Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
31.05.2005. In Le Point geißelt Bernard-Henri Levy die Ängstlichkeit der Wohlversorgten, die Non gestimmt haben. In der Gazeta Wyborcza befürchtet Bronislaw Geremek, die Franzosen wollten nur noch mit den reichen Ländern Europas zusammenarbeiten. DU widmet sich ganz Imre Kertesz. In der London Review of Books erklärt David Runciman, warum das Internet der Feind einer sachlichen Diskussion ist. Joachim Fest ist Albert Speer auf den Leim gegangen, erklärt Marcel Reich-Ranicki im Spiegel. Im Merkur feiert Lee Siegel die Sopranos als Retter des Gangsterfilms. Das ES-Magazin erinnert an den Örley-Kreis. Die New York Times feiert den Herausgeber eines geldvernichtenden Magazins.

Point (Frankreich), 26.05.2005

Seine Kolumne schickt Bernard-Henri Levy diesmal als Brief aus Sarajewo, und schon dort kommentiert er - vor dem Ausgang des Referendums - das "Nein" der französischen Linken "nicht nur als absurd, frivol, selbstmörderisch", sondern als "schockierend, ja empörend: Dieses Parfum nationalen Egoismus, diese Ängstlichkeit der Wohlversorgten, die nichts loslassen wollen, diese Kirchturmspolitik und dieser Verzicht auf einen Universalismus, der doch einmal die Noblesse und Größe der Linken ausmachte! Von Sarajewo aus gesehen ist es besonders schockierend, besonders empörend, mit welcher Nabelschau man in Frankreich über Charakter und Eigenschaften eines Vertrags diskutiert, den man des 'sozialen Dumpings' beschuldigt, ohne jemals nach seinem Echo im Herzen des 'anderen Europas' zu fragen, jenes Europas, das wir haben sterben lassen und gegenüber dem wir in der Schuld stehen."
Archiv: Point

Gazeta Wyborcza (Polen), 28.05.2005

"Polen sollte seine Entscheidung nicht von der der Franzosen abhängig machen. Wir müssen sie alleine treffen, und dann zusammen mit unseren europäischen Partnern schauen, in welcher Lage Europa sich befindet", appelliert der Europaparlamentarier und Frankreich-Kenner Bronislaw Geremek. Der frühere polnische Außenminister gesteht, dass es keinen "Plan B" für das Scheitern des Verfassungsvertrages gibt, und drückt die Befürchtung aus, dass sich Frankreich nach dem "Nein" zur Verfassung paradoxerweise dem Aufbau eines Bündnisses der vertieften Zusammenarbeit mit den reicheren Ländern Europas widmen wird. Polen wird in so einem Bündnis wohl außen vor bleiben, glaubt Geremek.

Adam Leszczynski hat Thomas L. Friedmans Lobgesang auf den globalen Freihandel "The world is flat. A brief history of the twenty-first century" gelesen und kann seinem Optimismus wenig abgewinnen. "Nun gut, selbst wenn ein paar Millionen von Hindus dank der Arbeit in den neuen Branchen Teil der Mittelklasse werden, was passiert mit hunderten von Millionen anderer Hindus? Der Aufstieg der Wenigen war möglich, weil die Welt flach geworden ist - d.h. weil der technologische Fortschritt es indischen, chinesischen oder auch polnischen Spezialisten erlaubt hat, mit amerikanischen zu konkurieren. Wird aber der Rest auch eine Chance auf besseres Leben erhalten? Ihnen gibt Friedman keine Perspektiven. Wenn man genauer hinschaut, ist diese neue Wirtschaftsrevolution eine Chance für einige Wenige".

Castro bleibt Castro, urteilt der frühere chilenische Botschafter in Havanna und Schriftsteller Jorge Edwards im Interview. Nach dem Tod Castros könnte allerdings in Kuba alles anders werden. "Fidelismo ohne Fidel ist nicht möglich. Die Veränderungen werden rasch eintreten und tiefgreifend sein. Die jungen Vertreter des Regimes machen sich jetzt schon über eine Nachfolgerschaft Gedanken. Zu einem ernsthaften Konflikt mit den USA wird es aber nicht kommen. Die Straßen von Havanna sind proamerikanisch".
Archiv: Gazeta Wyborcza

