee hat vor kurzem ihren Griff gelockert. So machen sie es: Sie würgen dich so stark, dass du kurz vor dem Verrecken bist, dann lassen sie locker, bis es nur noch weh tut. Es gibt noch immer Checkpoints und Straßensperren, Durchsuchungen und Schikane, doch weil man irgendwie durchkommt, fühlt es sich nicht so schlimm an.'"

Weitere Artikel: Jenny Diski, mittlerweile selbst in die Jahre gekommen, nimmt Michael Bywaters Buch "Lost Worlds: What Have We Lost and Where Did It Go?" zum Anlass über das Phänomen der Altersnostalgie nachzudenken. In Short Cuts erregt sich Thomas Jones über Tony Blairs Rede auf dem Labour-Frühlingsparteitag, in der dieser das Verhältnis zwischen Regierendem und Regierten dem hochgradig fragwürdigen Vergleich mit einer Beziehung unterzogen hat, und stellt eines klar: Er will keine Beziehung mit Tony. Und schon gar keine asymetrische, in der Tony immer alles besser weiß. Schließlich kann Hal Foster nur den Kopf schütteln über das von Christo und Jean-Claude im New Yorker Central Park aufgebaute unpolitische und kitschige Happening "The Gates".

Literaturen (Deutschland), 01.03.2005

Was liest Urs Widmer? Immer nur ein Buch auf einmal, betont der Schweizer und verfällt daraufhin in hymnischen Lobgesang auf sein jüngstes Leseunikat, "Alle Tage" von Terezia Mora. "'Alle Tage' stützt eine meiner heimlichen Literaturtheorien: nämlich dass in der Literatur (nicht nur in der deutschen) die Neuerungen und die stärksten Stücke von den Rändern her kommen. Gottfried kam aus Straßburg, Kafka aus Prag. (Ist natürlich Wasser auf meine Mühlen. Schweizer leben auch am Sprachrand.) Terezia Mora, in Ungarn geboren, gehört sogar zu denen, deren Schreibsprache gar nicht die Muttersprache ist. Wie Vladimir Nabokov sein Englisch, hat sie ihr Deutsch zu einer ungeahnten Beweglichkeit und einem großartigen Reichtum entwickelt. Ich glaube, es gibt kein Wort der deutschen Sprache, das ihr nicht spontan zur Verfügung stünde, und zuweilen habe ich beim Lesen gedacht, mein Gott, sie weiß alles."

Weitere Artikel: Im Schwerpunkt mockiert sich Christoph Bartmann über das im großen Stil geplante, naiv-protzige Hans-Christian-Andersen-Jahr, das den Märchenerzähler zu Dänemarks Botschafter und zahllose Prominente zu Andersens sogenannten "Ehrenbotschaftern" ernennt (ein Wort, das in Dänemark mittlerweile schon für Gelächter sorgt). Aus London berichtet David Flusfeder entsetzt über die neuen britischen Literaturpäpste Richard und Judy, den König und die Königin des Nachmittags-Fernsehens, deren niveauloser "Richard and Judy Book Club" auf der Bestsellerliste Wellen schlägt. Im Kriminal liest Franz Schuh Christine Gräns Berlin-Krimi "Marx, my Love", begegnet dort der Detektivin Anna Marx und erkennt in ihr eine "Ritterin von der traurigen Gestalt". Und in der Netzkarte bereitet Aram Lintzel die orientalistische Pferde-Webseite www.araber.de kulturtheoretisches Unbehagen.
Archiv: Literaturen

Plus - Minus (Polen), 26.02.2005

In der Wochenendbeilage der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita fragt sich Jaroslaw Makowski nach der Lektüre von Zygmunt Baumans neuem Werk "Europe. An unfinished adventure", ob Europa das sein kann, was es sein will - "ein Abenteurer und Visionär, der einer globalisierten Welt eine neue Gestalt verleihen will"? Der polnisch-britische Soziologe antwortet: Noch nicht, aber Europas Wesen bestehe schließlich in der endlosen Suche nach Antworten. "Nach Europa suchen ist Europa erschaffen."

Letzte Woche wurde einer der bekanntesten zeitgenössischen Maler Polens, Zdzislaw Beksinski, tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Das Magazin druckt ein bisher unveröffentlichtes Interview mit dem Künstler ab. Beksinski spricht über den Stillstand auf dem Kunstmarkt in Polen, über den positiven Einfluss von Computern in der Kunst und über seine seelische Verwandtschaft mit Bruno Schulz: "Wir sind alle eine Bande von Mutanten, in der sich jeder mit seinen Gebräuchen, Bedürfnissen und Erwartungen ein wenig von den anderen unterscheidet. In diesem Zusammenhang bin ich nicht der einzige 'Verwandte' von Bruno Schulz."

