Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.04.2005. In der New York Review of Books hoffen Timothy Garton Ash und Timothy Snyder auf eine neue Welle der Befreiung Europas als Folge der ukrainischen Revolution. In Magyar Narancs erinnert Endre Bojtar daran, dass die Balten nicht seit 1945, sondern erst seit 1991 frei sind. Im New Yorker erinnert sich Jonathan Franzen an einen Familienurlaub 1969. Der Figaro feiert die Anti-Modernen als die einzig wahren Modernen. Nepszabadsag porträtiert den Komponisten der Selbstmörderhymne "Gloomy Sunday". Im Espresso fürchtet sich der Philosoph Umberto Galimberti vor den Papa-Boys. Das TLS sieht zu viele Brüste in Mo Yans neuem Roman.

New York Review of Books (USA), 28.04.2005

Hoffnung auf einen neuen Libanon hat der Economist-Korrespondent Max Rodenbeck bei der großen Demonstration Anfang März geschöpft. "Ein Viertel der Bevölkerung des Landes war dort, und das vorherrschende Gefühl war eindeutig und greifbar, trotz der Vielfalt der anwesenden politischen Parteien (was im Libanon bedeutet: Menschen, die sich zuvor umzubringen pflegten). Ein offensichtliches Gefühl war ein neuentdeckter Stolz darauf, libanesisch zu sein, und eine noch neuere Begeisterung darüber, die Macht zu haben, diesen Stolz zu zeigen. Ein anderes Gefühl bestand in der tiefen Hoffnung, dass die Zukunft eine Befreiung von den besonderen Bürden des Landes versprechen könnte: von der paranoiden Zersplitterung der religiösen Gruppen, von Unglück, Verzweiflung und Zynismus der Bevölkerung, von der Gefangenschaft des Landes im arabisch-israelischen Konflikt. In anderen Worten: Es war, zumindest für viele Libanesen, die Hoffnung, sich der Gemeinschaft der friedlichen Nationen anzuschließen und eine säkulare, offene Gesellschaft zu genießen, Demokratie und die Herrschaft des Gesetzes."

Die Historiker Timothy Garton Ash und Timothy Snyder blicken gewohnt kenntnisreich auf die orange Revolution der Ukraine zurück und hoffen auf ihre Fortsetzung: "Nach seiner Wahl traf sich Viktor Juschtschenko in den karpatischen Bergen mit Michail Saakaschwili, der nach der Rosen-Revolution im Januar des Vorjahres Präsident von Georgien wurde. Die beiden gaben eine Karpaten-Erklärung ab, in der sie die Veränderungen in ihrem Land als den Beginn 'einer neuen Welle der Befreiung Europas' begrüßten, 'die zu dem endgültigen Sieg von Freiheit und Demokratie auf dem europäischen Kontinent' führen würde. Präsident Saakaschwili machte klar, dass diese dritte und letzte Welle der europäischen Befreiung die gesamte post-sowjetische Region umfassen sollte. Wunschdenken? Vielleicht. Doch einige Konservative in Moskau scheinen dem zuzustimmen. Während der ukrainischen Ereignisse schrieb die Rossijskaja Gazeta, ein Kreml-nahes Magazin: 'Russland kann sich eine Niederlage in der Schlacht um die Ukraine nicht leisten. Unter anderem würde eine solche Niederlage lauter samtene Revolutionen in den nächsten Jahren bedeuten, die jetzt der Kiewer Variante folgen - in Weißrussland, Moldawien, Kasachstan, Kirgisien und vielleicht Armenien.'"

In weiteren Artikeln betrachtet Helen Epstein die Rolle evangelikaler Kirchen bei der Bekämpfung von Aids in Afrika. Sue M. Halpern entnimmt neuerer heuristischer Literatur von Malcolm Gladwell ("Blink") und Elkhonon Goldberg ("The Wisdom Paradox"), dass spontane Entscheidungen meist genauso gut sind wie wohlüberlegte", dabei aber Zeit sparen.

