21.06.2005. In Literaturen erklärt Peter Handke, warum er nicht als Zeuge der Verteidigung in Den Haag auftreten will, obwohl Milosevic nicht schuldig im Sinne der Anklage sei. In der Lettre erzählt Isabel Hilton, wie sie die Fabriken in Chinas Hinterland gesäubert hat. In New Yorker erklärt eine junge Christin, worunter ihr Liebesleben leidet. Im Espresso amüsiert sich Umberto Eco über die Versöhnung zwischen der Linken und der Polizei. In der London Review of Books porträtiert Eliot Weinberger den chinesischen Dichter Gu Cheng. In Magyar Narancs ärgert sich Balint Szlanko über die faulen Franzosen.
Literaturen, 01.07.2005

Das neue Heft steht noch nicht im Netz, wird aber schon diskutiert.
Peter Handke schreibt, jener Handke, den
Slobodan Milosevic dem Haager
Jugoslawien-Tribunal als Zeuge der Verteidigung vorgeschlagen hatte. Doch statt dem Gericht Rede und Antwort zu stehen, liefert der
Schriftsteller lieber einen zwanzigseitigen Text für
Literaturen, in dem er gegen die
"Farce eines Gerichts" wettert, eine Anklage gegen die Nato fordert, jegliche von Milosevic ausgehende Befehlskette in Abrede stellt: "Ich bin zuinnerst überzeugt, dass das Welt-Tribunal, wie es da tagt (und tagt), im Saal Eins, der einstigen Haager Wirtschaftskammer, nichts taugt - und dass es, so viel es auch formal Recht sprechen mag,
von Anfang, Grund und Ursprung falsch ist und falsch bleibt und das Falsche tut und das Falsche getan haben wird - dass es speziell zur Wahrheitsfindung kein Iota beiträgt - dass es der nicht bloß edlen, sondern, zum Unterschied der anderen Ideen, unvergänglichen Idee des Rechts, den, bei aller so betonten äußerlichen Würde, scheußlich Hohn spricht: also das
FALSCHE GERICHT... Ja, meine 'innere Überzeugung' geht sogar so weit, dass ich Slobodan Milosevic nicht nur vor dem falschen Gericht sehe, sondern ihn auch - zwar ganz und gar nicht für 'unschuldig halte, aber für
'nicht schuldig im Sinne der Anklage', und genau so im Sinn der Organisation des Prozesses, dessen Gebaren wie dessen Führung durch die Richter."
Außerdem gibt es einen wie immer sehr schönen Text von Michael Maar über
Vladimir Nabokov, in dem er unter anderem den zweiten Band von
Brian Boyds monumentaler Biografie für Juli anzeigt. Und er erzählt: "Die Sammlung seiner genau präparierten Äußerungen 'Deutliche Worte' zeigt einen Mann allein auf einem Felsen, umspült von den Wellen der Mediokrität.
'Fabelhafte Aussicht von hier oben', lautet seine Antwort, als er 1971 nach seinem Standort in der Welt der Literatur befragt wird. Seine Verdikte sind berühmt; kurze, schneidende Bannsprüche über falsche Götzen und
überschätzte Zwerge wie Dostojewski, Stendhal, Balzac, Eliot oder Thomas Mann. Nur an wenigen ließ er ein gutes Haar; aber wen er liebte, den liebte er wirklich. Ein Mandarin, unbestechlich und stolz - wenn man mit jemandem Kirschen essen wollte, dann lieber nicht mit ihm."
Espresso, 23.06.2005

Film und Fernsehen beschäftigen den
Espresso in dieser Woche.
Umberto Eco schaut in die Röhre und sieht lauter sympathische Ordnungshüter. Auf der Leinwand oder dem Bildschirm sind die Polizisten heutzutage liebenswert, menschlich und
bisweilen sogar schwul. Bis Mitte der Achtiger war das ganz anders, berichtet Eco, und macht für den Wandel die Politik verantwortlich. "Das Klima ist heute anders, weil sich nach den
tragischen Jahren des Terrorismus die linken Parteien dem Staat zugewandt haben und deshalb die Ordnungskräfte nicht mehr anfeinden. Heute - eine wunderbare Ironie der Geschichte - ist es die Rechte, welche die Richter und deren Exekutive als
Verbrecher beschimpfen. So verstanden konterkariert das Fernsehen, also
Mediaset (die berlusconieigene Sendergruppe), die Attacken Berluconis gegen die Verwaltung. Bald wird es soweit sein, dass das Fernsehpublikum die Polizisten und Kriminalbeamten als
linke Truppe sieht, die kurioserweise unter der Führung einer Regierung agieren."
Fast schon zu respektvoll
befragt Cesare Balbo den
Regisseur Ermanno Olmi über sein aktuelles, noch im Dreh befindliches Werk
"Cento chiodi" und die Träume vom perfekten Film."Ideal wäre es, zur Kreativität der Commedia dell'arte zurückzukommen, zum
Stil des Canovaccio, wo man sich augenblicklich auf die durch die Kulisse gegebenen Umstände und die Situation einstellte, auch in Bezug auf die
Stimmung der Schauspieler und des Publikums."
Spectator, 20.06.2005

