Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
17.05.2005. Der New Yorker macht Tina verantwortlich für den drastischen Anstieg von Aids bei Amerikas Homosexuellen. In Le Point streiten Alain Finkielkraut und Francois Geze über den "Rassismus gegen Weiße". Die London Review liefert eine Reportage aus dem Nordirak. Espresso stellt das Online-Kunstportal Rhizome vor. In der Gazeta Wyborcza meditiert Kinga Dunin über das Bild des Fremden in Polen. Commentary erklärt den Unterschied zwischen Dietrich Fischer-Dieskau und Richard Tauber. Al Ahram verteidigt Brecht gegen seine Interpreten. Le Monde diplomatique enthüllt, was im Iran ein auf links getragener Tschador bedeutet. Der Economist rühmt "Freakonomics" für seine unkonventionelle ökonomische Weisheit.

New Yorker (USA), 23.05.2005

Michael Specter (mehr hier) schickt eine alarmierende Reportage aus San Francisco und anderen amerikanischen Städten über einen drastischen Anstieg von Aids und anderen Geschlechtskrankheiten in der schwulen Bevölkerung der Vereinigten Staaten. Ein großen Anteil an der Entwicklung hat eine Droge namens "Tina", ein Methamphetamin, das die Libido steigert und das Risikobewusstsein offensichtlich mindert. "Auf einmal geht alles, sogar ungeschützter Analsex mit vielen Partnern in einer Nacht, einer der sichersten Wege, um das Aids-Virus zu verbreiten." Und dann kommen die Statistiken: "In New York ist die Zahl der Syphilis-Erkrankungen in den letzten fünf Jahren um 400 Prozent gestiegen. Bewirkt wurde dieser Anstieg fast ausschließlich von schwulen Männern. Zwischen 1998 und 2000 konnte man 15 Prozent der Syphilis-Erkrankungen in Chicago schwulen Männern zuschreiben. Seit 2001 ist diese Zahl auf 60 Prozent gestiegen. Bei einem näheren Blick auf die Statistiken stößt man sehr schnell auf die Droge. Laut einer kürzlich durchgeführten Studie sind 25 Prozent aller Männer, die Methamphetamin konsumieren, mit dem HIV-Virus infiziert. Diese Droge scheint das Infektionsrisiko zu verdoppeln, nicht nur, weil sie die Hemmschwelle senkt, so scheint es, sondern auch weil sie physiologische Veränderungen auslöst, die das Virus leichter übertragbar machen." Online findet sich auch noch ein erläuterndes Gespräch mit Specter zu dem Thema.

Außerdem in dieser brillanten Nummer des New Yorker: die neue Erzählung "Two's Company" von Jonathan Franzen über das perfekte Paar Pam und Paul, die sich in jungen Jahren in Kalifornien niederließen, um Komödien zu schreiben, Judith Thurmans Besprechung der Chanel-Ausstellung im Metropolitan Museum, Joshua Micah Marshalls ausführliche Besprechung von David McCulloughs (mehr hier) Buch "1776" über die Gründung der USA und Anthony Lanes respektlose Begutachtung von "Star Wars: Episode III".
Archiv: New Yorker