Außerdem: Redakteure der Rzeczpospolita und des Spiegels haben entdeckt, dass Gerhard Liebchen, der Vater von "Plastinator" Gunter von Hagens, der im westpolnischen Örtchen Sieniawa eine neue "Fabrik" für seine Leichenpräparate errichten will, während des Krieges nicht nur NSDAP-Aktivist, sondern auch Mitglied der SS im "Warthegau" war. Der 88-jährige Liebchen soll als Prokurist die Geschäfte vor Ort leiten.
Archiv: Plus - Minus

Le Monde (Frankreich), 25.02.2005

Vor 20 Jahren zeigte Claude Lanzmann (mehr) erstmals "Shoah", seinen Film über die Ermordung der europäischen Juden. In einem Artikel gesteht der Regisseur nun, dass er lange keinen Namen für den Film hatte und ihn, wenn das möglich gewesen wäre, am liebsten ohne Titel gelassen hätte. Für sich nannte er ihn "die Sache", eine Möglichkeit, "das Unbenennbare zu benennen". Der Begriff "Shoah" sei ihm erst ganz am Ende seiner Arbeit eingefallen, weil er eigentlich kein Hebräisch könne und seinen Sinn nicht verstand. "Aber auch für jene, die hebräisch sprechen, ist 'Shoah' vollkommen unangemessen. Der Begriff taucht in der Bibel in mehreren Zusammenhängen auf, er bedeutet 'Katastrophe', 'Zerstörung', 'Vernichtung', es kann sich dabei aber auch um ein Erdbeben oder eine Überschwemmung handeln. Nach dem Krieg haben Rabbiner willkürlich entschieden, dass er 'die Sache' bezeichnen solle. Für mich war 'Shoah' ein Bezeichnendes ohne Bezeichnetes, eine Verkürzung, undurchsichtig, ein unzugängliches Wort, unzerlegbar wie ein Atomkern." Lanzmann entschied sich dennoch dafür, und als ihn jemand vor der Premiere nach dem Titel des Films und seiner Bedeutung fragte, habe er geantwortet: "Ich weiß nicht, was 'Shoah' bedeutet." - "Aber das muss man erklären, das wird kein Mensch verstehen." - "Genau das will ich, dass kein Mensch es versteht."
Archiv: Le Monde

Gazeta Wyborcza (Polen), 26.02.2005

Angesichts der Konflikte mit muslimischen Einwanderern, schlägt Tadeusz Kisielewski folgende Strategie für Europa vor: Zum einen eine langfristige Demokratisierung der islamischen Länder und zum anderen eine stärkere Kontrolle der Migrationsströme. Viel naheliegender aber wäre es für Kisielewsi, die Grenzen für die Völker Osteuropas zu öffnen, die uns kulturell und zivilisatorisch viel näher stünden. "Es liegt im Interesse des Westens, Privilegien für Ukrainer und Angehörige anderer Staaten der ehemaligen UdSSR einzuführen. Da die orthodoxe Kultur der westlichen am nächsten steht, wären Integrationsschwierigkeiten viel geringer als bei Einwanderern aus ferneren Kulturen."

Das soeben zu Ende gegangene polnische Kulturjahr in Frankreich "Nova Polska" scheint ein Erfolg gewesen zu sein. Warum nur, fragt sich Marek Rapacki, hat es Le Monde in seinem Jahresrückblick nicht einmal erwähnt? Trotz einiger gut besuchter Veranstaltungen scheint die Wahrnehmung in Frankreich gering gewesen zu sein - verglichen mit dem Enthusiasmus, mit dem polnische Medien über das Kulturjahr berichtet haben. Man sollte daraus seine Lehren ziehen im Hinblick auf das im Mai beginnende Deutsch-Polnische Jahr., meint Rapacki: "Nur sollte man sich nicht vormachen, dass es gelingt, schnell ein positives Bild des Landes im Ausland aufzubauen."
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Privilegien