DU (Schweiz), 01.06.2005

Das Du-Magazin ist ganz dem ungarischen Schriftsteller Imre Kertesz gewidmet. Seine deutsche Übersetzerin Ilma Rakusa erforscht die Rolle des Lachens im Werk des Nobelpreisträgers. "Auch wenn Kertesz' literarischer Kosmos von Melancholie grundiert ist und gelegentlich in einen Pessimismus mündet, der sogar Samuel Beckett als Optimisten erscheinen lässt, finden sich darin Elemente von Komik, ja Humor, und Reflexe eines vielfältigen Lachens (und Lächelns). Mit ungebrochener Heiterkeit hat das wenig zu tun, umso mehr mit absurder Paradoxalität und der Einsicht, dass das permanente Endspiel namens Leben nicht zu ergründen ist. "

György Spiro erklärt, warum Imre Kertesz mit seinem mitleidlosen Blick auf die Vernichtung des ungarischen Judentums bei Juden wie Ungarn aneckt. "Diese Herangehensweise passte nicht und passt auch heute nicht in die ungarischen Geisteshaltungen. Was sich übrigens nicht auf Ungarn beschränkt. Sie ist unangenehm. Peinlich. Nicht jüdisch. Nicht ungarisch. Nicht antideutsch genug. Mit mörderischer Ironie die Wahrheit sagen? Wem nützt das schon? Politisch nicht verwendbar. Die Seelen dürsten - als Folge der Versuchungen des 20.Jahrhunderts und der völligen Perspektivlosigkeit - nach Kitsch. So passt der radikale 'Roman eines Schicksallosen' weder sprachlich noch konzeptionell in die übliche tränenschwere jüdische Heilsgeschichte, deren Höhepunkt, deren 'außerhistorisches Ereignis' (Agnes Heller) Auschwitz war."

Desweiteren - nur leider nicht mehr online zugänglich - erstellt Laszlo Földenyj ein kleines Kertesz-Wörterbuch mit zehn Begriffen von Auschwitz bis Zeugnis-Geben. Außerdem ist viel Neues von Kertesz selbst zu lesen. Drei Erzählungen erscheinen erstmals auf Deutsch, darunter auch die für Claude Lanzmann geschriebene Erklärung "Warum gerade Berlin?", in der Kertesz auch über sein Verhältnis zu Deutschland Auskunft gibt. Das biografische "Dossier K. Eine Ermittlung" erscheint überhaupt zum ersten Mal. Kertesz hat dazu ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler und Lektor Zoltan Hafner literarisch überarbeitet.
Archiv: DU

London Review of Books (UK), 02.06.2005

Auch wenn sich das Thema (die amerikanische Erbschaftssteuer) zunächst staubtrocken anhört, Michael Graetz' und Ian Shapiros "Death by a Thousand Cuts: The Fight over Taxing Inherited Wealth" ist für David Runciman "eins der interessantesten Bücher überhaupt über Politik, Macht und den Lauf der Welt". Die Autoren gehen der rätselhaften Frage nach, wie es sein konnte, dass eine Steuer, die nur die reichsten zwei Prozent der US-Bürger betraf, nach und nach so breiten Widerstand hervorrief, dass sie abgeschafft wurde? Die Antwort lautet: Politische Taktik statt Erklärungen. Denn "wer in der Politik erklärt, hat verloren". Dieses Buch ist "ein Märchen über die Macht von Erzählungen in der Politik, und über die zunehmende Leichtigkeit, mit der individuelle Geschichten zum A und O der politischen Diskussion gemacht werden können. Die neue Informationstechnologie, mit ihren Gerüchte-Strömen und ihrem grenzenlosen Absatz persönlicher Geschichten, erweist sich vorwiegend als Feind einer sachkundigen öffentlichen Diskussion. Angesichts der endlosen Bereitschaft, der unvermittelten Stimme der persönlichen Erfahrung Beachtung zu schenken, wird es immer schwieriger, den größeren Zusammenhang aufrechtzuerhalten, der zur glaubhaften Verteidigung einer progressiven Politik gebraucht wird. Und das verschiebt die Politik unaufhaltsam nach rechts."

Weitere Artikel: James Davidson ist schlichtweg begeistert von "The Friend", Alan Brays Kulturgeschichte der gleichgeschlechtlichen Beziehung, die Freundschaft endlich nicht mehr "als Euphemismus oder als zweitklassige Alternative zur wahrhaftigeren sexuellen Beziehung" hinstellt. Wyatt Mason hat fast nur Gutes zu berichten über "Extremely Loud and Incredibly Close", dem zweiten Roman von Jonathan Safran Foer, der davon erzählt, wie ein Junge seinen Vater am 11. September verliert und versucht über dessen Tod hinweg zu kommen. Sehr spannend findet Peter Campbell Phil Baines Bildband "Penguin by Design: A Cover Story 1935-2005", der sämtliche Penguin-Buchumschläge versammelt, und der bald im V&A als Ausstellung zu sehen sein wird. Und in Sachen Respekt hält es Thomas Jones lieber mit Rap-Komiker Ali G als mit der britischen Regierung.