Point (Frankreich), 12.05.2005

In Frankreich geht ein Gespenst um - das Gespenst des Kommunitarismus. Im französischen Internet zirkuliert ein Manifest der "Eingeborenen der Republik", das von linken Soziologen, aber auch gemäßigten Vertretern des Islamismus unterzeichnet wurde und das den Franzosen einen fortgesetzten Kolonialismus vorwirft. Über dieses Manifest und einen angeblichen "Rassismus gegen die Weißen" streiten in Le Point der Philosoph Alain Finkielkraut, Unterzeichner eines Gegenmanifests, und der Verleger Francois Geze. "Auch wenn Frankreich kein Kolonialstaat ist, so begünstigt die Verkennung der Kolonialgeschichte doch Verhaltensweisen, die direkt aus dieser Epoche geerbt wurden: Die Politik gegenüber dem Anderen, dem Immigranten, dem Araber bleibt sehr geprägt von den Geschehnissen in den Kolonien und von dem was sich dreißig Jahre lang in Algerien abspielte", sagt Francois Geze. Und Finkielkraut antwortet: "Diese Petition ist ein absolut reiner ideologischer Diamant. Ihre Unterzeichner sind von einer einzigen Idee besessen. Was sich nicht auf eine direkte Konfrontation zwischen einem hundertprozentig kriminellen Westen und den vollständig unschuldigen Verdammten dieser Erde reduzieren lässt, erklären sie für null und nichtig. Diese Petition ist eine Kriegserklärung an die Wirklichkeit."

Einschlägig Interessierten empfehlen wir David Pryce-Jones' epischen Artikel über "Juden, Araber und die französische Diplomatie", der sich auch mit den hier angesprochenen Themen auseinandersetzt, in der neuesten Nummer von Commentary.
Archiv: Point

London Review of Books (UK), 19.05.2005

Aus dem größtenteils kurdischen nördlichen Irak berichtet Patrick Cockburn über eine Ruhe, die keine ist. "In welche nordirakische Stadt ich auch ging, die - größtenteils kurdischen - Regierungsbeamten sagten alle dasselbe: Erstens, so schlimm es derzeit scheinen möge, sie seien vor drei Monaten weitaus schlechter dran gewesen, und zweitens sei die Lage weiter im Süden gefährlicher. In Kirkuk, das zwischen Kurden, Sunniten und Turkomanen aufgeteilt ist, fuhr ich zum schwer verteidigten örtlichen Hauptquartier der Kurdischen Demokratischen Partei. Der erste Beamte, dem ich begegnete, sagte, die Stadt sei ruhig. Während wir sprachen, spielte er mit einer Pistole auf dem Tisch herum. Ein Maschinengewehr war in Reichweite an der Wand befestigt. Als wir den Flur zu einem anderen Büro im selben Gebäude entlanggingen, steckte er die Pistole automatisch in seinen Gürtel."

Weitere Artikel: Der erste Teil von John Haffendens ausufernder Biografie des Dichters, Kritikers und Weltreisenden William Empson ("William Empson: Vol. I: Among the Mandarins") hat Frank Kermode große Freude bereitet. Als wahre Offenbarung eines Genies der Muster preist Peter Campbell die ungewöhnliche Matisse-Ausstellung in der Royal Academy, in deren Mittelpunkt Matisses umfangreiche und bislang ungesehene Textilsammlung steht. Gespalten äußert sich Partha Dasgupta über Jared Diamonds Buch "Collapse: How Societies Choose to Fail or Survive", das der Frage nachgeht, warum manche Kulturen überleben, während andere untergehen.Und schließlich klärt Thomas Jones uns auf, warum in einer politischen Polemik das Klischee der Dinner Parties nicht fehlen darf.

Espresso (Italien), 19.05.2005

Die Avantgarde-Kunst von morgen wird im Internet stattfinden, verkündet Angelo Capasso, der ganz begeistert von Online-Kunstportalen wie rhizome.org erzählt. Besonders gefällt ihm dort Carlo Zannis Spiel "Average Shoveler", in dem man einen kleinen Pixelhelden helfen muss, den Alltag in New Yorks East Village zu meistern. Die Gefahren bestehen aus Live-Medienschnipseln, die wie Schneeflocken herunterrieseln. "Um zu überleben, muss man laut Zanni die Nachrichten, die im Kopf ankommen, wegschaufeln, wie man Schnee wegschaufelt, um schließlich zu sich selbst zu kommen. Wie in der Wirklichkeit auch ist dieses Vorhaben völlig unmöglich: man kann nicht gewinnen. Anders gesagt, wie kann man dem täglichen Bombardement an Nachrichten entgegnen, dem wir unterworfen sind?"