John Naughton
analysiert die Gründe für den Erfolg von
Google, das viele fälschlicherweise für die mächtigste Medienfirma der Welt hielten. Dabei ist Google eigentlich ein
Technologieunternehmen, erklärt Naughton, das unter anderem auch mit Medien zu tun hat. Für Google spreche eben vor allem eins: "Seine Technologie funktioniert - weshalb es die meisten Menschen nutzen, wenn sie im Netz etwas suchen." In den letzten Jahren ist es Google gelungen, die "smartesten" Wissenschaftler und Techniker um sich zu scharen, erklärt Naughton. Der Kolumnist sieht Google in Konkurrenz zu
Microsoft: "Google's Geschäftsplan lässt sich wie der von Microsoft in zwei Worten zusammenfassen", schreibt Naughton: "Die
Beherrschung der Welt." Anders als bei Bill Gates, der als Maxime "pro Schreibtisch ein Computer, auf dem Microsoft läuft" ausgegeben habe, sei es Googles "erklärte Absicht, jede Information zu sammeln und weltweit zugänglich und nutzbar zu machen".
Express, 20.06.2005

Pünktlich zum allgemeinen Aufbruch in die Sommerfrische
unternimmt Amandine Hirou eine soziologische Rundreise zu den
Stränden der Welt - an denen je nach Land ganz unterschiedliche Sitten und Gebräuche herrschen. Der Anthropologe Didier Urbain etwa behauptet in seinem Buch ("Balneaire. Une histoire des bains de mer", Ed. LBM) Folgendes: "Der Strand ist ein
großartiges Beobachtungsterrain, das viel über die Lebensweisen, die Gewohnheiten unserer Zeitgenossen erzählt, selbst über die politische, sozialen oder religiöse Situation des jeweiligen Landes." Das seltsame Phänomen, dass gerade viele westliche Urlauber an Massenstränden unbeirrt "Ruhe" suchen und diese dort auch zu finden glauben, erklärt Urbain so: "Zweifellos weil der 'Strandurlauber' im Grunde seines Herzens die Gesellschaft Gleichgesinnter sucht. Er geht nicht dorthin, um einfach nur ein Bad im Meer zu nehmen, sondern sich ins
Bad der Geselligkeit zu stürzen." Neben vielen anderen erstaunlichen Details erfährt man unter anderem, dass an einigen chinesischen Stränden eine
nach sozialem Rang gestaffelte "Liegeordnung" besteht, je nach dem, ob man Chef, Angestellter oder Arbeiter ist.
Times Literary Supplement, 17.06.2005

Die
Erforschung des Glücks ist ein prosperierendes Feld der Sozialwissenschaften. Mit gehöriger Skepsis
begutachtet die Psychologin Carol Tavris einige populärwissenschaftliche Neuerscheinungen zum Thema. Dauerhaftes Glück ist nicht machbar, meint sie, überhaupt kann man Hochgefühle kaum selbst herbeiführen. "Alles deutet darauf hin, dass jeder von uns so etwas wie einen
Glücksthermostat in sich hat, der uns dahinblubbern lässt auf dem Pegel, auf dem wir eingestellt sind. Der Pegel fällt unter extremen Umständen (Krieg, Gewalt, Verlust, dauerhafte Armut) und steigt in Zeiten des Feierns, bleibt aber ansonsten recht beständig
auf mittlerer Stufe."
Außerdem
erinnert John McGahern an den irischen Unabhängigkeitskämpfer
Ernie O Malley und seinen Klassiker "On Another Man?s Wound".
Besprochen wird die
Ausstellung "The creation of celebrity" mit Bildern des frühen Starporträtisten
Joshua Reynolds in der Tate Britain. Und Richard Horton
kann Raymond Tallis' Plädoyer für bedingungsloses
Vertrauen in die Ärzteschaft nur sehr bedingt zustimmen.
Al Ahram Weekly, 16.06.2005