Magyar Narancs (Ungarn), 07.04.2005

Der ungarische Literaturwissenschaftler und renommierte Baltikum-Experte Endre Bojtar kann gut verstehen, warum die Ministerpräsidenten der baltischen Staaten nicht bereit sind, am 9. Mai den sechzigsten Jahrestag ihrer "Befreiung" in Moskau zu feiern. Das Baltikum wurde von der Roten Armee nämlich nie befreit, im Gegenteil: Im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 wurde die Aufteilung Osteuropas in deutsche und sowjetische Einflusszonen vereinbart, worauf die Sowjetunion bereits im Juni 1940 - während die Wehrmacht in Paris einmarschierte - das Baltikum besetzte. "Wahl-Tragikomödien wurden mit sowjetischen Bajonetten im Hintergrund inszeniert, die Freiheitsrechte vernichtet, alles verstaatlicht und dem Terror freien Lauf gelassen", schreibt Bojtar. Die offizielle russische Geschichtsschreibung bestehe jedoch weiterhin auf den alten Geschichtslügen, und tue so, als ob nur die eigene Bevölkerung unter dem stalinistischen Terror gelitten hätte. In der neuen siebenbändigen Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften steht beispielsweise: "1940 bildeten sich in Lettland, Litauen und Estland prosowjetische Regierungen mit Antifaschisten an ihrer Spitze." Bojtar macht dazu nur eine lapidare Bemerkung: "Die Kommunistische Partei Estlands hatte damals 133 Mitglieder."

Grüße aus der Festung Europa! Viktoria Dobsi bespricht "Bienvenue en France!", ein Buch der französischen Journalistin Anne de Loisy, die als freiwillige Helferin getarnt die Situation der Asylbewerber auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle sechs Monate lang beobachtete. Sie sah die Welt der "ZAPI" (Zone d' attente pour personnes en instance), in der Ausländer untergebracht werden, deren Einreise noch nicht genehmigt ist. Über ihr Schicksal wird nach Regeln entschieden, die ein Beamter der französischen Ausländerbehörde so zusammenfasst: "Anträge von Bürgern aus Pakistan und Bangladesh sind problematisch, ihre Geschichten sind alle glaubwürdig. Anträge von Menschen aus Ruanda werden meistens genehmigt, eine Ablehnung wäre in ihrem Fall wirklich übertrieben. Anträge von Irakern lehnen wir meistens ab: im Irak ist nämlich niemand mehr in Sicherheit." Ein Asylbewerber erinnert sich an sein Verhör so: "Ich sagte, dass ich nicht zurückgehen will, worauf die Polizisten total durchdrehten. Sie schlugen auf mich ein, und schlugen und schlugen mit einer solchen Kraft, dass ich mich auf meinen Tod vorbereitete. Mein einziger Gedanke war: Wenn ich schon sterben muss, dann will ich im Geburtsland der Menschenrechte sterben."
Archiv: Magyar Narancs

Elet es Irodalom (Ungarn), 08.04.2005

Der berühmte Vrba-Wetzler-Bericht wurde zum ersten Mal in ungarischer Übersetzung veröffentlicht. Er stammt von Rudolf Vrba und Alfred Wetzler, denen es am 7. April 1944 gelang, aus Auschwitz zu fliehen. Unmittelbar nach der Flucht schrieben sie ihre Erinnerungen nieder, um potenzielle Opfer und die Öffentlichkeit der Welt zu warnen. Vergeblich, niemand glaubte ihnen. Lag das vielleicht an ihrem protokollähnlichen Ton? "Dieser Text lehnt sich auf gegen die Apotheose des Leidens, gegen das teleologische Lob der Opfer", schreibt in seiner Rezension der Historiker Attila Novak. "Ihre minuziöse Beschreibung des Todes, ihre Darstellung des historischen Kontextes hätte es uns ermöglicht, die Tötungsmaschinerie des Holocausts klar zu sehen. Der Bericht wurde mit dieser Absicht geschrieben, aber er konnte 'die Welt' doch nicht wachschütteln. Wenigstens wir, verspätete Leser, können jetzt über die traurige Vollständigkeit unserer Perspektive nachdenken."