Die kapriziösen Franzosen haben ja keine Ahnung, wie gut sie es in Europa haben, meint der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, der in seinem Kommentar wie derzeit viele andere Intellektuelle auch um das "Ja" zur Verfassung bangt. In einem für den Espresso verwunderlichen Schulterschluss mit der kapitalistischen Welt kündigt Carlotta Magnanini die neueste Brause aus Atlanta an, Coke Zero. Und Cesare Balbo informiert über eine Star-Wars-Ausstellung bei der Mailänder Triennale.
Archiv: Espresso
Stichwörter: Ben Jelloun, Tahar, Star Wars

Gazeta Wyborcza (Polen), 14.05.2005

Die Literaturwissenschaftlerin und führende feministische Publizistin Polens, Kinga Dunin, analysiert in einem lesenswerten Artikel das Bild des Fremden in der polnischen Literatur seit der politischen Wende. Dunin konstatiert, dass das Fremde, vor allem in Gestalt von Menschen anderer Konfession oder Nationalität, anfangs in ein "liberal-konservatives Bild der Wirklichkeit" integriert wurde. "Das gezähmte Anderssein war nur ein anderes Abbild des Akzeptierten, es verursachte keine Konflikte. Auch die feministische, antikapitalistische und neuerdings homosexuelle Gesellschaftskritik wird als Teil des Ganzen vom System absorbiert. Der Markt wartete nur darauf, gut gemachte Attrappen seiner Gegner auf die Supermarktregale zu bekommen, was seinen Sieg nur noch deutlicher machte. Das potenziell revolutionäre Fremde wurde zum Kommerz. Statt einer utopischen Einigkeit bekommen wir somit ein gleichermaßen utopisches Bild von Unterschieden."

Adam Michnik setzt seine Essayreihe fort (die vorigen Beiträge sind hier und hier abrufbar), in der Parallelen zwischen der nachrevolutionären Restaurationszeit in Frankreich und der gegenwärtigen innenpolitischen Lage in Polen gezogen werden. "In unserer Welt gibt es keine großen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Es gibt auch keinen Napoleon unter uns, und kein Versprechen des großen Ruhms. Wir wurden vom Glauben an die absolute Gerechtigkeit geheilt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir Gemeinheit und absolute Ungerechtigkeit akzeptieren. Wir, Nutznießer der Revolution, preisen die Errungenschaften: bürgerliche Freiheiten, offene Grenzen, freie Zeitungen, freien Markt etc. Die Verlierer, jene Ausgeschlossenen und Gedemütigten, werden die Welt verfluchen und uns vielleicht eines Tages eine bittere Rechnung ausstellen. Uns, den Nutznießern."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Commentary (USA), 01.05.2005

Am 28. Mai wird Dietrich Fischer-Dieskau achtzig Jahre alt. Der Musikkritiker Terry Teachout fragt sich, was von diesem Bariton bleiben wird, den die einen als größten Liedersänger seiner Zeit feierten, die anderen ebenso vehement als pingelig, schlaff und schmachtend kritisierten. Teachout zählt zu den Bewunderern, doch hat er sich im Laufe der Jahre auch mit einer älteren Schule angefreundet - der von Richard Tauber. Den Unterschied verdeutlicht er an einem Beispiel, Schuberts "Gute Nacht", das Tauber mehr wie eine Ballade sang, Fischer-Dieskau dagegen wie ein Schauspieler, der einen Monolog in der ersten Person hält. "Sicher, Fischer-Dieskau singt 'Gute Nacht', er rezitiert es nicht. Seine Interpretation ist genauso tief in Schuberts Musik verwurzelt wie in Müllers Worten. Dennoch könnte der Unterschied zu Tauber kaum größer sein. Ich bin versucht, die beiden Stile mit denen von Frank Sinatra und Bing Crosby zu vergleichen: Sinatras emotionale Aufrichtigkeit steht in starkem Kontrast zur undurchdringlichen Reserve Crosbys, der einst den Lyriker Johnny Burke gebeten hatte, keine Lieder für ihn zu schreiben mit der Phrase 'Ich liebe dich'. Anders als Sinatra war er nie ein bekennender Künstler und die Intensität, die frühe Aufnahmen von Balladen wie 'Stardust' hatten, war eher musikalisch als dramatisch."

