Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
26.04.2005. Die New York Review of Books beschreibt, wie die amerikanischen Konservativen die liberalen Intellektuellen zum wahren Klassenfeind stilisieren konnten. Für den New Yorker bedeutet die Wahl Joseph Ratzingers zum Papst das totale Aus für die Öffnung der Römischen Kirche, der Espresso hält ihn gar für einen Neocon der katholischen Kirche. In Le Point erklärt sich Pierre Nora zum Dinosaurier. Al Ahram interviewt den arabischen Übersetzer von Elfriede Jelinek. Im Guardian erklärt Tariq Ali die Vorzüge der Zensur für die Kunst. Der Spectator empfiehlt den Franzosen Nein zur europäischen Verfassung zu sagen. In Magyar Naranc fordert der Ethologe Vilmos Csanyi ein Planetenmanagement. Die New York Times freut sich über die erfolgreichen Book on Demand-Verlage.

New York Review of Books (USA), 12.05.2005

Thomas Frank beschreibt, wie es die amerikanischen Konservativen geschafft haben, die liberalen Intellektuellen zum wahren Klassenfeind zu stilisieren. "Hier der bescheidene, duldsame Durchschnittsamerikaner, der hart arbeitet und seine Steuern zahlt, dort die elitären Liberalen, die Alleswisser von Manhattan und Malibu, die an ihrem Caffe Latte nippen, während sie dank ihrer College-Abschlüsse und mithilfe ihrer Freunde in der Justiz über das Landvolk herrschen. Konservative betrachten 'Klasse' meist als inakzeptablen Begriff, wenn es um Wirtschaft geht - Handel, Deregulierung, Verteilung der Steuerlast, hingebungsvolle Ehrfurcht vor dem Mikrochip, etcetera. Aber sobald Politik als Kultur gedeutet wird, wird Klasse für sie sofort zum Herzstück des öffentlichen Diskurses. Tatsächlich wurde der klassenbasierte Rückschlag gegen die vermeintliche Arroganz des Liberalismus zu ihrer schärfsten Waffe. Proletarisch in seiner Rhetorik, royalistisch in seinen ökonomischen Auswirkungen, geht dieser Backlash ungehindert von seinen inneren Widersprüchen vonstatten."

Thomas Powers erklärt, wie die amerikanischen Geheimdienste ihre Technik verfeinern, das weltweite "Geschwätz" auszuwerten. Hilary Mantel nimmt dankbar Helen Prejeans neue Buch über die Todesstrafe auf. Angesichts einer großen Ausstellung zu Salvador Dali im Philadelphia Museum of Art rühmt Sanford Schwartz noch einmal die "Verrücktheit, Flamboyanz, Grandiosität und für die demoralisierende Art, in der er die Grenzen zwischen Kreativität und kommerzieller Selbstvermarktung aufgehoben" hat. Besprochen werden gleich mehrere Studien, die die fortpflanzungstechnische Bedeutung des Y-Chromosom in Frage stellen, und ein Buch zu College-Sport.

Outlook India (Indien), 02.05.2005

"50 Jahre nach dem Abzug der Briten ist Englisch in aller Stille zu einer indischen Sprache geworden. David Dalby, der in 'Linguasphere' diese Entwicklung bezifferte, sagt voraus, dass Indien im Jahr 2010 das Land mit dem meisten englischsprachigen Menschen sein wird." Gurcharan Das begrüßt diese Entwicklung und gibt ihr einen Namen: "Inglish" - die umgangssprachliche Verquickung von Englisch und Hindi. Im Unterschied zu anderen Sprachhybriden ist Inglish kein verachteter Bastard der Gosse, sondern die lingua franca der indischen Mittelschichten und Medien. Doch ob Englisch oder Inglish - Das plädiert - gegen "Mundartsstalinisten" und andere Traditionalisten - dafür, der sprachlichen Entwicklung keine politischen Steine in den Weg zu rollen, denn zum einen "weiß jede indische Mutter, dass Englisch der Ausweis ihres Kindes in die Zukunft ist", zum anderen erhofft sich Das noch einiges mehr: britisches Englisch, schreibt er, war die Weltsprache des späten 19. Jahrhunderts, amerikanisches Englisch die heutige - möglicherweise ist Inglish die des 21. Jahrhunderts?

 Und noch mehr Indisches für die Welt: Shobita Dhar registriert die internationale Präsenz indischer Mode. Die Kleider hängen schon mal in der Fifth Avenue. Notwendiger nächster Schritt: Erfolg und Einfluss - zumindest sind das die "globalen Träume" der lokalen Designer.