Laszlo Majtenyi, Leiter des Forschungsinstituts Karoly Eötvös plädiert im Interview für mehr elektronische Informationsfreiheit, zum Beispiel für die freie Zugänglichkeit aller Gesetzesentwürfe im Internet. "Vor fünf bis zehn Jahren betrachtete ich nicht den Staat, den Großen Bruder, sondern die 'Kleinen Brüder', die Machthaber des Marktes als die eigentliche Bedrohung der Freiheitsrechte. Nach dem Terroranschlag gegen das World Trade Center ist jedoch die Kontrolle des Staates über die Bürger in der westlichen Welt enorm gewachsen... In diesem Kontext bekommt die elektronische Informationsfreiheit als moderne Form der Freiheit plötzlich eine große Bedeutung ... Wenn die Bürger ihre Undurchsichtigkeit nicht bewahren können, dann sollen sie wenigstens versuchen, eine Gegenkontrolle der staatlichen Überwachung entgegenzusetzen, einen jeden Schritt des Staates kritisch zu beobachten."

Außerdem erinnert das ES-Magazin - wie auch alle anderen ungarischen Feuilletons - in bewegenden langen Artikeln an den hundertsten Geburtstag des Dichters Attila Jozsef.

New Yorker (USA), 18.04.2005

Der New Yorker hat in dieser Woche einen Reiseschwerpunkt. Im Aufmacher porträtiert Tad Friend den britischen Reiseführer-Autor und -Verleger Tony Wheeler. Seine Buch-Reihe Lonely Planet umfasst inzwischen 116 Länder und 650 Titel, von denen jährlich mehr als sechs Millionen Exemplare verkauft werden, und ist damit der größte Reisebuchverlag der Welt. "In Ländern wie Indien ist Lonely Planet die Bibel", zitiert Friend Mark Ellingham, den Gründer von Rough Guides. "Wenn darin das Resthouse Bangalore empfohlen wird, dann nennt sich die Hälfte aller anderen Pensionen in Resthouse Bangalore um." Die Autorität, welche die Reihe genießt, werde auch daran deutlich, dass etwa "Jay Garner, der erste amerikanische Leiter im besetzten Irak, den Band 'Lonely Planet Iraq' benutzte, um eine Liste aller historischen Monumente zu erstellen, die nicht bombardiert oder geplündert werden durften."

Außerdem erinnern sich Schriftsteller an Familienurlaube. Jonathan Franzen erzählt von einem Autoausflug, Nicole Krauss von ihrem Sommer in Polen, Mary Gordon berichtet von einer Pilgerfahrt und Jane Smileys von von Ferien mit einer Kaltfront. Zu lesen ist weiter die Erzählung "The Orlov-Sokolovs" von Ludmilla Ulitskaya. Und anlässlich des Todes von Saul Bellow bringt der New Yorker seine Erzählung "A Silver Dish" sowie einen Essay über Bellow von Philip Roth aus dem Jahr 2000.

Besprechungen: Joan Acocella stellt die Erinnerungen der britische Gerichtsreporterin und Romanautorin Sybille Bedford vor, die auch viel reiste ("Quicksands", Counterpoint). Steven Shapin rezensiert Neuerscheinungen über Doping im Sport. Und David Denby sah im Kino "Fever Pitch", eine Verfilmung von Nick Hornbys Erinnerungen durch die Farrelly Brothers, und "Kontroll", den Debütfilm des ungarnstämmigen Regisseurs Nimrod Antal: "Dieser pulsierende Film lässt einen Mitternachts-Klassiker wie die 'Rocky Horror Picture Show' zahm aussehen. Es muss eine Menge smarter Leute in Amerika geben, die bereit sind für eine jugendliche Explosion von Talent und Temperament. Dies ist ihr Film."