Weitere Artikel: Unbedingt lesenswert ist eine Studie des britischen Publizisten David Pryce-Jones über das Verhältnis der französischen Elite zu Arabern und Juden. "Viel wurde geschrieben über die Rolle europäischer Akademiker, Intellektueller und Journalisten, die muslimischen Antisemitismus entschuldigen, rechtfertigen oder damit sympathisieren. Nicht weniger, ja sogar mehr, gilt dies für (französische) Politiker." Und dann macht sich Pryce-Jones auf (ausgedruckten) 19 Seiten daran, die in dieser Hinsicht wenig ruhmreiche Geschichte des Außenministeriums am Quai d'Orsay auseinanderzunehmen.
Archiv: Commentary

Al Ahram Weekly (Ägypten), 12.05.2005

Nehad Selaiha hält ein wunderbar unwirsches und klarsichtiges Plädoyer für die Autonomie des überlieferten Werkes gegenüber den akademischen Vorschriften der professionellen Deutungshüter - Autoren eingeschlossen. Es geht um Brecht, dessen "Mutter Courage" gerade in Kairo von dem jungen Regisseur Amr Qabil inszeniert wurde. Mit Dalal Abdel-Aziz, einer äußerst populären, jungen und schönen Schauspielerin in der Hauptrolle. Ist das "brechtisch", fragten sich die Kritiker? "Wen kümmert es", fragt Selaiha zurück. "Pflichtbewusst, beinahe frömmlerisch kommen sie mit ihrer Verfremdung daher, fahren imaginäre Regeln auf, für die Brecht leider keine Vergleichstabellen mitgeliefert hat, und überwachen eifrig ihre Einhaltung, um Regisseure und Schauspieler des Verstoßes dagegen überführen zu können", ärgert sich die Kritikerin. Dabei unterlag schon Brecht selbst mit seinen Intentionen dem Publikum - die ersten Aufführungen des Stücks wurden gefeiert, Mutter Courage als rührende Heldin vom Publikum ins Herz geschlossen. Brecht schäumte vor Wut, erzählt Selaiha. "Dennoch bewahrte er die Integrität des Textes und ließ uns den Blick auf Anna, die ihren Wagen am Ende solo und still über die Bühne zieht."

Amina Elbendary hat sich Ridley Scotts Kreuzzug-Epos "Königreich der Himmel" angeschaut und ist enttäuscht, wenn auch aus anderen Gründen als erwartet: Der Film sei sich der Implikationen seiner Geschichte - und seiner Schreibung von Geschichte - zu bewusst, um eine platte historische Variante des "Kampfes der Kulturen" abzuliefern, sei aber zugleich, und zwar gerade in seinem Bemühen um verschiedene Perspektiven und um eine Revision der christlichen Heldensaga, schlaff, inkonsequent - und, ja, stereotyp

Weitere Artikel: Anouar Abdel-Malek sagt eine weltpolitische Renaissance der Staaten Südamerikas voraus. Jason Erb und Noha Bakr erklären, warum der angebliche "Kampf der Kulturen" in Wirklichkeit ein "Kampf der Fundamentalismen" ist: "Koexistenz und Kooperation zwischen Zivilisationen sind nicht nur möglich, sie sind auch der historische Normalfall." Und Nevine El-Aref hat dank der parallel von einem ägyptischen, einem amerikanischen und einem französischen Forschungsteams gefertigten Computerscans gesehen, wie Tutanchamon wirklich aussah. (Oder nicht? Die FAZ meinte jedenfalls am vergangenen Freitag, die französische Büste sehe aus wie "die junge Josephine Baker", die amerikanische dagegen wie eine Mischung aus Brad Pitt und Will Smith.)
Archiv: Al Ahram Weekly