Kompetent und kompakt
beschreibt der palästinensische Knesset-Abgeordnete
Azmi Bishara (mehr
hier und
hier) den "gordischen Knoten", der die politische Entwicklung blockiert: das
Rentier-Staats-Modell (
mehr), die Legitimitätskrise des Nationalstaats, die Ölinteressen der Amerikaner und schließlich der Islam, der auf verschiedenen Ebenen wirkt. "Arabische Regime haben
islamische Rhetorik als Mittel benutzt, um sich eine Daseinsberechtigung zu verschaffen, während sie gleichzeitig den Aufstieg undemokratischer radikalislamischer Bewegungen ausgenutzt haben, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Die staatliche Unterdrückung der
undemokratischen islamischen Alternative bewirkt zudem, dass deren Agenda als die einzig vorhandene Alternative erscheint. Denn die anderen politischen Bewegungen ohne einen
Märtyrerkult ziehen sich schnell aus dem Kampfgeschehen zurück, sobald sie sich mit Repressionen konfrontiert sehen."
Al-Ahram proudly presents: die erste Ausgabe der
Cairo Review of Books, der neuen monatlichen Literaturbeilage. Darin
widmet sich ein leider nicht namentlich genannter Autor der jüngsten Veröffentlichung von
Nagib Machfus ("Ahlam Fatrat Al-Naqaha", etwa: Die Träume aus der Zeit der Genesung): ein Buch mit "konzisen und konzentrierten" Texten -
fiktionalisierten Träumen, die zusammen genommen einen "Rückblick auf ein Jahrhundert der kulturellen und politischen Ambitionen, Projekte und Fehler" ergeben. Der Rezensent ist beeindruckt, das Machfus immer noch über eine frische erzählerische Stimme verfügt hat und so überhaupt nicht zur Predigt neigt: "Man gewinnt nicht den Eindruck, dass der Autor im Alter endlich alle Wahrheiten herausgefunden hat. Einige dieser Texte stiften ein innere Unruhe, die der nach dem Erwachen aus einem Traum, wenn man sich zwischen hier und dort, zwischen Schlafen und Wachen befindet, nicht unähnlich ist."
Träume Nr. 90 und 97 sind gleich mit abgedruckt.
Zweimal Palästina: Zum einen wird eine Würdigung von Edward Saids Kampf für die palästinensische Sache
nachgedruckt, verfasst von seinem Sohn
Wadie Said und ursprünglich erschienen als Nachwort von von Saids letzter Essay-Sammlung "From Oslo to Iraq and the Roadmap". Außerdem
rührt David Treselian die Trommel für
Elias Sanbars "
Figures du Palestinien: identite des origines, identite de devenir", in dem
palästinensische Identität anhand von drei historischen Momenten beschrieben wird: die Palästinenser im osmanischen Reich, unter britischem Mandat, und als "unsichtbare" Nation nach 1948. Und schließlich noch
Samir Farids Bericht vom
Filmfestival in Rotterdam.
Economist, 17.06.2005

Die
britischen Zeitungen haben erhebliche Schwierigkeiten, im
Internet zu bestehen,
berichtet der
Economist, und dies nicht zuletzt aufgrund der ausgezeichneten - weil aus öffentlichen Geldern finanzierten - Online-Präsenz der
BBC. "Ein Teil des
Online-Problems, das sich den Zeitungen stellt, besteht darin, dass sie eben Zeitungen sind: Sie verstehen nichts von beweglichen Bildern und Grafiken. Die Fernseherfahrung der BBC gibt ihr ein Gefühl dafür,
was gut im Internet funktioniert. Entscheidend ist ebenfalls, dass sie über weit mehr Journalisten verfügt als jede Zeitung. Als das vierköpfige Nacht-Team der
Sun-Webseite diese Woche im Eiltempo über das Urteil in
Michael Jacksons Kindermissbrauchs-Prozess Bericht erstattete, war Herausgeber Pete Picton bestürzt zu sehen, wieviel die BBC zu bieten hatte und über welche Ressourcen sie verfügte. 'Sie hatten eine Mikro-Seite', sagt er, 'massenhaft Journalisten, verschiedene Blickwinkel und ihr
eigenes Filmmaterial. Wir können mit ihrem Material einfach nicht mithalten.'"
Weitere Artikel: Der Economist
berichtet über
"dieses Gefühl, nicht zu gewinnen", das sich in den USA immer breiter macht und die öffentliche Zustimmung zum
Irak-Krieg schwinden lässt. Darüber hinaus hat der Economist eine Reihe von Büchern
zum Thema
Kinderlähmung gelesen und lobt
Daniel J. Wilsons "Living with Polio: The Epidemic and its Survivors" als besonders gelungenes Porträt dieser Krankheit, die Amerika als eine Art "persönlicher Beleidigung" empfand. Der "undiplomatischen Diplomatie" seines kürzlich verstorbenen ehemaligen UN-Botschafters
Adolfo Aguilar Zinser, so die
Einschätzung des Economist, hat es Mexiko zu verdanken, dass es auf der UNO-Ebene niemals im Schatten der USA stehen musste. Und schließlich:
Israels Ölsucher werden
bibelfest, wie der Economist
weiß.
Nouvel Observateur, 16.06.2005