Economist (UK), 25.02.2005

Sehr vergnüglich zu lesen ist der Nachruf auf Hunter S. Thompson, das enfant terrible des amerikanischen Motosport-Journalismus und Begründer des sogenannten Gonzo-Journalismus, für den Objektivität in der Berichterstattung gleich zwei Fremdwörter auf einmal sind. "Dass er die Regeln des amerikanischen Journalismus regelrecht in den Boden stampfte, geschah mehr oder weniger zufällig. 1970 wurde er beauftragt, über das Kentucky Derby Bericht zu erstatten, doch sein Hirn war - wie immer - zu sehr mit Drogen zugeschüttet, als dass er die Story hätte schreiben können. Eins nach dem anderen riss er mit zittrigen Händen die mit Whiskey-getränkten Weitschweifigkeiten überzogenen Seiten seines Notizbuches heraus und schickte sie zum Druck. Das Ergebnis, 'Das Kentucky Derby ist dekadent und verkommen', war ein Renner, obwohl Thompson darin weder das Rennen beschrieb noch den Sieger nannte. Und er war verblüfft: Es war wie "einen Aufzugschacht hinunterzufallen und in einem Pool voller Nixen zu landen".

In einem umfassenden Artikel beschäftigt sich der Economist mit einem Phänomen, das die arabische Welt revolutioniert hat: "Das Satellitenfernsehen hat ein Gefühl der Dazugehörigkeit und der Mitwirkung in einer Art virtueller arabischer Metropole hervorgebracht. Mit ihm beginnt ein Traum wahr zu werden, den fünfzig Jahre politischer Reden und Gesten nicht vollbringen konnten: die arabische Einheit." Ob es auch die Redefreiheit und die Demokratie bringen wird?

Außerdem zu lesen: Warum Clint Eastwoods scheinbar völlig unamerikanische Ode an eine Verliererin "Million Dollar Baby" letzten Endes doch sehr amerikanisch ist, dass es mehr als Zeit ist, Homosexuellen offiziell den Dienst in der US Army zu erlauben, warum das spanische Ja zur EU-Verfassung leider nur der Auftakt einer Reihe von äußerst unsicheren Referenden ist und schließlich dass die nur aus 16 Gemälden bestehende Londoner Caravaggio-Ausstellung "The Final Years" so herausragend ist, dass sogar unter Hausarrest stehende Menschen das Risiko eingehen, sich in die Warteschlange einzureihen.
Archiv: Economist

Elet es Irodalom (Ungarn), 25.02.2005

Sein und Site - lautet der Titel eines Beitrags über die "Babelmatrix Webanthologie", ein neues ungarisches Internetprojekt. Die Pilotversion enthält Übersetzungen der ungarischen Literatur in sieben Sprachen; die Einbeziehung weiterer Sprachen und Literaturen ist in Planung. Rezensent Sandor Radnoti, Ästhetikprofessor an der Budapester Universität, ist begeistert: "Babelmatrix verbindet einen der ältesten Mythen der menschlichen Unsicherheit, der Sprachverwirrung, mit einem der neuesten, der virtuellen Wirklichkeit." Das Projekt werde unter anderem zeigen, "ob die Vermutung begründet ist, dass die deutsche Sprache wieder zur wichtigsten Entdecker- und Vermittlersprache der ungarischen Literatur avancierte".

Während das ungarische Parlament über das Gesetz zur Veröffentlichung aller Stasi-Akten debattiert, wird die Öffentlichkeit immer wieder durch neue Internetlisten von vermeintlichen Stasi-Spitzeln bewegt (zuletzt hier und hier). Janos M. Rainer, Direktor des renommierten "Instituts 1956" findet im Gespräch mit dem ES-Magazin, dass die hitzigen Debatten über die Listen von den eigentlich wichtigen Fragen ablenken. Aufgrund des neuen Gesetzentwurfes der Sozialisten werde ja sowieso alles aus dem Stasiarchiv ins Netz gestellt. Offen bleibe, was der Nationale Sicherheitsdienst nicht in dieses Archiv stellt und wie lange noch der Staat und nicht die Historiker über die Dokumente verfügen dürfen: "Aufgrund welcher Kriterien bestimmte Dokumente immer noch geheim gehalten werden, ist für Außenstehende unergründlich. Teilweise werden diese Kriterien nicht genannt, teilweise werden sie mit Begründungen versehen, die gar nichts sagen: 'Durch die Öffentlichkeit dieses Dokumentes würden sicherheitsdienstliche Interessen der Republik Ungarn verletzt.'"

Der Schriftsteller Istvan Eörsi fragt sich, warum "Die Briefe aus Snagov", das Tagebuch von Imre Nagy - Anführer der ungarischen 1956er Revolution - auf Rumänisch, aber nicht auf Ungarisch erscheinen dürfen. (Antwort: weil die Erbin Imre Nagy als patriotischen Freiheitshelden verewigen und seinen Glauben an die kommunistischen Ideale verheimlichen will.)