Nur in der Printausgabe: eine Reportage über eine Tour zu einem isolierten Volksstamm in Guinea, ein Bericht über gefährliches Skilaufen abseits der Pisten, Porträts des Fotografen Sebastiao Salgado (hier Bilder seiner Antarktisreise) und des Transportunternehmens UPS sowie Lyrik von Seamus Heaney, Franz Wright und Dana Goodyear.
Archiv: New Yorker

Nouvel Observateur (Frankreich), 07.04.2005

Als "absolute Notwendigkeit" lobt der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo (mehr) "Le Rideau" (Gallimard) von Milan Kundera (mehr). In diesem "meisterhaften, hellsichtigen Essay" zeige Kundera, dass die großen Werke der Literatur "niemals innerhalb nationaler Grenzen eingesperrt werden" könnten und der Schriftsteller über "größere Klarheit" verfüge als der Historiker. "Kunderas Gedanken zum historischen Roman und seiner schlimmsten Variante - jener, die sich in den Dienst patriotischer Werte stellt und 'das Wesen' eines Volkes herauskristallisiert - sollten alle Autoren nationaler Literatur lesen, die ihren Wertmaßstab aus mehr oder weniger großer Treue gegenüber diesem 'Wesen' beschränken. 'Der Schriftsteller ist nicht Diener der Historiker', erklärt uns Kundera. Anders gesagt: Er verteidigt nichts, sondern er analysiert, interpretiert, fragt nach und widerspricht einfach. 'Der brave Soldat Schweijk' etwa, geschrieben aus dem Blickwinkel eines Narren, entlarvt die blutige Absurdität des Ersten Weltkrieges tausendmal besser, als jene Schriftsteller, die ihn in ein episches Genre überführt haben."

Weiteres: Der israelische Sach-und Kinderbuchautor David Grossman schreibt anlässlich des Erscheinens seines Novellenbandes "Das Gedächtnis der Haut" über die Konflikte mit seinen palästinensischen Freunden, Eifersucht, Bush, die Bibel und Sharon ("Sharon ist eine Romanfigur"). In einem Appell führt der italienischen Sozialistenchefs Massimo D?Alema den Franzosen die "immense Bedeutung" ihres Referendums zur europäischen Verfassung vor Augen.

Ein Interview stellt schließlich den Journalisten Serge Bile und seinen Dokumentarfilm "Noirs dans les camps nazis" über das bisher eher unbeachtet gebliebene Kapitel von Schwarzen in deutschen Konzentrationslagern vor. Er war durch eine Biografie des Sängers John William auf das Thema gestoßen und berichtet über die Schwierigkeiten bei der Recherche; zum Thema liegt außerdem bereits eine gleichnamige Publikation vor (Le Serpent a Plumes; die Rezension lesen Sie hier).

Figaro (Frankreich), 07.04.2005

Die Studie "Les Antimodernes de Joseph de Maistre a Roland Barthes" (Gallimard) des französischen Literaturwissenschaftlers Antoine Compagnon wird eine alte Debatte wieder aufleben lassen, prophezeit ihr Rezensent im Figaro litteraire. Denn Compagnon vertritt darin die These, dass die "einzig wahren Modernen stets die Anti-Modernen, die Kritiker der Moderne" gewesen seien. "Für Compagnon gilt als antimodern, wer seine unüberwindbare Differenz mit einer Epoche auf sich nimmt, in der er sich geistig fremd fühlt. Galt das nicht auch für Barthes? Die Literatur stirbt, hat jener versichert, nachdem der dem Marxismus und dem Strukturalismus gehuldigt hatte und in einem seiner Seminare am College de France vertreten hatte, dass Sprache 'faschistisch' sei! Aber reicht diese Angst vor dem Tod der Literatur, um aus Barthes einen Anti-Modernen zu machen? Die These hat etwas, um die fanatischen Anhänger von 'Tel Quel' erbleichen zu lassen, an deren Arroganz man sich im Allgemeinen oft eher erinnert als an deren Werke. Wie auch immer: Compagnons Buch verdient, dass man darüber diskutiert."
Archiv: Figaro