Das französische und niederländische Nein zur Verfassung hat Europa in eine
"Identitätskrise" gestürzt,
stellt der US-Ökonom und Europa-Theoretiker
Jeremy Rifkin (
mehr) in einem Debattenbeitrag fest. Er schreibt weiter: "Seltsamerweise steht in der aktuellen Debatte weniger die europäische Verfassung als die
Zukunft des Kapitalismus auf dem Spiel, und das nicht nur in Europa, sondern weltweit. Die Europäer fragen sich zunehmend, ob das Modell der freien oder sozialen Marktwirtschaft der
ideale Weg zu einer zukünftigen Wirtschaftsordnung ist. Die Referenden haben den französischen und niederländischen Wählern ein indirektes Mittel geboten, ihren Hoffnungen, Vorurteilen und Ängsten bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung Ausdruck zu verleihen." Leider orientiere sich die aktuelle Diskussion darüber im Spannungsfeld der beiden Extrempole
Kapitalismus-Sozialismus. Doch wenn es einer reformierten europäischen Sozialwirtschaft gelänge, die "Spannung zwischen dem Unternehmensgeist des Kapitalismus und der sozialen Solidarität des Sozialismus" im Gleichgewicht zu halten, könnte dies ein
"Modell für den Rest der Welt" werden.
Plus - Minus, 21.06.2005
Dorota Maslowska, der Jungstar unter den polnischen Schriftstellern (
"Schneeweiß und Russenrot"), hat gerade ihr zweites Buch "
Paw krolowej" (wörtlich: "Pfau der Königin") veröffentlicht. Im
Interview mit dem Magazin der
Rzeczpospolita spricht sie über ihr neues Buch: "'Paw krolowej' ist eine Welt von
ekstatischen Egoisten, die ihre eigene Religion sind. Gut ist, was gut aussieht, was Vorteile bringt. Aber in einer Welt ohne Werte ist das Gute vor allem ein exzellentes Material für die Medien, zum Beispiel, wenn ein Manager einem Sänger befiehlt, ein Mädchen im Krankenhaus zu besuchen, und dann eine Pressekonferenz dazu einberuft. Die
Popkultur ist eine Kultur der Abkürzung, der Zusammenfassung, der Etikette; meine Helden sind keine wirklichen Menschen, sie können sich jedes Gesicht ankleben, je nach medialer
Konjunktur".
Weitere Artikel: Der
Historiker Krzysztof Pomian erinnert sich, wie er - als Kind einer jüdischen Familie mit sozialistischen Traditionen - in den fünfziger und sechziger Jahren zum
Regimekritiker, zum "Revisionisten", wurde: "Ich fand, dass meine kommunistische Vergangenheit
mich dazu verpflichtete, eine nichtkommunistische
Zukunft zu gestalten". Der Publizist
Andrzej Stach analysiert den unterschiedlichen Umgang mit der
Stasi-Vergangenheit in Deutschland und Polen: hier die Birthler-Behörde, dort politischer Grabenkampf. Aber: "In Polen gab es keine
'westpolnischen' Offiziere und Generäle, Anwälte, Polizisten und Wissenschaftler, die die Stelle der kompromittierten 'ostpolnischen' Spezialisten einnehmen könnten." Deshalb sei der 'Schlussstrich'
Anfang der neunziger Jahre das Beste gewesen. Nach dem NATO- und EU-Beitritt sollte man aber mit der letzten
Reifeprüfung für diesen Staat nicht warten und mit der kommunistischen Vergangenheit abrechnen, schließt Stach.
Point, 16.06.2005