Spiegel (Deutschland), 30.05.2005

"Ich bin bisweilen boshaft, aber Hass kenne ich nicht", bekennt Marcel Reich-Ranicki in einem Gespräch, das der Spiegel mit ihm zum 85. Geburtstag geführt hat. Es geht vor allem um seinen Steit mit Joachim Fest und dessen Versuche, Albert Speer hoffähig zu machen: "Es ist falsch, Fest für naiv zu halten. Seine Speer-Präsentation hat nichts mit Gutgläubigkeit zu tun, wohl aber mit seiner politischen Überzeugung und Taktik und vielleicht auch mit seinem Patriotismus. Indem er Speer der Nation, vor allem den kleinen Nazis und den Mitläufern als anständigen, wenn nicht gar edlen Nazi verkauft hat, verhalf er ihnen zu einem guten Gewissen. Wenn sich ein Mensch mit einem so außerordentlichen Talent wie Speer verstricken ließ, dann waren letztlich alle, die mitgemacht haben, entsühnt. Der gigantische Erfolg der Speer-Bücher hat damit zu tun. Ich unterstelle Fest keine bösen Absichten, nur konnte und kann bei Speer von Verstrickung keine Rede sein. Er war der nationalsozialistische Schwerverbrecher, der sich von Göring oder Himmler nur dadurch unterschied, dass er gute Manieren hatte."

Nur in der Printausgabe gibt es einen Text von Peter Schneider zum Ende von Rot-Grün zu lesen. Schneider hatte angesichts der Niederlage in NRW zwar kurz das Gefühl, seiner Mannschaft sei "unerhörtes Unrecht geschehen", aber eigentlich weiß er es besser. Die Regierung hat ihr Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu senken, einfach nicht eingehalten. Und noch etwas kreidet er Gerhrad Schröder an: "Im Unterschied zu Tony Blair in England oder Göran Persson in Schweden ist es Schröder nie gelungen, den Traditionalisten in der eigenen Partei den Besitzanspruch auf 'die höhere Moral' zu entreißen und ihre Gerechtigkeitshuberei als Gruppenegoismus zu entlarven."

Archiv: Spiegel

The Nation (USA), 13.06.2005

Als Schatzkästlein mit leichten Mängeln preist Terry Eagleton Russell Jacobys Studie "Picture Imperfect" zur Kulturgeschichte der niemals perfekten Utopie. "Die meisten Utopien sind geruchslose, antiseptische Orte, unerbittlich stromlinienförmig und vernünftig, in der die Eingeborenen stundenlang über die herrliche Effizienz ihrer sanitären Einrichtungen plaudern. Alternative soziale Universen neigen dazu, nur leicht getarnte Versionen unseres eigenen zu sein - wie die Außerirdischen, die sich, wenn man einen Körperteil hinzufügt oder weglässt, selten groß von Donald Rumsfeld oder Tony Blair unterscheiden. Die wahren Aliens sind jene, die mitten unter uns sind."

Die Poesie ist am Ende, verkündet die notorisch angriffslustige Kritikerin Camille Paglia in ihrem neuen Buch "Break, Blow, Burn". Vom Titel inspiriert, zerbricht, sprengt und verbrennt Lee Siegel im Gegenzug ihr "überaus banales" Traktat genüsslich These um These, Wort um Wort. Heute gibt es nicht weniger gute Gedichte als früher, meint Siegel, sie seien nur schwerer zu entdecken. Und überhaupt schreibe Paglia für die Eitelkeit kultureller Halbintellektueller, die keine Zeit mehr zum Lesen haben und nur darin bestätigt werden wollen, dass es in der aktuellen beklagenswerten Krise sowieso nichts Interessantes zu verpassen gibt. "Die USA scheinen das einzige Land der Welt zu sein, in dem moralische Entrüstung zum intellektuellen Habitus geworden ist."
Archiv: The Nation