Die großen Stars des tamilischen Kinos, Rajnikanth and Kamalahaasan, sind 55 beziehungsweise 51 Jahre alt, und das Publikum kann nicht genug von ihnen kriegen, obwohl ihre Liebhaberinnen ihre Töchter sein könnten - eigentlich nicht unsympathisch, findet S. Anand, und auch nicht ungewöhnlich für einen Staat, "in dem der erste Anwärter auf den Posten des Ministerpräsidenten bei den Wahlen 2006 der 82-jährige M. Karunanidhi ist". Allerdings hat er seine Bedenken, ob das noch lange gut gehen kann.

Weitere Artikel: "Großstädtische Inder öffnen sich der Innenschau" - in der Titelgeschichte berichtet Soma Wadhwa von der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz der Psychotherapie. V. Sudarshan ist auf dem neuesten Stand, was die möglicherweise bahnbrechenden Annäherungen zwischen Indien und Pakistan im Streit um Kaschmir betrifft. Und nur im Netz: ein Gespräch von Nayan Chanda mit dem New York Times-Kolumnisten Thomas L. Friedman über sein neues Buch "The World is Flat".
Archiv: Outlook India

New Yorker (USA), 02.05.2005

Jane Kramer kommentiert Kardinal Ratzingers Wahl zum neuen Papst. "Was immer er über die 'Wogen' sagt, die gegen das Boot des wahren Glaubens schlügen - also Globalisierung, Feminismus, Individualismus, Begierde, Homosexualität ('objektiv eine Krankheit'), Forderungen nach Einsetzung von Frauen in kirchliche Ämter, Mystizismus, 'ernsthaft abweichende' Sekten, türkische Muslime im christlichen Europa - diese Worte bedeuten das totale Aus für die Öffnung der Römischen Kirche, die wir noch immer Vatikan II nennen."

Weiteres: Jerome Groopman untersucht, ob und inwiefern medizinische Simulatoren und Patientenmodelle die Ärzteausbildung verbessern können. Lauren Collins informiert über die jüngste Beschäftigung moderner Hollywood-Frauen: Romane schreiben. Christopher Buckley macht sich in einer Glosse über Bushs Sozialreform lustig ("Die Demokraten versuchen bloß, die Sache komplizierter klingen zu lassen, als sie ist"). Zu lesen ist außerdem ein Interview mit Elizabeth Kolbert über ihre dreiteilige Reportage über die globale Klimaveränderung (hier der erste Teil über die Antarktis) und die Erzählung "Where I?m likely to find" von Haruki Murakami.

Als "grünes Monster" und "Elf, der zwischen Menschen herumhüpft" kritisiert Paul Goldberger den neuen Luxusapartment-Tower von Charles Gwathmey am Astor Place (hier eine Ansicht). Judith Thurman rezensiert eine neue Biografie über Andre Malraux "Malraux: A Life" (Knopf), die Kurzbesprechungen waren bis Redaktionsschluss leider noch nicht aktualisiert. Alex Ross schwärmt von drei Konzerten des katalanischen Gambenspielers Jordi Savall im Metropolitan Museum. Und David Denby sah im Kino das Regiedebüt "Crash" von Paul Haggis, der unter anderem das Skript für "Million Dollar Baby" geschrieben hat.

Nur in der Printausgabe: ein Bericht über den Architekten Richard Meier, der versuche, "die Römer zu übertrumpfen", und Lyrik von Galway Kinnell und W.S. Merwin.
Archiv: New Yorker

Literaturen (Deutschland), 01.05.2005

Schwerpunkt dieser Ausgabe ist das Jahr 1945. Aber "nicht", wie es heißt, "im Zeichen des 'Untergangs' oder der 'Stunde Null', sondern als Schwelle". In diesem Sinne lobt Rene Aguigah zwei herausragende und verstörende Zeitgeschichts-Bücher für ihr historiografisches Temperament. Denn sowohl Götz Aly ("Hitlers Volksstaat") als auch Wolfgang Schivelbusch ("Entfernte Verwandschaft") gelinge es mit ihren Studien, nicht nur die Geschichte der Vergangenheit, sondern auch die der Gegenwart zu schreiben. "Beide stellen den Nationalsozialismus als ein modernes Projekt vor, dessen Elemente weder 1933 aus dem Nichts aufgetaucht noch 1945 auf ewig versunken sind. Der eine konfrontiert die soziale, der andere die liberale Demokratie mit ihrer totalitären Fratze. Und so irritieren sie beide die Vorstellung, die sich die Gegenwart von ihrer Vergangenheit macht. Was mehr kann man sich, in diesen Tagen der staatstragenden Geschichtspolitik, von Klio erhoffen?"