Nach der Rückkehr der entführten Journalistin Florence Aubenas
buchstabiert Bernard-Henri Levy in seiner Kolumne heute die zentralen
Fragen der Geiselproblematik durch: Lösegeld oder nicht? Öffentlicher Rummel oder nicht? Ist Journalismus noch möglich? Über Aufgaben und Möglichkeiten des
Journalismus schreibt er: "Sollte man, wie einige bereits vorschlagen, von der Aufdeckung zu riskanter Konflikte absehen? Sollte man, wie viele amerikanische Reporter, in die widernatürliche Praxis des
embedding einwilligen? Sollte man sich, im Gegensatz dazu, verstecken? Sich einschleusen? Sollten Journalisten sich also verkleiden und maskieren? (?) Sollen sie im Namen der Wahrheit eine neue Art von 'Agenten' werden? Ich weiß, diese
Fragen sind tabu. Ich weiß, dass sie die eigene Ethik eines Tuns berühren, das Sartre - der selbst ein großer Journalist gewesen ist! - gern als Öffentlichkeit, als Transparenz selbst bezeichnete. Egal. Ich weiß nicht, wie dieser Beruf, wenn er aus dem Martyrium von Florence und Hussein alle Lehren ziehen will, es vermeiden kann, diese Fragen zu stellen."
New York Times, 19.06.2005

Die rapide Entwicklung der
Stadt von 1860 bis 1920 lässt sich direkt an der Sprache der Romane ablesen, behauptet
Robert Alter in seinem schmalen Buch
"Imagined Cities". Jed Perl zumindest ist nach der Lektüre
überzeugt, dass es ohne Städte keinen Flaubert, Dickens oder Kafka gegeben hätte. "Nur die Metropolis konnte ebenso exaltiert groteske wie
unglaublich karge Bilder heraufbeschwören. In Kafkas
"Prozeß" sieht Alter den verwirrenden Lärm, das Durcheinander und die unüberschaubare Unordnung der städtischen Szenerie als ein 'äußeres Spiegelbild der moralischen und
spirituellen Unordnung' im Innern von K.'. Die Leere der Stadt, von ein paar eindrücklichen Bildern durchbrochen - Schemen hinter einem Fenster, Geräusche aus einem Betrieb - beschwören eine innere Landschaft herauf."
Garry Trudeau leidet zum Glück nicht am
"Woody-Allen-Syndrom",
schreibt Kurt Andersen in seiner Besprechung von Trudeaus fein austariertem
Comicband über Einsatz und Verwundung eines Soldaten im Irak-Krieg. "Weder an
Phase 1 (verzweifelt versuchen, ernst zu sein) noch
Phase 2 (die Fähigkeit verlieren, lustig zu sein). Diese Geschichte von Krieg und Amputation und Depression und physischer Therapie kann sogar lustig, ja vielleicht noch überraschender, frei von jedem
Antikriegs-Argument sein."
Weitere Besprechungen: Phoenixgleich lässt
John Crowley mit "Lord Byron's Novel" (
erstes Kapitel) den legendären
letzten Roman Lord Byrons aus der Asche der Geschichte (Byron hat das Manuskript nach eigenen Aussagen verbrannt, weil es sich zu sehr der Realität annäherte) wieder auferstehen,
notiert Christopher Benfey, der die Mischung aus
"gotischer Extravaganz" und "pikaresker Abenteuergeschichte" allerdings für gewöhnungsbedürftig hält.
Ethisches Verhalten wird durch die Gesellschaft und ihre Kultur bedingt und nicht durch die Gene,
erfährt Sally Satel aus der Schrift "The Ethical Brain" (
erstes Kapitel) des Neurowissenschaftlers
Michael S. Gazzaniga.

In den USA wird die
Schwulenehe zwar zunehmend von den Gerichten akzeptiert, aber noch lange nicht von der Bevölkerung und der Politik,
berichtet Russell Shorto, der sich für das
New York Times Magazine bei der rechtsreligiösen
Arlington Group umgesehen hat, die mit ihrem
Marriage Amendment Project professionell und dezidiert gegen allzu Liberales vorgeht.
Außerdem: Guy Trebay
widmet sich dem Phänomen des martialisch-clownesk anmutenden
"Krump-Tanzens" (
mehr), das im südlichen L.A unter den Jugendlichen der ärmeren Viertel Furore macht. Anlass ist wohl
David LaChapelles Filmdokumentation
"Rize". Richard A. Clarke
befürchtet, dass die amerikanische
Freiwilligenarmee der USA der Menge an globalen Konflikten auf Dauer nicht gewachsen ist. Im Kurzgespräch mit Deborah Solomon
spricht sich der oberste
Gesundheitswächter Richard Carmona für die
Stammzellenforschung aus.
Lettre International, 18.06.2005