Al Ahram Weekly (Ägypten), 24.02.2005

Welches Geschlecht hat der Islam? Margot Badran war in Indien unterwegs und hat die heterogene Bewegung progressiver Muslime in den Blick genommen, vor allem, was ihre Ideen zur Verbesserung der Lage der Frau angeht: "Linderung von Armut, Bekämpfung von Analphabetismus, die Installation eines muslimischen Zivilrechts und die Schaffung eines standardmäßigen muslimischen Ehevertrages, Interpretationen religiöser Quellen, besonders des Korans, sowie inter-kommunale Beziehungen - all das fordert die Aufmerksamkeit progressiver Muslime. Und für all diese Themen ist die Problematik des Geschlechts relevant." In Gesprächen mit Aktivisten in religiösen und akademischen Institutionen hat Badran festgestellt, dass die Lösung übereinstimmend nicht außerhalb, sondern innerhalb der Quellen des islamischen Glaubens gesucht wird: "Für islamische FeministInnen und andere progressive Muslime ist der Koran der zentrale Text und Referenzpunkt für Rechte, Freiheiten, Gerechtigkeit und Harmonie". Sie argumentieren, mit anderen Worten: Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist im Koran verankert, er wurde nur falsch - machtbewusst nämlich - interpretiert.

Zweimal Kultur: Moina Fauchier Delavigne empfiehlt die Ausstellungen zweier deutscher Künstler in Kairo - sie ist entzückt von von der "kindlichen Schlitzohrigkeit" in den abstrakten Bildern von Carola Remper und schwärmt vom visuellen Potential der Graffiti-Art von Casto (mehr). Lubna Abdel-Aziz schreibt den Nachruf auf Arthur Miller.

Und - mal ein anderes Thema - zweimal Fußball. Amr Shalakany ist zwar Professor, aber von besagtem Sport hat er keine Ahnung. Deshalb versteht er nie, worum es geht, wenn sich seine Kollegen über das letzte Spiel unterhalten (3-4-3, hä?). Oder doch: Bei Rivalitäten zwischen Fangemeinden muss es sich, meint er, um den zeitgemäßen Ausdruck politischer Gesinnungen handeln. Wie dem auch sei: Einen sehr lustigen Text hat er geschrieben. Inas Mazhar stellt Ahmed "Mido" Hossam vor, Ägyptens besten und reichsten Fußballer, der seit Jahren in europäischen Ligen spielt, obwohl er gerademal 22 ist.
Archiv: Al Ahram Weekly

Magyar Hirlap (Ungarn), 24.02.2005

Andrzej Stasiuk (mehr hier) hat im Gespräch mit der jungen ungarischen Autorin Orsolya Karafiath zwei Geheimnisse verraten: Warum Ungarn das Lieblingsland eines polnischen Schriftstellers ist (man liebt die gleichen Dinge, die einen zu Hause wahnsinnig machen) und woran er gerade arbeitet: "Ich schreibe eine Oper über die mitteleuropäischen Roma für ein deutsches Theater und einen Roman, dessen zwei Hauptfiguren Geschäfte mit Secondhand-Kleidung machen. Gebrauchte Kleidung ist auch bei uns populär, und meine Hauptfiguren versuchen dieses florierende Business international zu erweitern. Die Geschichte spielt im vereinten Europa, in dem es keine Grenzen mehr gibt, beziehungsweise in den Grenzgebieten wohnen nur Roma. Das Thema ist Secondhand als Ware und im abstrakteren Sinne Europa als Secondhand. Aber ich habe erst dreißig Seiten fertig, meine Helden machen ihre Winkelzüge gerade in der Slowakei ."
Archiv: Magyar Hirlap

New York Times (USA), 27.02.2005

Jacob Heilbrunn untersucht die Verehrung, die amerikanische Neokonservative Winston Churchill entgegenbringen. Seinen bedingungslosen Kampf gegen Hitlerdeutschland hat Reagan ebenso bewundert wie jetzt Bush. Heilbrunn vermutet aber, dass Churchill zur Legitimation einer neuen Politik missbraucht wird. "Bushs ehemaliger Redenschreiber David Frum hat Churchill als großen Mann des 20. Jahrhunderts gepriesen und zugleich Roosevelt getadelt, weil er dem Nationalsozialismus wie dem Stalinismus nicht deutlich genug entgegengetreten ist. Indem sie Roosevelt zur Seite schieben und Churchill erhöhen, tun die Neokonservativen mehr, als an einen neokonservativen Helden der Vergangenheit zu erinnern. Sie erfinden vielmehr einen neue interventionalistische Tradition für die Republikaner, die über alles hinausgeht, was sich Churchill oder ein britischer Politiker je vorgestellt haben."