Merkur (Deutschland), 01.06.2005

In diesem Monat glänzt der Merkur mit einem wunderbaren Essay von Lee Siegel über das einst "produktive, fesselnde, unendlich einfallsreiche" Gangstergenre in der amerikanischen Film- und Fernsehgeschichte, das beinahe der Vergreisung anheim gefallen wäre, wenn es nicht von den Sopranos gerettet worden wäre. Seine Hymne auf das "verstörendste Schauspiel, das je im Fernsehen gezeigt wurde", dürfte ein klarer Appell des Merkurs an das ZDF sein, die Serie wieder ins Programm zu nehmen: "Nachdem die Kultur Gewalt und Erniedrigung metaphorisiert und kommerzialisiert und komödifiziert hatte - als ob Gewalt und Erniedrigung letztlich kulturelle Phänomene und nicht reale Erfahrungen wären -, brachten die Sopranos Brutalität und Roheit ins wirkliche Leben zurück. Das Ärgerliche am amerikanischen Gangsterfilm war immer, dass er einen trotz all seiner impliziten oder expliziten Analogien zwischen Gangstertum und der verborgenen Unterseite des American way of life von der Realität der Gewalt und Brutalität abgelenkt hatte. Die Sopranos sind dagegen erbarmungslos in der Entidealisierung ihrer Protagonisten. Der Witz dieser Serie behält niemals das letzte Wort zum Thema. Sie lässt einen nie vergessen, dass man an einem emotionalen und physischen Horror Gefallen findet."

Christian Demand (mehr hier) verspürt in seiner Ästhetik-Kolumne Anzeichen von Seekrankheit angesichts des "quälend horizontlosen Ozeans" jüngerer Kunst-Diskurse: Besonders irritiert haben ihn die Rede vom "iconic turn", der Katalog zur RAF-Ausstellung und die Ergriffenheit über Christos und Jeanne-Claudes New-York-Projekt "The Gates".

Im Print: Thomas Steinfeld beschreibt den Niedergang der klassischen Musik: "Jetzt gibt es die Philharmonia Hungarica nicht mehr, die RCA Victor, die Stimme seines Herrn, ist nur noch ein Label in einem Konzern, und wenn einer stirbt, gibt es anstelle eines Largo ein Lied wie 'Bridge Over Troubled Water' zu hören." Harald Hartung fragt angesichts all der neuen dichterischen Gesamtausausgaben, ob in Zeiten der Krise die Stunde der Lyrik schlägt. Und Rainer Rother, Leiter der Kinemathek im Deutschen Historischen Museum, beschreibt, wie der Dokumentarfilm mit Ross McElwee, Michael Moore und Errol Morris an Humor, aber auch an Subjektivität gewonnen hat: "Man könnte sagen, der Dokumentarfilm habe seither verschiedene Wege gefunden, 'Ich' zu sagen."
Archiv: Merkur

Plus - Minus (Polen), 28.05.2005

"Präsident Bush wird einen wichtigen Verbündeten in Europa wiedergewinnen, Russland seinen wichtigsten Lobbyisten im Westen verlieren, Chirac wird seinen wichtigsten Partner beim Aufbau einer multipolaren Welt verlieren, die Türkei länger auf eine EU-Mitgliedschaft und die Chinesen auf eine Aufhebung des Waffenembargos warten müssen". Verkehrte Welten? Nein, im Magazin der polnischen Rzeczpospolita sagt Jaromir Sokolowski voraus, wie sich die deutsche Außenpolitik unter einer (sehr wahrscheinlichen) schwarz-gelben Bundesregierung ändern würde. Aus polnischer Sicht hätte der Machtwechsel in Berlin jedoch einen Nachteil: womöglich wird die Vertriebenenlobby mehr Einfluss auf eine christlich-demokratisch geführte Bundesregierung gewinnen. Nicht auszuschließen ist, dass sich die CDU/CSU im Wahlprogramm dazu verpflichtet, in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" einzurichten. "Wir hoffen, dass Angela Merkel es im Namen einer echten deutsch-polnischen Versöhnung nicht zulassen wird, dass junge Deutsche und Polen durch diese historischen Streitereien belastet werden", schließt der Autor.