Outlook India (Indien), 18.04.2005

Eine Filmveröffentlichung wird zum Fall für die Gerichte, berichtet Namrati Joshi: "Vergangene Woche erhielt einer der der talentiertesten jungen Filmemacher Bollywoods, Anurag Kashyap, einen neuen Beinamen: verhext. 2001 wurde sein Debütfilm 'Paanch', ein schockierendes Porträt der hässlichen Seiten der großstädtischen Jugend, wegen seiner drastischen Gewaltszenen, seiner anstößigen Sprache und seiner Darstellung von Drogenmissbrauch von den Zensoren auf den Index gesetzt (mehr). Jetzt steht sein zweiter Film 'Black Friday', eine kompromisslose Rekonstruktion des Bombenanschlags vom 12. März 1993 in Bombay, vor dem Aus - trotz eines positiven Bescheids vom Zensor. (...) 'Black Friday' bewegt sich auf schwierigem Terrain, im Zentrum der Konfrontation zweier delikater Angelegenheiten - einerseits der kreativen Autonomie eines Filmemachers, andererseits der juristischen Rechte der Angeklagten." Deren Anwälte nämlich haben durchgesetzt, den Filmstart aufzuschieben, bis der Prozess gegen die Angeklagten beendet ist. Dagegen klagen nun wiederum die Produzenten des Films.

Edward Luce ist hocherfreut über die Auswahl, die Pankaj Mishra für seine Anthologie "India in Mind" - Texte ausländischer Autoren über Indien - getroffen hat: Luce hatte keine Ahnung, dass nicht nur Naipaul, Kipling und Orwell, sondern auch Paul Bowles, Claude Levi-Strauss oder Andre Malraux den Subkontinent bereist und beschrieben haben. Und Smita Mitra war auf Indiens wachsendem "Makeover-Basar" unterwegs - der boomenden Industrie der kosmetischen Selbsterfindung vom Komplett-Styling bis zur Schönheitsoperation. Doch was sind die Folgen für den indischen Schönheitsbegriff?
Archiv: Outlook India

Nepszabadsag (Ungarn), 06.04.2005

Berühmt-berüchtigtes Klavier preiswert zu ergattern! Es gehörte dem legendären Pianisten Rezsö Seress, der 1933 "Gloomy Sunday", die Hymne der Selbstmörder komponierte - erinnert der Kolumnist der größten ungarischen Tageszeitung: "Es begann mit einer gewissen Eszter Kiss, die sich mit Laugenlösung vergiftete. Neben ihrer Leiche fand man die Noten von 'Gloomy Sunday'. Danach löste das Lied eine Selbstmordwelle aus, bald wurde es weltweit bekannt, sein Text wurde in mehr als 100 Sprachen übersetzt." Trotz seines Welterfolges hat der von Melancholie geplagte Komponist den VII. Bezirk von Budapest nie verlassen, er "hielt sich sein ganzes Leben lang vor seinem Schicksal hinter dem Klavier versteckt" - sagt seine Frau. 1968 beging auch der Komponist Selbstmord. Das Klavier, Ursprung allen Übels, steht nach mehreren Besitzerwechseln immer noch intakt in der gleichen Budapester Wohnung - als ob nichts passiert wäre.

Weiteres: Ein Plädoyer gegen die Einschränkung der Freizügigkeit ungarischer Arbeitnehmer in die EU15 des Publizisten Balazs Pocs (das wichtigste Argument: selbst in den beliebtesten Ländern, Deutschland und Österreich, arbeiten nur ca. 17.000 Ungarn). Und eine Reportage über die große Resonanz einer Budapester Bürgerinitiative, in deren Rahmen ein jeder sich selbst bei der Polizei wegen Drogenmissbrauchs anzeigen kann, um gegen das Marihuana-Verbot zu protestieren.
Archiv: Nepszabadsag

Economist (UK), 08.04.2005

Der Economist scheint - zumindest in der Online-Ausgabe - vorerst nur noch ein Thema zu kennen: die für den 5. Mai angesetzten britischen Parlamentswahlen. Im Dossier erklärt der von früheren Wahlkämpfen gelangweilte Economist voller Vorfreude, warum dieser Wahlkampf überraschend interessant werden könnte. Dazu gehöre zum einen das Erstarken der Liberal Democrats zu einer ernst zu nehmenden dritten Kraft im politischen Spektrum. Zum anderen sei da die Ernüchterung über den Irak-Krieg und Tony Blair. Spannend, so der Economist, könnte der Wahlkampf jedoch vor allem werden, weil er völlig offen sei: "Eigentlich ist Großbritannien ein gemütliches Plätzchen. Es gibt kein großes Thema, das die Nation beschäftigen würde, wie dies bei der Inflation und der Arbeitslosigkeit in den Siebziger und Achtziger Jahren der Fall war. Das macht die Dinge beweglich. Ein Thema könnte unerwartet Feuer fangen und die sorgfältig ausgearbeiteten Wahlkampfpläne könnten in Flammen aufgehen."