In einem Essay bricht der Autor Gore Vidal eine Lanze für den geschätzten Kollegen James Purdy, der aus seiner Rolle als Geächteter der amerikanischen Literatur wohl nicht mehr herauskommt. Zur Wertedebatte wird er nun wieder gelesen, Gerechtigkeit widerfährt ihm aber noch lange nicht. "'Schwule' Literatur, besonders von noch lebenden Schriftstellern, ist ein großer Friedhof, auf dem Autoren, die bis auf ihre angenommenen sexuellen Vorlieben völlig unterschiedlich sind, in einem Loch weit ab vom ausgetretenen Hauptweg der familiären Werte zusammengeschmissen werden. James Purdy, der eines Tages zusammen mit William Faulkner in die schattige Gotik-Ecke des Friedhofs der amerikanischen Literatur versetzt werden sollte, muss dagegen neben Fremden liegen."

Weitere Artikel: "Außergewöhnlich interessant" findet William T. Vollmann Philip Shorts Biografie (erstes Kapitel) über Pol Pot, den Anführer der Roten Khmer in Kambodscha. Gut, dass Tom Reiss sein Porträt des Schriftstellers Lev Nussibaum, der als Jude in Baku aufwuchs, als Araber posierte, 14 Bücher in vier Jahren schrieb (mehr) und schließlich im süditalienischen Positano starb, nicht als Roman verfasst hat, jubelt ein angeregter Geoffrey Wheatcroft. Diese Geschichte (erstes Kapitel) hätte ihm nämlich niemand abgenommen. Tom Bissell lässt die Charaktere seiner Kurzgeschichtensammlung "God Lives in St. Petersburg" (erstes Kapitel) durch Zentralasien irren. Pankaj Mishra reist gerne mit, denn Bissell hat in der Short Story sein Genre gefunden.

Im New York Times Magazine erzählt Roger Cohen in einer großen Reportage die Geschichte von 350 amerikanischen Kriegsgefangenen, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs ins KZ Berga, ein Außenlager von Buchenwald, geschickt wurden. Cohen besucht zwei Überlebende in Florida, die in ihren Träumen immer noch in Berga sind. In Deutschland, glaubt Cohen, möchten viele einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. "Wenn sie auch nicht 'Genug' sagen, sie denken es. Schuld kann nicht vererbt werden wie ein Familienerbstück, auch wenn das Bewusstsein der Schuld ihrer Vorfahren nicht ausgelöscht werden kann. Sie beißen auf ihre Lippen, damit dieses Wort - 'Genug' - nicht ausgesprochen wird, wohlwissend dass, wenn sie ihr Kinn auch nur ein paar Zentimeter heben, jemand kommt und es wieder herunterdrücken wird. Aber ist es nicht verständlich, diesen Schlußstrich (deutsch im englischen Original) zu verlangen, wo die Nazitäter tot sind oder es bald sein werden? Es ist verständlich. Aber die Erinnerung ist nicht linear und Vernunft hat hier wenig zu sagen."

Deborah Solomon besucht Jonathan Safran Foer, dessen zweiter Roman "Extremely Loud and Incredibly Close" nach dem gefeierten "Alles ist erleuchtet" demnächst erscheint. Foer ist gerade 28 Jahre alt geworden. "Sein Büro besteht aus einem kleinen gemieteten Raum, der von seinem Zuhause aus zu Fuß zu erreichen ist. Das Zimmer ist spärlich eingerichtet, mit wenig mehr als einem langen Arbeitstisch, ein paar Bücherregalen von Ikea und einem überdimensionierten Hundebett, bestimmt für eine weibliche Kreatur namens George, offensichtlich eine Art Deutsche Dogge. Ein seltsames Objekt - die Bügelsäge eines Schreiners - hängt an einer ansonsten leeren Wand über dem Schreibtisch. ('Man weiß nie, wann man einen schlechten Tag hat', erklärt Foer). der Tür gegenüber befindet sich eine reizende Tuschezeichnung aus den 40ern, ein echtes Selbstporträt von Isaac Bashevis Singer, dessen Augen unter seinem ausgeprägten Schädel hervorblitzen. 'Sie sollten daraus nicht zu viel ableiten', meint Foer zu mir, nicht sehr überzeugend."

Außerdem spricht Solomon mit dem Brit-Art-Künstler Damien Hirst, der seinen neuen Hang zur Malerei erklärt. Allein wegen des ersten Bildes, ein in Zigarettenrauch eingehüllter Clint Eastwood, lohnt sich die Porträtserie der Lieblingsschauspieler der Redaktion.
Archiv: New York Times