Eine "gigantische Veränderung in der Welt der polnischen Medien" stellt der Publizist und Politologe Klaus Bachmann fest. Vor allem durch das vom Springer-Verlag vor einem Jahr auf dem polnischen Markt eingeführte Tabloid Fakt ist blitzartig eine Entwicklung eingetreten, die in Westeuropa Jahre gedauert hat: eine ideologielose Personalisierung der Nachrichten. "Gegenwärtig konkurrieren die Medien nicht in Sachen Qualität der Nachrichten oder Scharfsinnigkeit der Kommentare, sondern beim Tempo der Informationen. Journalismus ist keine Berufung mehr, und das Festhalten an einer Berufsethik ist ein Luxus, den sich nur wenige Stars der Branche leisten können. Diese Phänomene haben die Journalisten nicht verschuldet, sie passen sich ihnen nur an". Bachmann plädiert dafür, die Zeitungen "wie alle anderen Produkte zu behandeln und Qualitätskontrollen zu unterziehen".
Archiv: Plus - Minus

New Yorker (USA), 06.06.2005

Margaret Talbot beschreibt den Wettbewerb an amerikanischen Highschools und den seltsamen Ehrgeiz der Studenten, unbedingt Jahrgangsbeste und Redner auf der Schulabschlussfeier werden zu wollen - und was sie alles dafür tun (müssen). Rebecca Mead analysiert die Qualitäten von Laura Bush als Amerikas First Lady. Paul Simms beschreibt die erste Pressekonferenz eines sprechenden Schimpansen. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "A Mouthful of Cut Glass" von Tessa Hadley.

In einer ausführlichen Sammelbesprechung einschlägiger Publikationen untersucht Alex Ross, inwiefern Aufnahmetechnologien das Musizieren und Musikhören verändert haben. Und Anthony Lane sah im Kino "Cinderella Man" von Ron Howard und Werner Herzogs "Der weiße Diamant". Lane vermisst zwar Klaus Kinski, aber zur Not geht's auch ohne: "Werner Herzog mögen heutzutage die Helden fehlen, die seiner Fähigkeit zum Staunen gewachsen sind. Doch wenn die Gelegenheit es verlangt, kann er die Welt immer noch auf den Kopf stellen."

Nur in der Printausgabe: eine Reportage aus Alaska über Rettungsversuche an einer aussterbenden Sprache, ein Porträt des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai, Jonathan Franzen erzählt, was es bedeutet, zu einer Jugendclique zu gehören, und Lyrik von C.K. Williams und W.S. Merwin.
Archiv: New Yorker

Literaturen (Deutschland), 01.06.2005

Der Schwerpunkt ist dem vom Publikum vergötterten, von der Kritik dagegen als "Philosoph für Horoskopleser" verspotteten brasilianischen Schriftsteller Paolo Coelho gewidmet. Hanna Leitgeb ist diesem "modernen Hermann Hesse" begegnet und versucht sich an seiner Ehrenrettung. Denn hinter der kitschig-esoterischen Fassade erweise sich Coelho als der wohl größte Popularisierer Nietzsches, als ein Schriftsteller, der die "spirituelle Ich-Stärkung als politische Basisarbeit" versteht, jedoch den Schatz der Erkenntnis nicht zur bloßen Metapher gerinnen lassen will: "Alles, was einen symbolischen Aspekt hat, muss auch einen physischen Aspekt haben, sonst kommst du nirgendwo hin. Manche Leser sind am Ende des 'Alchimisten' enttäuscht, dass der Hirtenjunge tatsächlich einen echten Schatz findet. Aber wenn du aufbrichst, um einen echten Schatz zu finden, dann solltest du auch mit einem solchen nach Hause kommen."

Weiteres: Giorgio Agamben versucht im Interview zu erklären, inwieweit der Kapitalismus "jene Absonderung, die die Religion definiert, ins Extrem" treibt. Buddenbrooks ade - Literaturen beobachtet, wie der Familienroman sich mit den Familien wandelt: weg von der Generationen-Saga, hin zur Mutter-Kind-betonten "heiligen Familie". Literatur im Kino huldigt Jun Ichikawa für seine Verfilmung von Haruki Murakamis Roman "Tony Takitani". Aus Paris berichtet Stefan Zweifel über lesenswerte Neuerscheinungen (ganz besonders Enrique Vila-Matas' "Paris ne finit jamais") und die zunehmende Fremdbestimmtheit des französischen Verlagswesens. In der Netzkarte entführt uns Aram Lintzel in die schillernd-banale Welt der Bloggs. Und schließlich: Was liest Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow? Eine Problemdiagnose - Alain Ehrenbergs Kulturgeschichte der Depression "Das erschöpfte Selbst" - und ein wirksames Antidepressivum - die von Kenneth Goldsmith herausgegebenen Andy-Warhol-Interviews "I'll Be Your Mirror".
Archiv: Literaturen

