28.06.2005. Für die Briten ist Europa nur eine Frage des Geldes, glaubt Nepszabadsag. Für die New York Review of Books dürfen die Europäer auch Nationalisten sein. Für Prospect ist die EU-Verfassung vor allem ein stilistischer Irrtum. Für Le Point war das Non ein Angriff auf Kant. Die Gazeta Wyborcza wünscht sich etwas mehr Respekt für die Gründer der EU. Der Spectator stellt uns die WaBenzis in Afrika vor. Im Guardian schreibt Annie Proulx über eine Cowboy-Ausstellung im britischen Warwickshire. Im Nouvel Obs verfolgt der Sozialphilosoph Jean-Pierre Dupuy die Frage des Bösen. Im New York Times Magazine führt Michael Ignatieff einen platonischen Ein-Mann-Dialog über den Demokratieexport der Amerikaner.
Nepszabadsag, 22.06.2005
Der in London lehrende
Politikwissenschaftler und ungarische
EP-Abgeordnete George Schöpflin kritisiert im
Interview Tony Blairs Europapolitik: "Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass sich die Briten Europa
nicht verpflichtet fühlen. Sie betrachten die ganze Sache sehr pragmatisch: was können wir da herausholen, was ist gut für uns?
Das war's. Die Vorstellung, dass Europäer zu sein auch darüber hinaus eine Bedeutung haben könnte, ist für die Briten nebensächlich, zufällig, oder sogar
schädlich." Laut Schöpflin sei Tony Blairs Kritik an der Wirtschaftspolitik Deutschlands und Frankreich zwar berechtigt, aber "er versucht alles in die Sprache der Wirtschaft und des Handelns zu übersetzen, um möglichst viel
politische Inhalte auszufiltern." Der Briten-Rabatt
ist für die Engländer laut Schöpflin "keine Frage des Geldes mehr, er wurde zu einem Symbol. Er bildet einen wesentlichen Teil der EU-Mitgliedschaft
Großbritanniens."
Spectator, 25.06.2005

Auf Suaheli heißen sie
WaBenzi: Die Führer Afrikas, die internationale Hilfsgelder zuallererst in eine gepanzerte Langversion des
Mercedes S600L investieren (zu
bestellen bei der südafrikanischen Dependance). Anlässlich des britischen
Schuldenerlasses für die ärmsten Länder der Welt und der wieder belebten
Live 8-Konzerte
zeigt Aidan Hartley, dass ein Großteil der für die bettelarme Bevölkerung bestimmten Gelder in Stuttgarter Luxuslimousinen investiert werden. "So muss es nicht sein. Die Afrikaner selbst sehen die WaBenzi als
Symbol des kranken Afrikas. Ihr erster Märtyrer war Thomas Sankara, der Präsident Burkina Fasos, der seine Minister zwang, ihre Mercedesse gegen
Renault R5s einzutauschen. Er ließ sie sogar joggen. 1987 wurde Sankara von Blaise Campaore gestürzt und
hingerichtet. Campaore ist noch immer an der Macht." (Dieser wie auch alle weiteren verlinkten Artikel können nach kostenloser Registrierung gelesen werden.)
Ruth Dudley Edwards
klagt über den wirklichkeitsfernen,
zynischen britischen Boulevardjournalismus dieser Tage, der aus Bürotürmen und nicht mehr von der Straße kommt. Mit maoistischem Esprit rät sie zur Umerziehung. "Ich würde die
Journalismusschulen schließen und niemandem erlauben, in einer Zeitung in London anzufangen, ohne zuvor
zehn Jahre lang in regionalen Büros gearbeitet zu haben. Dann hätten wir vielleicht Politiker, die die Leute wählen wollen und Journalisten, die die Menschen besser machen wollen."
Außerdem
lässt Roger Scruton die Gedanken und das Leben
Jean Paul Sartres in knapper Folge Revue passieren.
Clarin, 25.06.2005
Das
Melodrama,
behauptet der mexikanische Journalist und Schriftsteller
Carlos Monsivais in
N, der Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung
Clarin, ist das prägende Grundmuster bei der Ausbildung des Bewusstseins der Bewohner Lateinamerikas: "Welche Beziehung besteht hier zwischen
Sentimentalität und Politik? Wie weit nimmt jeder Einzelne die Politik durch den Filter seiner
education sentimentale wahr? Die Antwort lässt für gewöhnlich wenig Platz für Zweifel: In der Tradition Lateinamerikas gelangt man zur
politischen Erfahrung durch das Format des
Melodramas - das Land leidet und braucht uns, der Unschuldige wird geopfert, die Schuld an allem, was uns zustößt, lässt sich auf einem einzigen Foto, in den spezifischen Gesichtszügen eines Einzelnen zusammenfassen. Die Demokratie verzichtet hier bis heute in krisenhaften Momenten niemals auf die Sprache, die Metaphern und Erzählungen des Melodramas. In den letzten Jahren hat man immer wieder einmal politische Episoden als '
Telenovelas' bezeichnet, während man genauer von missratenen, nicht überzeugenden Melodramen sprechen sollte."
Außerdem gibt es ein Porträt des argentinischen Malers und Bildhauers
Xul Solar (eigentlich Oscar Alejandro Agustin Schulz Solar). Im
Museum für Lateinamerikanische Kunst in Buenos Aires ist soeben eine umfangreiche Retrospektive dieses surrealistischen Einzelgängers und engen Freundes von
Jorge Luis Borges eröffnet worden.
Outlook India, 04.07.2005