In dieser vor lesenswerten Artikeln überbordenden Ausgabe geht es unter anderem um
globale Geschäfte. Isabel Hilton begibt sich zur verlängerten Werkbank der Welt, in die Fabriken in
Chinas Hinterland. Und berichtet von Arbeitern, die in der globalen Produktionsschlacht verheizt werden und nun todkrank um Entschädigungen kämpfen. Vor dreißig Jahren war Hilton das erste Mal in einer chinesischen Fabrik, als die Studenten, auch ausländische, in die Betriebe verschickt wurden. Das "vermittelte mir einen bleibenden Eindruck vom
theatralen Gehalt der chinesischen Revolution. An unserem letzten Morgen sollten wir die Werkshalle aufräumen, da sich
ausländische Besucher angemeldet hätten. am Nachmittag wurden wir - um niemand anderen handelte es sich bei den Besuchern - feierlich in eben dieser Halle herumgeführt." Hier ein kleiner
Auszug.
Linda Polman beschreibt den Verdrängungskampf internationaler Hilfsorganisationen, wie sie ihn 1994 im Flüchtlingslager von
Goma erlebt hat (
Auszug). Dort buhlten
250 NGOs, die längst wie kommerzielle Unternehmen agieren, mit acht verschiedenen UN-Abteilungen, etwa zwanzig staatlichen Geberorganisationen, unzähligen örtlichen Hilfsorganisationen und neun internationalen Militärkontingenten
um die Hilfsbedürftigen. "Als ich nach Goma kam, ein Jahr nach dem Einmarsch der Hutu, flatterte über den Hunderttausenden von blau-weißen UNHCR-Planen, die die Flüchtlinge zum Bau von Hütten bekommen hatten, noch ein
Meer von Fähnchen mit Firmenlogos. Hatten solche Banner einst die Funktion, den Konfliktparteien zu signalisieren, dass hier humanitäre und keine militärische Organisationen am Werke waren, so sind sie jetzt Grenzmarkierungen im
Kampf um Aufmerksamkeit. Es war, als stünden Wahlen bevor."
Außerdem erklärt
William Langewiesche nicht nur, wie man als Journalist im Irak überlebt, sondern beobachtet auch den
Verteidiger Saddam Husseins, wie er sich auf den Prozess seines Lebens vorbereitet. Mark Danner enthüllt die
vorsätzliche Täuschung der UN vor dem Irakkrieg (
Auszug) und Michel Braudeau schreibt über die Entwicklung
Amazoniens, die nicht in Gang kommen will (
Auszug).
London Review of Books, 23.06.2005

Von einer Zweckehe der besonderen Art
weiß Patrick Whright auf sehr unterhaltsame Weise zu berichten. Eine neu erschienene
Enzyklopädie der Tarnung ("
DPM: Disruptive Pattern Material; An Encyclopedia of Camouflage: Nature - Military - Culture") hat ihn über die große Rolle aufgeklärt, die
Maler und bildende Künstler bei der Entwicklung der militärischen Tarnung gespielt haben. Was für so manchen eine echte Überraschung war: "Ich erinnere mich gut an den Anfang des Krieges, schrieb
Gertrude Stein 1938. Ich war mit Picasso auf dem Boulevard Raspail, als der erste getarnte Lastwagen vorbeifuhr. Es war Nacht, wir hatten schon von Tarnung gehört, aber noch nichts davon gesehen, und
Picasso schaute verblüfft und rief: 'Das waren doch wir, die das geschaffen haben -
das ist Kubismus!'"
In einem großartigen Porträt
stellt uns Eliot Weinberger den chinesischen
Dichter Gu Cheng vor. Geboren wurde er 1956 in Peking. Seine glücklichste Zeit erlebte er während der Kulturrevolution, als seine Familie zum
Schweinehüten in die Salzwüste der Shandong Provinz geschickt wurde. Die Menschen dort sprachen einen Dialekt, den Gu Cheng nicht verstand, und in seiner Isolation wurde er
aufgesaugt von der Natur: 'Die Stimme der Natur wurde die Sprache meines Herzens. Das war das Glück.'" Es hielt nicht, Gu Cheng, der unter anderem in Neuseeland und Berlin lebte, wurde verrückt. 1993 tötete er seine Frau und sich.
Weitere Artikel: Pankaj Mishra
berichtet sehr ausführlich von den bürgerkriegsartigen Zuständen im
Königreich Nepal, um dessen Herrschaft sich
Royalisten und Maoisten streiten, und dies besonders heftig, seit die Königsfamilie dem Amoklauf von Prinz Dipendra zum Opfer gefallen ist. In den Short Cuts
lässt sich Thomas Jones von
William Arkins neuem Buch ("
Code Names: Deciphering US Military Plans, Programmes and Operations in the 9/11 World") in die vertrackte und streng geheime Welt der
Decknamen einweisen. Und schließlich
hat Peter Campbell die Ausstellung
"Views from Africa" besucht (die zur Zeit im British Museum zu sehen ist) und dort nicht nur entdeckt, was
afrikanische Urlaubsmitbringsel über das Verhältnis von (afrikanischem) Macher und (europäischem) Käufer aussagen, sondern auch die wesenhafte Vergänglichkeit der Kunst.
Magyar Narancs, 16.06.2005