Polityka (Polen), 12.05.2005

Nach der Lektüre von Juri Andruchowytschs neuem Roman "Zwölf Ringe" ist Aleksander Kaczorowski sicher: Der Mann wird der erste ukrainische Nobelpreisträger! "Andruchowytsch ist bislang nur einer Leserelite bekannt. Ihn aber nicht zu kennen, gehört sich nicht. Sein Platz ist neben Gabriel Garcia Marquez und Bohumil Hrabal - Schriftstellern, die man lesen sollte, denn wer das nicht tut, fügt sich selbst Schaden zu", erklärt kategorisch der Kritiker.

Eine interessante Reportage ist der gespenstischen Ruine des nie fertig gestellten Atomkraftwerks in Zarnowiec gewidmet. Seit 1982 baute man an diesem ambitionierten sozialistischen Projekt, 1989 wurde ein Baustopp verhängt. Die Anlage verfiel, und von den riesigen Industrie- und Wohnanlagen blieb nur ein Wohnblock mit einem letzten ehemaligen Angestellten als Bewohner. Ironie der Geschichte ist, dass "Polen in 15 Jahren die Emissionsgrenzen in der EU überschreiten wird, und somit der Bau eines Atomkraftwerks unumgänglich scheint. Das Recht erlaubt zwar aus Sicherheitsgründen nicht, die eingestellten Bauarbeiten wieder aufzunehmen. Aber das neue Kraftwerk kann neben den alten Fundamenten errichtet werden. Die Nachricht von dem Regierungsbeschluss, ein neues atomares Kraftwerk zu bauen, erreichte Zarnowiec in dem Moment als die letzten Bewohner der Arbeiterhäuser ausgezogen waren".
Archiv: Polityka

Times Literary Supplement (UK), 13.05.2005

William Boyd (mehr hier), der gerade ein Filmdrehbuch über Churchill und Roosevelt schreibt, hört sich eine offensichtlich etwas hagiographisch geratene Radioserie der BBC über Winston Chruchill an, liest einige neuere Bücher und bekommt sehr britische Bauchschmerzen: Wie "special" war denn die "special relationship", die Churchill mit den USA schmiedete, um einen Alliierten im Krieg gegen Hitler zu gewinnen? "Mit seinen romantischen Auffassungen über die Union der englisch sprechenden Völker und der geschönten Interpretation seiner Freundschaft mit Roosvelt hat Churchill den nachfolgenden britischen Regierungen keinen Gefallen getan, denn bei einem näheren Blick auf die Beziehungen zwischen Roosevelt und Churchill stellt sich heraus, dass die besonderen Beziehungen nicht so besonders waren." Und dann stellt Boyd noch einige traurige "Was wäre wenn"-Fragen: "Was wäre wenn die Japaner nicht Pearl Harbor angegriffen hätten, wenn Hitler den USA nicht eine Woche danach den Krieg erklärt hätte? Wann wären die Amerikaner dann in den Krieg eingetreten?"
Stichwörter: Churchill, Winston

Nepszabadsag (Ungarn), 09.05.2005

Europa, sprich zu deinen Bürgern! - ruft der Publizist Laszlo Szöcs. Wer versteht die Sprache, wer kennt die Institutionen? "Alle fünf Jahre versinkt das Europaparlament in tiefe Verzweiflung, weil schon wieder eine äußerst geringe Wahlbeteiligung droht. Die EU-Kommission wird in Frankreich für ultraliberal, in Großbritannien für eine hyperbürokratische Planwirtschaft gehalten. Kein Wunder, dass Kommissionspräsident Barroso vor der Kampagne für die EU-Verfassung sowohl von Paris als auch von London ausgeladen wurde - genau aus gegensätzlichen Gründen."