Wer steht zur Wahl? Der Economist lässt die Kandidaten von Labour, Tories und Liberal Democrats Revue passieren, mit der kleinen Besonderheit, dass auch der derzeitige Schatzmeister Gordon Brown Erwähnung findet, da dieser Tony Blair im Laufe der nächsten Amtszeit ablösen könnte, was die Wahlentscheidung zugunsten der Labour-Partei eher noch verzwickter mache.

Außerdem zu lesen: Ob Brüssel ein Nest der Korruption ist, wie sich die weltpolitische Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa von der transatlantischen Verkühlung erholt, warum der neue Verlauf des israelischen Sicherheitswalls nicht besser ist als der seines Vorgängers (weil es noch zahllose Enklaven gibt, wie etwa das Dorf Nu'aman, deren Bewohner voller Galgenhumor an die Gründung des unabhängigen Staates Nu'amanistan denken), und wie die Zukunft des ländlichen Chinas aussehen könnte (man kann sie schon besichtigen, im Vorzeigedorf Beihe in der Provinz Schandong), und warum es schön ist, dass Prinz Charles und Camilla Parker-Bowles endlich heiraten konnte.

Einen "Koloss der katholischen Kirche" nennt der Economist Papst Johannes Paul II. in seinem Nachruf. Der Zukunft der katholischen Kirche ist auch der Aufmacher gewidmet, der jedoch den zahlenden Lesern vorbehalten ist.
Archiv: Economist

Espresso (Italien), 14.04.2005

Wer direkt aus Rom mehr über die Schlacht im Konklave erfahren will, dem sei die Titelgeschichte des Espresso-Sonderbeauftragten für Vatikanfragen Sandro Magister empfohlen. Und es kommt, ungewöhnlich in diesen Tagen, aber vielleicht nicht ungewöhnlich für den Espresso, ein Kritiker des Papstes und der katholischen Religion im Allgemeinen zu Wort. Dem Philosophen Umberto Galimberti ist der Aufruhr der vergangenen Tage im Interview mit Enrico Arosio ein wenig unheimlich: "Ich habe immer gewusst, dass Italien im Wesentlichen der Vatikan ist, dass die grundlegende Struktur, die Psychologie des Italieners eine religiöse ist. Deshalb sind wir nicht wirklich Demokraten, uns gefallen die Faschismen, die Figuren die sie repräsentieren. Unsere anthropologische Matrix ist durch und durch religiös. Aber es ist eine kindliche, projizierende, mythische Religiosität. Man braucht den großen Mann, die große Persönlichkeit um sich rühren zu lassen. Ich sehe einige Ähnlichkeiten zwischen dem massenhaften Erscheinen auf einem Konzert mit Vasco Rossi und den Versammlungen auf dem Petersplatz mit den Papa-Boys."

Weitere Artikel: Zu Umberto Ecos Jugendzeiten musste man sich entscheiden, ob man für Emilio Salgari (mehr) oder sein franzöisches Pendant Jules Verne (hier eine umfangreiche Seite mit Originaltexten in mehreren Sprachen) war. Eco war patriotischer Salgari-Fan, wechselte dann aber die Fronten und beschreibt in einem unendlichen Satz, von dem hier nur die Hälfte zitiert wird, was ihn an den Verneschen Abenteuer heute vor allem fasziniert: die Illustrationen. "Es sind Bilder, die immer vor einem dunklen Hintergrund ins Licht treten, liniert mit dünnen schwarzen Strichen, die von weißlichen Schnitten unterbrochen werden, eine Welt bar jeder chromatischen Zonen, eine Vision aus Schraffuren, Strichelungen, blendenden Reflexionen, eine Welt, gesehen von einem Tier mit seiner ganz eigenen Netzhaut, vielleicht sehen so die Ochsen und die Hunde, oder die Eidechsen, eine nächtliche Welt, betrachtet durch eine Jalousie mit feinsten Lamellen, ein immer dunkles und quasi untergetauchtes Territorium - selbst unter klarem Himmel - aus Körnern und Radierungen, die Licht nur da zulassen, wo das Instrument des Kupferstechers die Oberfläche abgetragen hat."
Archiv: Espresso