Weitere Artikel: Faulheit als Subversion - Dieses Credo wird jüngst von zwei Lifestyle Büchern - Corinne Maiers "Entdeckung der Faulheit" und Tom Hodgkinsons "Anleitung zum Müßiggang" - verbreitet. Die Zeit-Diagnose hat sich bei der Lektüre ganz gut amüsiert, muss aber letztendlich feststellen, dass hier keine Revolution propagiert wird, sondern nur eine an den Sesselfurzer gerichtete Anleitung zur Auflehnung. Im Sessel, wohlgemerkt. Anlässlich der österreichischen Erstaufführung von Elfriede Jelineks "Burgtheater" berichtet Armin Thurnher von den jüngsten Auswüchsen der österreichischen Verdrängungskultur (so zum Beispiel ein Balkon, der durchs Land getragen wird und von dem jeder "Österreich ist frei!" - die legendären Worte des Staatsvertrags-Außenministers Leopold Figl - rufen darf. Legendär, aber erfunden, weiß der Standard). Im Kriminal widmet sich Franz Schuh englischem Altpapier (Gwendoline Butlers Krimi "Murder Street. Ein Fall für John Coffin") und kann dessen überlebten Formulierungen sogar einen ganz eigenen Charme abgewinnen. Was liest Juli Zeh? Sie gibt sich dem süßen Erkenntnisschmerz in Gero von Randows "Ziegenproblem" hin.
Archiv: Literaturen

Prospect (UK), 01.05.2005

Geoff Mulgan, der auf sieben Jahre Regierungserfahrung in Downing Street zurückblicken kann, räumt entschieden auf mit dem Klischee der machtlosen Regierung. Auch angesichts Globalisierung und allgegenwärtiger EU-Richtlinien hätten Politiker durchaus Gestaltungsmöglichkeiten. "Wie jedes menschliche Unterfangen kann auch die Regierung von Fehlern, Fehlbarkeit und Hybris heimgesucht werden. Doch heutzutage lauert die größere Gefahr für eine Regierung nicht in übermäßiger Hybris, sondern eher darin, dass sie dem - oft von den skeptischen Medien verbreiteten - Mythos verfällt, sie sei machtlos und zu Misstrauen und Vergeblichkeit verdammt." Ausführlich zeigt Mulgan auf, über welchen Handlungsspielraum die Regierungen - vor allem langfristig - verfügen und kommt zu dem Schluss, dass "die Vorstellung, Regierungen hätten keine Macht mehr, eine Illusion ist - eine Illusion jedoch, die ein nützliches Alibi verschaffen kann".

Weitere Artikel: Julian Evans gratuliert nicht nur Cervantes' ikonischem "Don Quichotte" zum 400. Geburtstag, sondern auch Edith Grossman zu ihrer hervorragenden Neuübersetzung, in der die anrührende Logik des Wahns, die für den Quichotte so typisch sei, erstmals aufblühe. Margaret Drabble erfreut sich am weiten Begriff von Britishness, den das neue "Oxford Dictionary of National Biography" bereithält, und überschlägt sich gar vor Begeisterung über dessen labyrinthisch-blühende Online-Ausgabe. Anatole Kaletzky beobachtet den schwindenden Einfluss der Wirtschaft auf die britische Wählerentscheidung und macht den parteiübergreifenden und Stabilität bringenden Ansatz des Neo-Keynesianismus dafür verantwortlich. Ngaire Woods nimmt drei Neuerscheinungen (Sebastian Mallabys "The World's Banker", Jeffrey Sachs' "The End of Poverty" und Nicolas van de Walles "Overcoming Stagnation in Aid-Dependent Countries") zum Anlass, über den Sinn von Entwicklungshilfe nachzudenken. Und schließlich prüft Alex Renton, was dran ist an der landläufigen Gedankenassoziation von Thailand und Sex.
Archiv: Prospect

Espresso (Italien), 28.04.2005

"Ein Deutscher. Ein eiserner Theologe." Vatikan-Chefreporter Sandro Magister kann sich beim besten Willen nicht für Papst Benedikt XVI. erwärmen und verdächtigt ihn im Titel, in Anlehnung an die politische Denkschule der amerikanischen Regierungsmannschaft, ein Neocon der katholischen Kirche zu sein. "Im Jahr 1984, in einer Schrift gegen die radikalen Marxisten der Befreiungstheologie, attackierte er das kommunistische Imperium mit beißender Schärfe und beschimpfte es als 'Schande unserer Zeit' und als unwürdige 'Versklavung des Menschen'. Zur gleichen Zeit donnerte der amerikanische Präsident Ronald Reagan gegen das 'Reich des Bösen'."