Der Verhaltensforscher und Essayist Vilmos Csanyi spricht im Interview über die größten Erfolge seines Lebens: im Sternbild "Der Große Hund" wurde ein Stern nach ihm benannt, und er wurde auf der Straße von Unbekannten angehalten, die zu seinem neuen Buch "If Dogs Could Talk" gratulierten - jedoch nicht dem Verfasser, sondern seinem Hund Jeromos, dem "wichtigsten Mitarbeiter" und der Hauptfigur des Buches. Csanyi gibt außerdem bornierten Geisteswissenschaftlern eine mit: "Weltweit ist der Zutritt für fahrende Ritter der Naturwissenschaften in die festen Burgen der Geisteswissenschaften streng verboten. Die Geisteswissenschaftler sind nicht einmal bereit, naturwissenschaftliche Grundkenntnisse zu erwerben, die man zur Orientierung in der modernen Welt unbedingt braucht. ... Ein bekannter Philosoph erklärte neulich in einem Interview, dass er nicht an der Evolution glaube. Das ist so schrecklich, als wenn ich erklären würde, ich glaube nicht an die Reparaturwerkstatt."

Weiteres: Aus New York wird gemeldet, dass "El perro negro", ein auf privaten Filmaufnahmen basierender Dokumentarfilm über den spanischen Bürgerkrieg des ungarischen Filmemachers Peter Forgacs, den Preis für den besten Dokumentarfilm des Tribeca Film Festivals gewonnen hat.
Archiv: Nepszabadsag

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 13.05.2005

In einem sehr interessanten Beitrag beschreibt Fariba Adelkhah, wie Liebe und Sex im Iran immer offener diskutiert werden. "Zur Religiosität gehört durchaus auch der Lebensgenuss, den das stereotype Bild der schwarz verschleierten Republik gern verbirgt, über den in den theologischen Schulen aber offen debattiert wird. Und in der Tat verhindert das allgemeine Tabu, mit dem die Wünsche der Frau in der Öffentlichkeit belegt werden, nicht, dass dieses Thema allgegenwärtig ist. Wie wäre es sonst zu erklären, dass in aller Offenheit darüber diskutiert wird, wie Impotenz oder vorzeitige Ejakulation das harmonische Eheleben gefährden? Und die Frau selbst verfügt durchaus über Worte oder vielmehr Zeichen, um ihre diesbezüglichen Wünsche zum Ausdruck zu bringen. So signalisiert zum Beispiel ein auf links getragener Tschador, dass die Frau bereit ist, eine Ehe auf Zeit einzugehen. Und wenn Frauen versuchen, mit verschlüsselten Worten einen Geistlichen um einen intimen Rat zu bitten, dann spielen sie mit Formulierungen wie 'ein umgedrehter Schuh' oder 'der auf dem Kopf stehende Besen' auf die Zulässigkeit von Analverkehr an."

Erstaunlich findet Philipp Ther, wie wenig sich die Deutschen der jahrhundertelangen gemeinsamen Geschichte mit Polen bewusst sind. "Und das, obwohl von 1772 bis 1918 Polen und Deutsche in einem Staat lebten, weil sich Preußen im Zuge der drei Teilungen Polens einen erheblichen Anteil des Nachbarstaates einverleibt hatte. Nur dadurch war Preußen zur europäischen Großmacht aufgestiegen. Und auch die Gründung des Deutschen Reiches von 1871 beruhte auf dem Fortbestand der Teilung Polens. Insofern kann man nur eingeschränkt von einem Nationalstaat sprechen... Die deutsche Geschichte bekommt jedoch eine andere Färbung, wenn man Preußen, das wilhelminische Deutschland und noch die Weimarer Republik aus einer polnischen oder einer zentraleuropäischen Perspektive betrachtet. Das Deutsche Reich erscheint dann - seinem Namen entsprechend - viel stärker als ein multinationales Imperium. Deutsch war dieses Reich in seinen östlichen Gebieten wie der Lausitz, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ostpreußen nur bedingt oder auf sehr spezifische Weise. Polnische Einflüsse und Einwanderer prägten aber nicht nur die östlichen Gebiete des Reiches, sondern auch das Ruhrgebiet."