Nach dem Verfassungsdebakel
geißelt Balint Szlanko, Brüssel-Korrespondent der ungarischen linksliberalen Wochenzeitung, die
Bequemlichkeit der Westeuropäer: "Im Westen hebt das widerwärtige Monster der Günstlingswirtschaft sein Haupt, mit
Fremdenfeindlichkeit in seinen Augen ... Die
faulen Franzosen - und im Allgemeinen die faulen Westeuropäer - haben keine Lust, mit den günstiger arbeitenden Osteuropäern, und den günstiger produzierenden osteuropäischen Volkswirtschaften in einen Wettbewerb zu treten." Die entscheidende Frage nach dem Verfassungsdebakel ist laut Szlanko, "ob die europäische Öffentlichkeit akzeptieren kann, dass die EU das einzige Instrument zur Bewältigung des immer härteren Wettbewerbs in der globalisierten Welt darstellt. Nur die Europäische Union
kann die Globalisierung nutzen, ihre Früchte ernten, aber uns gleichzeitig vor ihren unangenehmsten Wirkungen verteidigen. Nur
grenzüberschreitende Institutionen können mit grenzüberschreitenden Phänomenen erfolgreich umgehen."
Der jungen Politologin
Gizella Pribilszky kommt der Hang der Franzosen zum
(Sozial)staat fast unheimlich vor: "Die Kohäsions- und Regionalpolitik konserviert das Dorfleben mit Mitteln des gemeinsamen Haushalts. Der französische Arbeitnehmer muss insgesamt dreißig Stunden pro Woche, also sechs Stunden pro Tag an seinem Arbeitsplatz schuften. Danach steigt er in die staatliche Bahn oder U-Bahn, hebt sein Geld bei der staatlichen Bank ab, um die Rentenbeiträge der staatlichen Rentenversicherungsanstalt einzuzahlen. Für den Erhalt dieser
halbstaatlichen Volkswirtschaft kommt natürlich die neoliberale Wirtschaftspolitik der EU auf. Die staatlichen französischen Unternehmen sind übrigens auf dem europäischen Markt dem Wettbewerb ausgesetzt, nur zu Hause nicht."
Weiteres: ein
Bericht über die Renovierung des Esterhazy-Schlosses im westungarischen Fertöd, wo
Franz Josef Haydn 25 Jahre als Kapellmeister diente, und eine erfreute
Rezension "über 'Hungarian Cinema - From coffee house to multiplex', eine Geschichte des ungarischen Films, die der britische Filmwissenschaftler
John Cunningham verfasst hat (
hier ein Gespräch mit dem Autor auf Englisch).
New Yorker, 27.06.2005

Hanna Rosin
porträtiert das
Patrick Henry College in Purcellville, Virginia, wo junge
Christen zu Politikern ausgebildet werden. Eine der Studentinnen ist Elisa Muench. "Elisa, die im College Fotografien der Bushs und Cheneys aufgehängt hat, versucht, täglich in der Bibel zu lesen, gewöhnlich vor der Morgengymnastik. Sie erklärt, dass man sie an jeder anderen Schule eine echte Konservative nennen würde - wofür sie sich auch selbst hält - 'aber im Patrick Henry gehöre ich eher zu den Liberaleren'." Sie glaubt, dass die Bibel
"Männer und Frauen verschiedene Rollen" zuweist. Trotzdem liege ihr Liebesleben derzeit etwas brach: nachdem die Jungs realisiert hatten, das "ich Politik wirklich liebe und eine Rolle darin spielen will", wurden ihre
Karrierepläne zu einem
Problem. "Die meisten Jungs am Patrick Henry erwarten, dass sich Frauen einfach 'zurückhalten', unverzüglich die Identität einer Ehefrau und Mutter annehmen und dies 'als Segen betrachten' sollten. Das passt ihr nicht. 'Ich glaube einfach, dass Gott mehr von mir erwartet, aber das kann man hier
nicht so gut sagen'."
Weiteres: Louis Menand
rezensiert ein Buch, das den amerikanischen Kybernetiker
Herman Kahn, Atomtheoretiker und vermutlich Vorbild für Stanley Kubricks "Dr. Seltsam", als "kulturelles Phänomen" zu begreifen versucht (
"The Worlds of Herman Kahn", Harvard). Alex Ross
denkt anlässlich eines Minifestivals mit dem Titel "Sound Projections" über
Filmmusik im Allgemeinen und
Philipp Glass' Bedeutung in diesem Metier ("Koyaanisqatsi") nach. Hilton Als
bespricht eine Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" und W. Somerset Maugham "The Constant Wife". Anthony Lane
sah im Kino eine Neuverfilmung von
"Bewitched" von Nora Ephron mit
Nicole Kidman in der Hauptrolle,
"Me and You and Everyone We Know" von Miranda July und
"Yes" von Sally Potter.
Nur in der
Printausgabe:
Jane Kramer porträtiert einen ehemaligen Künstler, der die
albanische Politik neu erfindet, zu lesen ist außerdem eine Reportage über eine geplante
Pazifiküberqerung auf einem selbstgebauten Floß, die
Erzählung "The Blow" von
J.M. Coetzee und
Lyrik von Seamus Heaney, Eliza Griswold und Robert Hass.
The Nation, 04.07.2005