Alles Wissen baut auf Geschichten auf, meint Umberto Eco in seiner Bustina. Nicht nur Historie oder Literatur, auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden durch Erzählungen vermittelt. Im Kulturteil sorgt sich Monia Capuani um den Zustand der japanischen Jugend. Denn die Nachwuchsprotagonisten der japanischen Literatur sind alle schreckliche, gepiercte, von Videospielen konditionierte Gören.
Archiv: Espresso

Point (Frankreich), 25.04.2005

Im Mai feiert die Zeitschrift Le Debat ihr 25-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass sprach Le Point mit dem Historiker und Chefredakteur von Debat Pierre Nora über die Bedeutung der Geisteswissenschaften und die heutige Rolle des Intellektuellen. Nora, auch Herausgeber des ambitionierten Projekts "Lieux de memoire" (mehr Informationen und Leseproben hier), sei einer der wenigen Intellektuellen, die fähig sind, "Generalist zu sein, ohne bei Allem und Jedem mitreden zu müssen". Nora ist überzeugt, dass seine Aufgabe darin bestehe, komplizierte Probleme klar und einfach darzustellen und zu zeigen, dass vermeintlich einfache Probleme viel komplexer sind, als man meine. Über die vielgeschmähten "Medien-Intellektuellen" sagt er: "Ich glaube, dass man sich von dieser Figur nicht hypnotisieren lassen sollte. Sie verdankt sich eher der Persönlichkeit von Bernard-Henri Levy, und der ist ein Sonderfall: 'schön, reich und intelligent'. Man findet für seine Tochter nicht immer eine so gute Partie. Für die Medien auch nicht." Gleichzeitig gesteht er: "Stimmt schon, dass ich oft den Eindruck habe, dass wir so etwas wie die letzten Dinosaurier sind. Das ist deprimierend und anregend zugleich: die vom Aussterben bedrohten Arten haben Seltenheitswert. Dann muss ich aber immer wieder denken, dass es immer ein paar geben wird, die die Staffel weitertragen. Jene 'paar', wie Gide gesagt hat, 'durch die die Welt gerettet wird'."

Nicht online lesen dürfen wir leider den Titel über le choc - die Wahl Joseph Ratzingers zum Papst.
Archiv: Point

Magyar Narancs (Ungarn), 21.04.2005

Vilmos Csanyi, Professor für Ethologie an der Budapester Universität denkt im Gespräch mit der ungarischen Wochenzeitung über die Spezies nach, die relativ zahm ist, und doch den ganzen Planeten gefährdet: "Der Mensch kann sich an die verschiedensten Lebensbedingungen anpassen, deshalb konnte er sich auf der ganzen Erde verbreiten ... Es ist aber fatal, wenn eine anpassungsfähige Art ihre Lebensbedingungen zerstört, weil sie eine Zeit lang auch unter diesen veränderten Bedingungen weiterleben kann ... Für ein Lebewesen, das am liebsten in Betonlöchern lebt und ständig Bildschirme anstarrt, ist es völlig belanglos, wie viel Platz es zum Wandern gäbe, wenn nur eine Milliarde Menschen die Erde bewohnen würden ... Wir sind an einer Grenze in unserer Evolution angekommen, nur noch wenige Sekunden, und wir sitzen alleine in der Wüste, umgeben von unseren Lieblingshaustieren, Zierpflanzen und zahlreichen Fernsehgeräten. Ein Planetmanagement muss dringend her, das die Grenzwerte der Übervölkerung bestimmen kann."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Evolution