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.05.2005

Der legendäre Örley-Kreis, eines der ersten, am Rande der Legalität arbeitenden, von der Zentralmacht mit knirschenden Zähnen geduldeten Foren der demokratischen Opposition wurde vor 20 Jahren im Budapester Hotel Astoria gegründet. Einer der Begründer, der bildende Künstler Adam Tabor, erklärt, was das bedeutete: "Nicht die politischen Umwälzungen lösen die kulturelle aus, sondern umgekehrt: die Revolution des Geistes, der Literatur und Kunst führt früher oder später zur Revolution der Politik und Gesellschaft. Wir haben eine Revolution gemacht, die nicht in oder nach 1989, sondern zwischen 1969 und 1989 stattfand. Ich erdreiste mich zu sagen, dass die ungarische Wende durch die moderne und avantgardistische Kunst und Kultur der sechziger und siebziger und die Postavantgarde der achtziger Jahre angekündigt, sogar teilweise vorbereitet wurde."

"Nach den Treffen des Örley-Kreises ging ich abends oder morgens mit einem Brausen im Kopf nach Hause, auch im Traum diskutierte ich mit mehreren Dutzend Menschen weiter. Mit Liebe und Wucht, mit dem sicheren Gefühl, die Welt zu verändern" - erinnert sich ein anderer Begründer, Peter Racz im nächsten Beitrag.

Der im 1. Jahrhundert im Römischen Reich spielende Roman "Gefangenschaft" von György Spiro wird als die literarische Sensation des bald beginnenden Budapester Buchfestivals gefeiert. Der Autor erzählt im Interview, wie der Roman entstanden ist: "Ich wollte nicht wissen, wie das Christentum entstand, sondern wie die Welt aussah, in der es nicht nur entstand, sondern auch unglaublich schnell triumphierte. ... Das Römische Reich des 1. Jahrhunderts war unserer Welt sehr ähnlich, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher oder mentaler Hinsicht. Das überraschte mich sehr. Es war der Beginn des Kaisertums, ein blühendes Reich, eine sehr gut aufgebaute und organisierte und tolerante Welt, und doch brach der Wahnsinn aus, denn die Menschen empfanden irgendetwas unerträglich."

Der Publizist Andras Brody feiert ein Buch der Soziologin Agnes Losonczi, das Gespräche mit vielen Familien eines einzigen Budapester Bezirks enthält, und damit eine lokale Oral History des 20. Jahrhunderts liefert.
Stichwörter: Christentum, Römisches Reich

Guardian (UK), 28.05.2005

Als faszinierend, fesselnd und zum Glück etwas vereinfacht feiert Edmund Fawcett das Porträt der Medici, das der seit zwanzig Jahren in Italien lebende Tim Parks vorgelegt hat: Schön, wie Parks in "Medici Money" den Mythos von der wohlhabenden, kunstsinnigen Familie erst ausspinnt, um ihn dann zu widerlegen, meint Fawcett: "Seine Botschaft ist kristallklar: Was auch immer Sie bisher über die Medici gehört haben sollten - Politik, Kunst und Bankgeschäfte lassen sich nicht verbinden."

Überraschend kraftvoll findet Natasha Walter Jane Fondas Autobiografie "My Life So Far". Antworten auf Fondas Inkarnationen hat sie zwar nicht bekommen, aber doch ein Gefühl für ein Leben an Haarnadelkurven entlang: "Die große Schauspielerin, die zur Fitness-Königin wurde, die engagierte politische Aktivistin, die zur perfekten Ehefrau wurde mit chirurgisch vergrößerten Brüsten und unechtem Lächeln, jetzt die Legende im Ruhestand, die ein Comeback in einem entwürdigenden J-Lo-Vehikel gibt."

Weiteres: Schlank und schlagend findet Nicholas Lezard Eliot Weinbergers Buch gegen den Irakkrieg "What I Heard About Iraq". Jeder Absatz auf den rund 70 Seiten beginnt mit einem "Ich hörte" (zum Beispiel Donald Rumsfeld sagen. Hier ein Auszug, der in der Lettre abgedruckt ist). Kein einziges gutes Haar kann Mike Marqusee an Greil Marcus' "Biografie" von Bob Dylans "Like a Rolling Stone" lassen: "Die Prosa ist angestrengt, irritierend sentenziös, manchmal sinnlos." Außerdem versetzt der Guardian den Flecken Hay mit seinem Literaturfestival in Ausnahmezustand: 100.000 Besucher werden in dem 1.500-Seelen-Ort erwartet.
Archiv: Guardian