Times Literary Supplement (UK), 08.04.2005

Unter kundiger Führung von Jon Fjeldsa taucht Peter Stothard in die skurrile Welt der Taucher ein, eine von der Forschung aus nicht nachvollziehbaren Gründen bisher stiefmütterlich behandelte Familie von Wasservögeln. Der große Haubentaucher (so sieht er aus und so hört er sich an) wurde schon von Evelyn Waugh zum Patron der Journalisten gekürt. Zu seinen unappetitlicheren Gewohnheiten zählt auch, Federn vom eigenen oder den Rücken seiner Gefährten zu fressen. Damit nicht genug. "Die drehbaren Zehen unterscheiden sich völlig von denen anderer Wasservögel und sind 'wahrscheinlich sehr viel effektiver', erklärt der dänische Professor für Biodiversität Jon Fjeldsa. Die 22 Arten von Tauchern haben auch mehr Federn als die meisten anderen Vögel (20.000 bei den Großen Haubentauchern) und können deshalb auch einige für ihre einzigartigen Essgewohnheiten entbehren. Nur vier der 8.178 Federn, die in einer Studie untersucht wurden, stammen von anderen Spezies ab. Die Lebensart der Taucher zieht mehr Parasiten an als die jedes anderen Vogels, was erklären mag, warum er diese rachenscheuernden Federn eigentlich frisst."

Julia Lovell kann Mo Yans neuem Roman "Big Breasts and Wide Hips" so überhaupt nichts abgewinnen, auch oder eben weil Brüste eine so tragende Rolle spielen, die eigentlich gewollte kritische Revision der kommunistischen Geschichte Chinas aber zu kurz kommt. Anscheinend steckt die ganze kreative Energie des bisher gefeierten Schriftstellers in der Umschreibung des Leitmotivs. "Manche sind einfach groß, manche 'hoch', 'ragend', 'keck', 'delikat, lieblich, kess', dann wieder unwahrscheinlich mobil, 'mit leicht nach oben gewandten Nippeln, so flink wie das Maul eines Igels'. Ein Ensemble wird als Paar 'glücklicher weißer Tauben' beschrieben, andere sind 'wie Opiumblumen oder Schmetterlingstäler'; eines erinnert schließlich an 'ein kleines rotäugiges Kaninchen'."

Weitere Besprechungen: "Charmanterweise", meint Tim Hames zu Roy Douglas' Geschichte der liberalen Parteien in England, ist dieses Buch "sowohl ein sehr liberales als auch ein recht konservatives Werk". Douglas biete aus der Perspektive der liberalen Partei (hier der aktuelle Vertreter) heraus eine "ziemlich überzeugende Einschätzung der Grundzüge der politischen Entwicklung in England der vergangenen 150 Jahre. Michael Podro bespricht den Katalog zur Ausstellung der Londoner Bilder des Malers John Virtue in der National Gallery. Leider nur im Print (Inhaltsverzeichnis) sind Rezensionen zu Mark Leonards Hymne auf Europa als führender Kontinent der Zukunft oder Strobe Talbotts Studie über das strategische Gewicht Indiens zu lesen.
Stichwörter: England, Waugh, Evelyn, Parasite

Gazeta Wyborcza (Polen), 09.04.2005

Der Tod Papst Johannes Paul II. dominiert weiterhin die Seiten der polnischen Magazine. In der Wochenendausgabe der Gazeta Wyborcza konstatiert zum Beispiel der polnische Bischof Tadeusz Pieronek, dass die katholische Kirche in Polen nach Karol Wojtyla nicht nur verwaist, sondern auch etwas orientierungslos ist. Sie habe sich zu sehr darauf verlassen, so Pieronek im Interview, dass die Impulse und Lösungen aus Rom kommen - obwohl der damalige Kardinal Wojtyla schon mehrere Vorhaben im Geiste des II. Vatikanischen Konzils angeschoben hat. "In der Seelsorge dominieren in Polen weiterhin solche Ereignisse wie Mariennovene: mit einem hohen Maß an Devotion, mit wenig Laienbeteiligung und wenig intellektuellem Anspruch." Jetzt muss die polnische Kirche ihre Hausaufgaben machen und dabei kann ein neutraler Papst durchaus eine Hilfe sein, so der Bischof.