Radar (Argentinien), 24.04.2005

"Anders als in Brasilien war die Kirche in Argentinien stets die Kirche der herrschenden Klassen. Und die argentinischen Großvermögen sind bis heute Beitragszahler erster Ordnung an den Vatikan." Der bekannte argentinische Journalist Horacio Verbitsky, dessen Buch "El Vuelo" vor zehn Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Einleitung der Aufarbeitung der während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen leistete (s. a. hier), spricht im Interview über sein soeben erschienenes Buch "El Silencio". Darin beschäftigt sich Verbitsky mit den engen Beziehungen hochrangiger Vertreter des katholischen Klerus zu den Militärs. Seinen Recherchen zufolge überließ etwa der damalige Sekretär des Militärvikariats Emilio Grasselli über einen Strohmann die auf einer Insel im Parana-Delta gelegene Ferienresidenz "El Silencio" des Kardinalerzbischofs von Buenos Aires den gefürchteten Spezialeinheiten der Marine, die den Ort als geheimes Gefangenenlager und Folterzentrum nutzten. Verbitsky geht in seinem Buch auch dem Einfluss nach, den die französische fundamentalistisch-katholische Organisation "Cite Catholique" seit Ende der fünfziger Jahre auf die Ideologie der argentinischen Militärs hatte (s. a. hier). Eine zentrale Rolle spielten dabei laut Verbitsky die von Vordenkern dieser Organisation ausgearbeitete Definition des Terminus "Subversion" und ihre während des Algerienkrieges formulierte theoretische Rechtfertigung der Folter: "Die Kirche war das Gehirn, das den Militärs die Waffen an die Hand gab."
Archiv: Radar

Guardian (UK), 23.04.2005

Supercalifragilistische Mischung! Tariq Ali erklärt, wieso das islamische Kino von der Zensur profitiert. Denn, so seine Logik, die Filmemacher müssten ihre Filme besonders klug und mehrdeutig gestalten, um von den staatlichen Kulturwächtern nicht verstanden zu werden. "Es ist der klerikale Iran, der das lebendigste und bemerkenswerteste Kino von heute produziert. Nicht seit der französischen Nouvelle Vague haben Filmemacher aus einem einzigen Land derart den Kunstfilm-Markt dominiert", behauptet Ali und empfiehlt besonders Kamal Tabrizis Satire "Marmoulak" (Die Eidechse"), in der sich ein entflohener Sträfling als Mullah durchschlägt: "Der Film schlüpfte durch die Zensur und lief im ganzen Land vor vollgepackten Kinos. Als die Mullahs allerdings auch öffentlich als Eidechsen bezeichnet wurden, geriet das Kultur-Establishment in Panik und der Film wurde aus dem Verkehr gezogen."

Die kanadische Autorin Margaret Atwood erzählt von einem traumatisierenden Aufenthalt in Großbritannien in den sechziger Jahren: Sexuell frustrierte Männer, ungeheizte Badezimmer und Fish and Chips! Aufatmen konnte sie erst in Stonhenge: "Es war prärational, präbritisch und geologisch. Niemand wusste, wie es dorthin gekommen war, oder warum, oder warum es noch immer existierte. Aber da war es, forderte die Schwerkraft heraus und spottete jeder Erklärung. Das war irgendwie kanadisch."

Zum Buch der Woche gekürt wird Simon Reynolds' Buch über Postpunk "Rip It Up and Start Again". Was für Musik, seufzt Nicholas Lezard, was für Texte waren das! "Es ging um Entfremdung, kapitalistische Ausbeutung, Elend, Totalitarismus, Mord, Selbstmord, nukleare Bedrohung, jeden vorstellbaren Grad an Angst und hundert andere Themen, wobei die Texte entweder zu vage oder zu verdreht waren, um verstanden zu werden - man konnte sich nur sicher sein, dass es nicht um Mädchen oder schnelle Autos ging, es sei denn, es handelte sich bei den Mädchen um (die Moormörderin) Myra Hindley oder Eva Braun."

Weiteres: Der Autor Caryl Phillips fragt, warum eigentlich seit fünfundzwanzig Jahren kein schwarzes Theater mehr im Westend zu sehen war. Und Vielschreiber Salman Rushdie beschwört die Macht der Bücher, für die er den überraschenden Vergleich findet: "Wenn sich ein Leser in ein Buch verliebt, hinterlässt es bei ihm Spuren, wie radioaktiver Niederschlag auf einem Acker. Danach werden bestimmte Saatkörner nicht mehr aufgehen, dafür andere seltsamere, fantastischere Gewächse produziert werden."
Archiv: Guardian