Nepszabadsag (Ungarn), 24.05.2005

Während und nach der Wende drehte sich in der ungarischen Medienlandschaft alles um die Printmedien, heute spielen sie neben dem Fernsehen nur eine Nebenrolle. Warum haben sie so enorm an Bedeutung, Prestige und Popularität verloren? Die größte ungarische Tageszeitung druckt die redigierte Fassung einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion zum Thema. Endre Hann, Geschäftsführer des Instituts für Meinungs- und Marktforschung Median, erklärt sich das so: "Die ungarische Presse erlitt seit der mit großen Illusionen erwarteten Wende zwei Erschütterungen. Erstens entstand durch die extreme politische Polarisierung des Landes ein enormer Druck auf die Journalisten, sich zur einen oder anderen Seite zu bekennen, ob es einem gefiel oder nicht. Daraus ergab sich wiederum eine Tendenz der oft peinlichen Überkompensierung; alle versuchten, die Leser von ihrer Ausgeglichenheit zu überzeugen. Der zweite Schock brachte die Marktwirtschaft und insbesondere die neuen multinationalen Eigentümer, die völlig neue Spielregeln vorgaben. ... Ich weiß, dass es vielleicht eine Illusion ist, aber ich neige doch dazu, mir von der Verbreitung des Internets, den neuen Räumen der Freiheit im WWW, eine fachliche und moralische Erneuerung zu erhoffen."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Polarisierung, Printmedien

Times Literary Supplement (UK), 27.05.2005

Clive James rezensiert den Rezensenten John Bayley, genauer gesagt dessen Band "The Power of Delight", in dem Bayleys Rezensionen von 1962 bis 2002 versammelt sind. "Bayley schwelgt in allem, was gut geschrieben ist, und schreibt dabei selbst so gut, dass er der Liste hinzugefügt werden muss. Wenn er eine Schriftstellerbiografie rezensiert, liest er (nochmals) die anderen Bücher des Biografen, jedes Buch des Biografierten und bringt sämtliche anderen relevanten Autoren ins Spiel, die ihm einfallen. Wenn er über einen Roman spricht, hat er nicht nur sämtliche weiteren Romane desselben Romanciers gelesen, sondern ebenfalls all diejenigen Romane anderer Autoren, die auch nur entfernte Ähnlichkeit mit jenem aufweisen ... Er sieht kein Ende von Verbindungen. Und das Beste daran: sie sind nicht theoretisch."

Reviel Netz' Stacheldraht-Buch ("Barbed Wire. An ecology of modernity") kriegt dagegen ordentlich sein Fett weg. Edward N. Luttwak, der eine mit Stacheldraht umzäunte Rinderfarm im bolivianischen Urwald betreibt, ätzt: "Laut Netz geht es Rinderzüchtern nicht um Fleisch- und Fellproduktion in eher unfruchtbaren Gegenden, sondern vielmehr um Machtausübung: 'Was bedeutet Kontrolle über Tiere? Sie hat zwei Seiten, einen Vorteil für den Menschen und eine Deprivation der Tiere.' Um die Wahrheit zu sagen - ich habe noch nie über diese schwer wiegende Frage nachgedacht, geschweige denn, dass mir in den Sinn gekommen wäre, wie tiefsinnig die Antwort ausfallen könnte."

Weiteres: Arthur M. Schlesinger Jr. verteidigt Franklin Delano Roosevelts Strategien sowie das von ihm erzielte Ergebnis während der Jalta-Konferenz im Februar 1945 gegen die weit verbreiteten Auffassung, Roosevelt sei Stalin zu naiv gegenübergetreten. Ridley Scotts "Königreich der Himmel" ist "visuell inspirierend und daher wert, angeschaut zu werden, aber der von Pferdewiehern und Kamelgrunzen gerahmte Schlachtenlärm lohnt das Hinhören nicht", urteilt Robert Irwin. Ein "außergwöhnliches Werk" sichtet D. J. Taylor mit der von Pierre Coustillas vorgelegten "Definitive Bibliography" zu George Gissing.
Stichwörter: Scott, Ridley, Stalin, Josef