David Corn und Jeff Goldberg
erzählen ein unbekanntes Detail der
Deep-Throat-Saga, wie es auch John Le Carre nicht besser hätte erfinden können: Als stellvertretender FBI-Direktor war Mark Felt zeitweise damit beauftragt, die anonyme Quelle von Bob Woodward and Carl Bernstein ausfindig zu machen. Er war also
sein eigener Jäger. "Aus dieser bevorzugten Position heraus konnte Felt, der seine Fähigkeiten in Geheimdienstmissionen gegen deutsche Spione im Zweiten Weltkrieg erlangt hatte, sich den
Rücken frei halten und weiterhin die beiden Reporter unterrichten, deren Artikel den Präsidenten zu Fall bringen sollten, dem er diente."
Adam Shatz
trauert um den libanesischen Journalisten
Samir Kassir, eine der führenden progressiven Stimmen des nahen Ostens. Am 2. Juni explodierte eine unter seinem Wagen angebrachte
Bombe, als er zur Arbeit in die Redaktion der Zeitung
Al-Nahar fahren wollte.
Elet es Irodalom, 17.06.2005

Die Soziologin
Agnes Losonczi erzählt im
Gespräch über ihr neues Buch, für das sie siebzig mittelständische Familien in einem einzigen Budapester Stadtbezirk unter anderem darüber befragt hat, wie sie die letzten fünfzehn Jahre nach der Wende erlebt haben: "Die Mehrheit von ihnen sehnt sich überhaupt
nicht in den Sozialismus zurück. Überraschenderweise selbst jene Menschen nicht, die sehr unter den Veränderungen gelitten haben, die vor der Wende
bereits arm waren und nach der Wende
noch ärmer wurden. Soweit wir feststellen konnten ist das Verhältnis der Ungarn zur Wende
nicht davon geprägt, wie sich ihre Situation seitdem konkret verändert hat - ob vielleicht ihre Möglichkeiten jetzt eingeschränkter sind -, sondern es ist geprägt davon, wie sich die Ungarn gesellschaftlichenGerechtigkeit, die
'gute Gesellschaft' im Innern vorstellen."
Der
Literaturwissenschaftler Gergely Angyalosi feiert Zsuzsa Rakovszkys (mehr
hier) lange erwarteten neuen Roman "Sternschnuppenjahr", der aus der Perspektive eines Kindes die erdrückende
Welt der 1950er Jahre in Ungarn beschreibt. "Die poetische Kraft des Romans entsteht durch die Spannung zwischen dem raffinierten Lyrischen der Sprache und der Unmittelbarkeit und Reduziertheit der kindlichen Wahrnehmung." Der Roman kann laut Rezensent ohne jeglichen historischen Anspruch das Lebensgefühl von damals vermitteln, zum Beispiel in der "wunderschönen, traumbildartigen
Vision einer Flucht, in der vier zusammengehörige Menschen (Mutter, Kind, Großmutter und Amme) und die längst weggelaufene Katze nicht nur das
zum Gefängnis gewordene Land, sondern auch das von Angst und Beklemmung
vergiftete Dasein in einem Boot verlassen."
Weiteres:
Sandor Radnoti stellt ein neues Buch der Filmwissenschaftlerin
Yvette Biro vor, das der
Langsamkeit als ästhetisches Prinzip
in der Filmgeschichte gewidmet ist: "Die Langsamkeit ist zwar kein absoluter Wert an sich, aber sie soll
verteidigt und gewürdigt werden, wenn die Geschwindigkeit zum einem absoluten Wert avanciert."