Filmkultura (Ungarn), 15.04.2005

Im Dokumentarfilm "Die Nachkommen" führt die Filmerin Agota Varga ein Gespräch mit dem Sohn des Kriegsverbrechers Laszlo Endre, der als Staatssekretär für Inneres 1944 die Ghettoisierung und Deportation von 400.000 ungarischen Juden ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verantwortete und 1946 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Sein Sohn Zsigmond Endre (Anfang achtzig), versucht im Film nicht einmal zu verbergen, dass er selbst Antisemit und Holocaust-Leugner ist. Der Filmkritiker Tibor Sandor ist erschüttert, denn die Regisseurin bezieht keine Stellung: "Auf die Frage, was der Vater 1944 getan hat, behauptet Endre zuerst, dass er es nicht wisse, an anderer Stelle, dass er sich nicht erinnere, an dritter Stelle sagt er, das sei unwichtig. Spätestens hier wird es deutlich, dass die Regisseurin seine Sicherheit ins Wackeln bringen könnte, wenn sie ihn schonungslos mit der Schuld seines Vaters konfrontieren würde. Das könnte ein großer Augenblick des Films sein ... Da die historischen Fakten im Film jedoch nicht klar ausgesprochen werden, können die Zuschauer im besten Fall nur ahnen, dass dieser Mann die Wahrheit kennt, aber verschweigt."
Archiv: Filmkultura

Beszelö (Ungarn), 15.04.2005

In Ungarn wird seit Monaten über das neue Gesetz zur weitgehenden Veröffentlichung der Akten des kommunistischen Geheimdienstes debattiert. Ähnliche Diskussionen laufen gleichzeitig in Polen und in der Slowakei. In der ehemaligen Samisdat-Zeitschrift Beszelö plädiert der Verfassungsjurist Istvan Szikinger für eine sogar größere Öffnung: "Die Frage ist, wen wir eigentlich moralisch verurteilen und auf welcher Grundlage, denn diese Veröffentlichung wird zweifellos einen moralischen Standpunkt widerspiegeln. Was spricht eigentlich dafür, nur die Stasi zu verurteilen? Warum nicht das ganze ehemalige Innenministerium? Warum nicht die gesamte damalige politische Sphäre? Spätestens an diesem Punkt droht die Diskussion auszuufern, deshalb sollte klar werden, ob wir das Ziel oder die Methoden der Stasi verurteilen. Wenn die Methoden schlecht waren, dann dürfen diese auch heute nicht angewandt werden, dann darf es auch heute keinen Nationalen Sicherheitsdienst geben. Wenn das Ziel schlecht war, dann trifft unser Urteil alle, die das sozialistische Regime unterstützt haben - in jedweder Art, egal auf welcher Ebene."
Archiv: Beszelö
Stichwörter: Stasi, Slowakei, Samisdat

Spectator (UK), 23.04.2005

Daniel Hannan erwartet nicht nur ein Nein der Franzosen zur europäischen Verfassung, er empfiehlt es ihnen sogar. "Unter all den Vorurteilen, die die Briten über die Franzosen pflegen, sticht eines durch seine Wahrhaftigkeit heraus: Sie sind mürrisch. Und sie haben allen Grund dazu, angesichts des Selbstversorger-Kartells, von dem sie regiert werden. Darüber hinaus haben sie verstanden, dass die europäische Integration ihre Regierung noch weniger verantwortlich machen wird. Sie erkennen, dass die Verfassung zukünftige Entscheidungen noch weiter dem Zugriff des Volkes entziehen wird. Wenn man das Gefühl hat, die Regierung ist schon zu weit entfernt, wird man Zuständigkeiten kaum auf noch entlegenere Institutionen übertragen." (Die hier vorgestellten Artikel des Spectator können nach kostenloser Registrierung gelesen werden.)

Weitere Artikel: Die Autorin Germaine Greer bedankt sich beim Geburtstagskind Shakespeare für das schöne Bild vom englischen Charakter, das er geprägt habe: vernünftig, fröhlich, freundlich, zuverlässig, und vor allem selbstironisch. "Der Engländer, abgesehen von Königin Victoria, ist immer darauf vorbereitet, amüsiert zu werden." Und Alexander Chancellor freut sich über die Wahl des Wunschkandidaten des Spectators zum Papst.
Archiv: Spectator