Außerdem zu lesen ist Amartya Sens Plädoyer für eine Wiederbelebung der indisch-chinesischen Beziehungen nach altem Muster: China bereichert Indiens materielle Sphäre, Indien sorgt für geistige Erneuerung in China. Richard Hatcher beschreibt, wie zunehmend private Firmen das Management britischer Schulen übernehmen. Und für Liebhaber durchdringt Slavoj Zizek die "ultimative postmoderne Ironie" der sechsten "Star Wars"-Episode.

Economist (UK), 13.05.2005

Geradezu hingerissen zeigt sich der Economist von der unkonventionellen ökonomischen Weisheit, mit der Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner ("Freakanomics: A Rogue Economist Explores the Hidden Side of Everything") für jedes erdenkliche Phänomen eine Erklärung finden, indem sie auf unerwartete Zusammenhänge aufmerksam machen. So kommen sie zum Beispiel nach hieb- und stichfester Analyse zu dem Schluss, dass der merkliche Einbruch in der Anzahl der Verbrechen, der Ende der Neunziger in den USA zu verbuchen war, auf die Legalisierung der Abtreibung zwanzig Jahre davor zurückzuführen sei. "'Welche Art von Frau wird dazu geneigt gewesen sein, sich das Urteil Roe gegen Wade zunutze zu machen?', fragt das Buch. 'Sehr oft war sie unverheiratet oder noch keine zwanzig oder arm, und manchmal alles zugleich? Mit anderen Worten legten genau die Faktoren, die Millionen amerikanischer Frauen zu einer Abtreibung bewogen, auch nahe, dass ihre Kinder, wären sie geboren worden, ein unglückliches und möglicherweise kriminelles Leben geführt hätten? In den frühen Neunziger Jahren, gerade als die erste Riege der nach Roe gegen Wade Geborenen auf die Zwanzig zugingen - jenes Alter, in dem junge Männer ihr erstes Verbrechen begehen - begannen die Verbrechenszahlen zu fallen' " Für den Economist ist das Buch schlichtweg ein Genuss, nicht zuletzt weil es zeigt, "was die gute alte Ökonomie in den Händen eines grenzenlos neugierigen und ungemein bewandten Praktikers vollbringen kann."

Weitere Artikel: Die Geister, die ich rief - Im Aufmacher warnt der Economist Europa und Asien davor, die nukleare Aufrüstungspolitik von Nordkorea und Iran als rein amerikanisches Problem anzusehen oder gar als George Bushs gerechte Strafe durch die von ihm dämonisierte "Achse des Bösen". Ferner gewinnt der Economist zunehmend den Eindruck, dass es die Türken sein könnten, die der EU eine Absage erteilen, weil ihnen der Abschied vom Atatürkismus als Preis für den EU-Beitritt zu hoch ist. Und schließlich findet der Economist es auffällig, in welch engem Verhältnis die Wahlergebnisse der Labour-Partei mit der Vergabe von öffentlichen Geldern stehen. In den Midlands und im Norden, wo in den letzten Jahren große Summen verwendet wurden, genieße die Blair-Regierung weitaus mehr Zuspruch als anderswo.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 15.05.2005