Outlook India (Indien), 06.06.2005

Sheela Reddy beschäftigt sich im Titelpaket mit der zunehmenden Sensibilität für religiöse Symbole. Diese Zeichen werden deshalb so wichtig, weil sie in transnationalen Zeiten Identität versprechen, meint sie. In Indien fordert diese Empfindlichkeit schon Menschenleben, jüngst bei Bombenanschlägen auf Kinos, die die angebliche Sikh-Parodie "Jo Bole So Nihaal" zeigten. Aber auch "Hindus in über 50 Ländern weltweit entdecken ein brandneues Gefühl: den Verdruss darüber, wie Menschen anderen Glaubens ihre Götter und Göttinnen in Büchern, auf T-Shirts, Bikinis, Schuhen und Klobrillen verarbeiten. Vor zwei Wochen hat ein amerikanischer Hindu-Aktivist eine kalifornische Brauerei verklagt, die es gewagt hatte, Ganesh auf dem Etikett ihrer Flaschen zu zeigen, mit einem Bierkrug in einer seiner vier Hände. Der ihm dadurch entstandene Schaden beläuft sich nach seiner Ansicht auf eine Milliarde Dollar."
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Parodie

New York Times (USA), 29.05.2005

Dass The Nation 140 Jahre lang überlebt hat, ist Besessenen wie Victor S. Navasky zu verdanken, der nun seine Memoiren über die Zeit als Herausgeber des ruhmreichen linksliberalen Meinungsblattes veröffentlicht hat (erstes Kapitel). Thomas Powers ist ganz befeuert von solch journalistischer Hingabe. "Sein Bericht über die täglichen Hindernisse ist wunderbar vollständig, eine Art Anleitung, so detailliert wie eine Bezirks-Straßenkarte, über die praktischen, politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Herausforderungen, die auf jeden zukommen, der ein geldvernichtendes Magazin betreibt. Dazu gehört, Männer mit Millionen zu überzeugen, eine Kanzel bereitzustellen für ein kritzelndes Lumpenpack, das sich über alles aufregt, während man gleichzeitig die oft provozierten Mäzene irgendwie dazu bringen muss, sich auf ihre Zungen zu beißen." William F. Buckley Jr., Navaskys berühmtes Gegenstück von der konservativen National Review, antwortet auf Renditefragen in ähnlicher Manier. "Sie erwarten doch von der Kirche auch nicht, dass sie Profit macht."

In den höchsten Tönen lobt Toni Bentley Lyndall Gordons "Vindication" (erstes Kapitel), ein Porträt der Frauenrechtler-Ikone Mary Wollstonecraft: wegen der Eleganz, Klarheit und der vielen neuen Erkenntnisse. Sehr überzeugend beschreibt Reza Aslan in "No God but God" (erstes Kapitel) die innerislamische Auseinandersetzung über die zukünftige Marschrichtung der Umma, meint Max Rodenbeck. Der Westen sei Zeuge eines Konflikts, den er nicht beeinflussen könne, von dem aber nichtsdestotrotz die Zukunft eines Großteils der Welt abhänge. Adrian Nicole LeBlanc empfiehlt "Without Apology" (erstes Kapitel), Leah Hager Cohens Porträts von vier Boxerinnen, jedem, der mehr über Kampfesmut in jeder Hinsicht erfahren möchte.

Poker hat in den USA eine erstaunliche Renaissance erlebt, seit das Spiel im Fernsehen als perfektes Drama inszeniert wird. Im New York Times Magazine stellt Pat Jordan Daniel Negreanu vor, der vor kurzem zum besten Spieler der Welt gekürt wurde, dem seine Mutter aber immer noch ein Lunchpaket ins Casino mitgibt. "Mehr noch als Negreanus Wissen und erhebliche Intelligenz ist es die Aggressivität, die ihn zu einem wirklich Großen macht - manche nennen es auch Skrupellosigkeit. Einmal bluffte er seine eigene Freundin, ebenfalls eine professionelle Spielerin, aus einem großen Spiel. 'Ich habe mit gar nichts gesetzt, und sie hat zurückgezogen. Um noch ein wenig Salz in die Wunde zu streuen, hab ich ihr meine Karten gezeigt. Sie stürmte ins Bad, und wir konnten hören, wie sie Türen schlug, schrie und Sachen zerschmetterte. Als sie wieder herauskam, trat sie mir vors Schienbein und sagte, ich soll ein Taxi nach Hause nehmen.' Sie ist nicht mehr seine Freundin."

John Bowe geht der Frage nach, warum die meisten Hotel- und Barmusiker von den Philippinen kommen. 120.000 sollen über die Welt verstreut tätig sein. Und Cynthia Gorney porträtiert Tracy Della Vecchia, die Mütter vernetzt, deren Kinder im Irak für Bush und die USA kämpfen.
Archiv: New York Times