Unter der Überschrift "Johannes Paul, der Rebell" analysiert der Publizist Artur Domoslawski die Einstellung des Papstes gegenüber einigen Globalisierungsphänomenen, und unterstreicht, dass Johannes Paul II. dank seiner Kritik am modernen Kapitalismus und der Konsumkultur zu einem Helden der Linken und der Protestbewegungen geworden ist. "Der Papst hat viel Verwirrung in unseren Köpfen gestiftet. Zum Glück. Manche Liberale, die dem Wirtschaftsliberalismus mit nahezu religiöser Treue anhängen, akzeptieren diesen Teil der päpstlichen Botschaft nicht. 'Er hat den Kommunismus bezwungen', rufen sie, 'er hat den freien Markt unterstützt!', polemisieren diese Liberalen. Als ob man nicht gegen den Kommunismus und für den Markt sein kann, und trotzdem den Egoismus der Reichen und die vom zeitgenössischen Kapitalismus erzeugten Plagen anprangern kann."
Archiv: Gazeta Wyborcza

New York Times (USA), 10.04.2005

"Jeder Abenteurer ist ein geborener Mythomane." Diese Feststellung aus Andre Malraux' "La Voie Royale'' liest Christopher Hitchens nach der Lektüre von Oliver Todds überzeugender Malraux-Biografie (erstes Kapitel) als Selbstbekenntnis eines genialen Selbstvermarkters und brillanten Wendehalses (hier die andere Seite, von den "Freunden Malraux"). Todd erzählt unter anderem, wie Malraux noch 1944 allen Versuchen der Resistance auswich, ihn für den Widerstand zu gewinnen. "Als er die Lage kippen sah, trat er kurz vor der alliierten Landung in der Normandie ein. Sein Held Napoleon fragte bei jedem neuen General 'Hat er Glück?'. Malraux hatte teuflisches Glück. Er machte einige nützliche Bekanntschaften innerhalb des britischen Geheimdienstes und schaffte es kurzzeitig, in der Belagerung von Straßburg eine gute Figur zu machen." Der Nachruf von 1976 zeigt, wie erfolgreich Malraux mit seiner Methode war.

Weitere Besprechungen: Die Privatsphäre gibt es nicht mehr, weiß William Safire aus "No Place to Hide" (erstes Kapitel) von Robert O'Harrow Jr. und "Chatter" (erstes Kapitel) von Patrick Radden Keefe, die die ungenierte Zusammenarbeit von privaten Unternehmen und Regierungsorganisationen zwecks Erfassung mannigfaltiger Daten über jeden Bürger schildern. Und David Kamp genießt die vergnüglichen Erinnerungen der Gourmetkritikerin Ruth Reichl an die kulinarischen Boomjahre der Neunziger. Hier das erste Kapitel von "Garlic and Sapphires". Hier der erste Gang.

Im New York Times Magazine hält Deborah Solomon einen kurzen Plausch mit dem Schriftsteller Ha Jin, der glaubt, die politische Einflusslosigkeit seiner Kollegen in den USA liegt an ihrer Lehrtätigkeit in Kursen für "creative writing": "Sie treffen sich einfach nicht." Jon Gertner berichtet in der Titelgeschichte von einem Feldversuch, den Medien und Werber herbeisehnen wie fürchten. Durch unschuldig aussehende People Meter soll endlich herausgefunden werden, was Werbung wirklich bringt. Jamie Shreeve diskutiert den wissenschaftlichen Sinn und die ethische Vertretbarkeit der Chimären, die Forscher demnächst durch die Injektion von menschlichen Stammzellen in Tiere erschaffen wollen. Und Linda Greenhouse entlarvt den Schriftsteller Justice Harry Blackmun mit Hilfe jetzt veröffentlichter Tagebuchnotizen als doch nicht immer aufrechten Verfechter von Frauenrechten.
Archiv: New York Times