Al Ahram Weekly (Ägypten), 21.04.2005

Elfriede Jelineks "Die Klavierspielerin" ist ins Arabische übersetzt worden. Rania Khallaf hat sich von Samir Grais erzählen lassen, was das Schwierigste an dieser Aufgabe war - abgesehen davon, dass er nur drei Monate Zeit hatte: "Das größte Problem war die Art, wie Jelinek Alltagssprache manipuliert; es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, dieses Spiel mit Worten in einer anderen Sprache wiederzugeben ... Die nächste große Schwierigkeit waren Sarkasmus und Ironie - wie transportiert man Sarkasmus, der in jeder Sprache anderen Mechanismen gehorcht. Oder ihre ironischen Zitate klassischer deutscher Literatur, die genauso kontextgebunden sind - so wie ein bekanntes Goethe-Wort in einer stark sexuell aufgeladenen Situation eine spezielle Färbung erhält." Für Grais gibt es vor allem zwei Gründe, warum so wenig aus dem Deutschen übersetzt wird: kein Geld (auch die "Klavierspielerin" konnte nur mit Hilfe von Litrix übersetzt werden), und als wichtigstes die Tatsache, dass "deutsche Autoren seit dem Zweiten Weltkrieg die Tendenz haben, sich vor allem mit Krieg und Nazischuld zu beschäftigen - Dinge, die wenig Relevanz für arabische Leser haben".

Zwei Porträts: Aziza Sami stellt den Soziologen Ali Fahmi vor, der nie dem internationalen akademischen Jet-Set angehören wollte, noch nicht einmal einen ordentlichen Doktortitel hat, den dialektischen Materialismus verteidigt, die Islamisten verachtet - und ein "fast unheimliches Verständnis von gesellschaftlichen Prozessen" hat. Jill Kamil erweist dem Ikonenmaler Isaac Fanoun, der die uralte koptische Tradition ins zwanzigste Jahrhundert überführte, ihre Ehrerbietung und charakterisiert die Essenz seiner Kunst: "Die heiligen Figuren in Farouns Ikonen (...) sind ohne Persönlichkeit, Emotion oder Charakter. Sie sind abgetrennt von menschlichem Gefühl, von Leidenschaft. Das Gesicht von Jesus Christus in den Stationen der Passionsgeschichte - ob er unter der Last des Kreuzes auf die Knie fällt, einen Hügel erklimmt, oder daran genagelt ist - ist frei von Schmerz."

Weitere Artikel: Immanuel Wallerstein nimmt den Rummel um den neuen Papst zum Anlass für einen Rückblick auf 2000 Jahre Christentum; wie, fragt er, hat die Kirche eine so lange Zeit überlebt? David Tresilian berichtet von der großen Pariser Satre-Retrospektive aus Anlass des hundertsten Geburtstages des Philosophen. Gamal Nkrumah hat beim Treffen der New Partnership for African Development (NEPAD) neue Konzepte für das ökonomische Überleben des Kontinents gehört.
Archiv: Al Ahram Weekly

Figaro (Frankreich), 21.04.2005

In einem Interview erinnert sich der französischen Ethnologe und Strukturalist Claude Levi-Strauss (mehr) an seinen ersten Aufenthalt in Brasilien 1935, wohin er im Rahmen der Mission universitaire francaise entsandt worden war. Im Mittelpunkt des Gesprächs stehen vor allem seine historischen Vorgänger der Erkundung dieses Landes. Auf die Frage, ob er sich damals auch für die Geschichte und Literatur Brasiliens interessiert habe, gesteht er: "Ehrlich gesagt sehr wenig. Aber ich habe mich nicht nur mit den Indios beschäftigt, sondern mich sehr für die Städte interessiert. Sie sind einer der zentralen Aspekte meiner Erfahrungen in Brasilien. Die Geburt einer Stadt, die sich in der Alten Welt über Jahrhunderte oder Jahrtausende hinzieht, dauerte in Brasilien nur ein paar Jahre oder Monate. Für Soziologen ist das ein gewissermaßen perfektes Untersuchungsfeld. Als ich an die Universität von Sao Paulo kam, habe ich meine Studenten rausgeschickt, um ihr Viertel oder ihre Straße zu beobachten. In Sao Paulo, hieß es, werde stündlich ein Haus gebaut. Jeden Tag änderte sich etwas." Der Kontakt nach Brasilien sei nie völlig abgebrochen, habe sich aber ebenfalls verändert: "Das sind ja heute nicht mehr meine Schüler, nicht mal die Schüler meiner Schüler. Sondern die Schüler der Schüler meiner Schüler."
Archiv: Figaro

Plus - Minus (Polen), 23.04.2005

Der 25. Jahrestag der Gründung der Solidarnosc rückt näher. Im Magazin der Rzeczpospolita ist für den Literaturwissenschaftler Przemyslaw Czaplinski nicht mehr viel übrig geblieben vom großen Mythos, in der Solidarnosc hätte sich eine vereinte Nation gegen das Böse gestellt. Czaplinski stellt fest, dass in der jüngeren polnischen Literatur vor allem Enttäuschung über den Zerfall dieses Mythos vorherrscht, wobei man oft den ganzen Transformationsprozess verurteilt. "Zum Glück reagierten nicht alle Schriftsteller auf diesen Prozess mit Jammern. Wichtiger sind die Bücher, die zeigen, dass wir nie eine Einheit waren: Andrzej Stasiuks 'Weißer Rabe' oder Piotr Siemions 'Picknick am Ende der Nacht'. Sie helfen die Vielfalt der Einstellungen in Zeiten des Realsozialismus zu verstehen, abseits der Dychotomie: wir - sie."