Mark Lilla, Professor für Social Thought an der Universität von Chicago, bemerkt in einem zeitlich weit ausholenden Essay, dass die zivilisierende Wirkung der Demokratie auf die Religion, wie sie sich die amerikanischen Staatsgründer ausmalten, nun eine Grenze erreicht habe. "Die führenden Denker der britischen und amerikanischen Aufklärung hofften, dass das Leben in einer demokratischen Ordnung die Christen von einer im Glauben begründeten Realität zu einem realitätsbegründeten Glauben bringen würde. Amerikas Religion entwickelt sich heute in die entgegengesetzte Richtung, zurück zum ekstatischen, buchstabengetreuen und gutgläubigen Geist der Great Awakenings. Die benunruhigendsten Auswirkungen sind nicht politischer Art, noch nicht. Sie spielen sich auf kultureller Ebene ab. Die Faszination für die 'Endzeit', der Glaube an persönliche (und eigennützige) Wunder, die Ignoranz gegenüber elementarer Wissenschaft und Geschichtsschreibung, die Dämonisierung der populären Kultur, die Zensur von Schulbüchern, die abweichenden Ziele der Heim-Schul-Bewegung - alle diese Entwicklungen sind auf lange Sicht hin verstörender als ein paar Sitze weniger im Kongress."

Aus den Besprechungen: Für einen "Triumph der Beobachtung" hält Steve Erickson Hector Tobars Studie "Translation Nation". In einer Mischung aus Alexis de Toquevilles "Democracy in America" und Che Guevaras "Motorcycle Diaries" erzähle Tobar, wie die lateinamerikanischen Einwanderer allmählich das Gesicht der Vereinigten Staaten veränderten. Als angenehm bescheiden würdigt William Deresiewicz die Memoiren "If This be Treason" des Übersetzers Gregory Rabassa, dem einige lateinamerikanische Autoren wie Miguel Angel Asturias, Gabriel Garcia Marquez, Julio Cortazar, Mario Vargas Llosa, Jorge Amado und Antonio Lobo Antunes ihren erfolgreichen Eintritt in die englische Welt verdanken. Wenn Crack Dealer so viel verdienen, warum wohnen sie immer noch bei ihrer Mutter?" Interessante Fragen, die der Ökonom Steven D. Levitt in "Freakonomics" (erstes Kapitel) beantwortet. Und das "unterhaltsalm" und "lehrreich", wie ihm ein von so viel interdisziplinärer Chuzpe sichtlich begeisterter Jim Holt bescheinigt.

Im New York Times Magazine, einer Architektur-Ausgabe, wird die bevorstehende Historisierung der Moderne behandelt. Nicolai Ouroussoff sorgt sich um das architektonische Gedächtnis Moskaus. Bauwerke der russischen Avantagarde und der Stalinzeit werden in rekordverdächtigem Tempo abgerissen, meist um gleich darauf in einer gefälligeren Fassung wiederaufzuerstehen. "Das Hotel Moskau, gebaut zwischen 1934 und 1936, auf der Höhe der Schauprozesse Stalins, zählte nicht zu den besten Werken Schtschussews. Trotzdem belegte es einen bedeutenden Platz in der Stadtgeschichte. Seine brütende, vage moderne Form, verbrämt mit klassischen Referenzen, Schmucksäulen und Kasettendecken, weist auf die inneren Kämpfe hin, die die sowjetischen Architekten ausfochten, um Stalins ästhetischen Launen zu genügen.(Die berühmten ungleichen Türme des Hotels gehen laut Gerücht auf einen Flüchtigkeitsfehler in Stalins Notizen zurück, der ihn dazu brachte, zwei rivalisierende Entwürfe zu genehmigen.)"

Weiteres: Michael Kimmelmann porträtiert Oscar Niemeyer, deutsches Urgestein der Moderne und Erbauer von Brasilia. Pilar Viladas beschreibt, wie der Sotheby-Angestellte James Zemaitis das Interesse für Möbel des 20. Jahrhunderts steigerte, und damit nebenbei deren Wert. Matt Steinglass erzählt, was der Architekt Vann Molyvann für Phnom Penh, die Hauptstadt des unabhängigen Kambodscha plante. Bis dann die Roten Khmer kamen.
Archiv: New York Times