"Als er ein Kind war, wollte er nicht Schriftsteller sein, sondern ein Buch. Einen Menschen kann man leicht töten, auch einen Schriftsteller. Aber bei einem Buch bleibt immer eine Chance, dass ein Exemplar überlebt", schreibt in einem Porträt des israelischen Schriftstellers Amos Oz der Publizist Bartosz Marzec. Oz, dessen Eltern in Polen geboren wurden, pflegte immer eine besondere Beziehung zu diesem Land. "Die polnisch-jüdische Ehe war vielleicht nicht glücklich, dafür aber auch nie langweilig", erklärte er 1994 bei einem Treffen mit seinen Lesern in Warschau, "ob wir es wollen oder nicht, haben wir gemeinsame Kinder und eine gemeinsame Vergangenheit. Wir sollten über die verschiedenen Ebenen unserer Beziehung sprechen: der kulturellen, politischen und religiösen."
Archiv: Plus - Minus

New York Times (USA), 24.04.2005

Sarah Glazer beobachtet wohlwollend, wie die immer zahl- und erfolgreicher werdenden Book on Demand Verlage für frischen Wind in der Buchbranche sorgen. An den traditionellen Verlagshäusern vorbei werden mittlerweile bis zu hunderttausend Exemplare eines Titels verkauft, und auch renommierte Autoren nutzen nun die Möglichkeit, ein Buch ohne Rücksicht auf kreativitätshemmende Konzessionen an die Verleger zu produzieren. "Der New Yorker Literaturagent Harvey Klinger hat kürzlich der Bestseller-Autorin Kathryn Harvey empfohlen, ihren neuesten Roman bei iUniverse herauszubringen, nachdem sie damit bei mehreren New Yorker Verlagshäusern abgeblitzt war. Laut Klinger beschwerten sich die Verleger, dass Harveys Roman 'Private Entrance' (gibt es immer noch nicht) - das er als sexy und spannend bezeichnet - weder in die 'Hühner'-Kategorie passe noch für die Zielgruppe der älteren Leserinnen geeignet sei - manchmal auch als 'Hennen'-Literatur bezeichnet."

David Orr fragt sich, wie es Jorie Graham zum allgemein akzeptierten Superstar der so zersplitterten amerikanischen Dichterszene bringen konnte, eine Diszplin, die "teils aus Professionalität, kokettierendem Geschnatter und Wettbewerbsgeremple" besteht. Graham ist einfach so nett, meint Orr, sie verbindet über alle Fronten hinweg. Ihren neuen Gedichtband "Overlord" findet Orr dann auch "schwammig". Jon Meacham hat Jonathan Mahlers neues Werk "Ladies and Gentlemen, the Bronx Is Burning" verschlungen und ist erstaunt, was im neuralgischen Jahr 1977 in New York so alles passiert konnte (hier das erste Kapitel). So atemlos, dass sie gar nicht zum Besprechen kommt, erzählt Maureen Dowd anhand der Autobiografie "My Life So Far" das Leben von Jane Fonda nach. John Hodgman stellt bei der Besprechung einiger Graphic Novels fest, dass der Superheld trotz allem immer noch das Fundament des Genres darstellt.

Im New York Times Magazine beruhigt uns Steven Johnson mit der Erkenntnis, dass Fernsehen das Gehirn trainiert und damit schlauer macht. Deborah Solomon nimmt Ken Feree, den neuen Chef der gemeinwohlorientierten Corporation for Public Broadcasting, ins Kreuzverhör. Feree scheint mit den Republikanern zu sympathisieren. David Dobbs plädiert für die Aufrechterhaltung der Routine-Autopsie in Krankenhäusern. Im Titel rätselt Michael Lewis über zwei Baseballspieler, die ihre wahre Bestimmung auf dem Feld erst allmählich finden.
Archiv: New York Times