Nanu? Aussgerechnet "Hindutva-Hardliner" Lal Krishna Advani bezeichnet
Mohammed Ali Jinnah, den Staatsgründer Pakistans und bösen religiösen Eiferer indischer Geschichtsbücher als Vorbild in Sachen
Säkularismus? Die Historikerin Ayesha Jalal nimmt das unerwartete Lob und die berechenbare Entrüstung von indischer Seite
zum Anlass, die
Gründungsmythen der beiden Länder neu zu betrachten: "Das säkulare Indien und das islamische Pakistan, als Zwillinge geboren, durch Bitterkeit zu Feinden geworden, haben ihre nationalen Identitäten in
gegenseitiger Abgrenzung entworfen. Der indische Säkularismus ist die Antithese von allem, was mit Teilung und Pakistan zu tun hat." Allerdings, fährt Jalal fort, "würde man erwarten, dass ein Volk, dass so stolz auf seine säkuläre Weltanschauung ist, sich von der verbreiteten Fehleinschätzung frei macht, der zufolge die Teilung ein Resultat der
religiösen Differenz zwischen Hindus und Muslimen war." Was wirklich der Grund war, und was das mit Advani und der derzeitigen politischen Annäherung zu tun hat, erklärt Jalal in einem sorgfältigen und fundierten Text.
Außerdem: Kennen Sie
Shivani?
Fragt Manjula Padmanabhan. Shivani war eine der berühmtesten und
verehrtesten Autorinnen Indiens, doch als sie 2002 starb, kannte man sie im literarischen Establishment trotzdem nicht, denn sie schrieb auf
Hindi. Auch Padmanabhan hat erst jetzt von ihr erfahren, durch die Erinnerung von Shivanis Tochter Ira Pande. K. S. Shaini
berichtet von einer bedeutenden archäologischen Fundstelle im Bundesstaat Chhattisgarh: "eine
1.500 Jahre alte Stadt mit Palästen, Tempeln, Häusern und einem buddhistischen Bildungszentrum, das Platz für 10.000 Studenten bot." Maloy Krishna Dhar
beglückwünscht Bernard-Henri Levy zur Erfindung eines "neuen Genres": Sein Buch "Who Killed Daniel Pearl", schreibt er, ist "sowohl ein packender Roman, als auch eine scharfsinnige Ermittlung".
Und zweimal Indira Gandhi: Inder Malhotra
empfiehlt einen Prachtband mit Fotos von
Raghu Rai, die der politischen Bedeutung der
Nehru-Tochter mit dem umstrittenen Vermächtnis gerecht werden. Dazu passt - oder passt nicht - der nur im Netz zugängliche
Text von Arun Jaitley, der Rais Ausrufung des Notstandes 1975 mit
Hitlers Machtübernahme vergleicht.
Guardian, 25.06.2005

Im richtigen
Wilden Westen hätte die
Cowboy-Ausstellung im englischen Warwickshire niemanden hinter dem Ofen hervorgelockt, bemerkt Annie Proulx, die sich im Titel daran macht, den Mythos der
Helden zu Pferde gründlich zu
zerpflücken. Cowboys wollten vor allem Geld verdienen, waren oft
homosexuell und vor allem nicht viel länger als 20 Jahre im Einsatz. "Viele waren schlechtbezahlte und ärmlich bewaffnete
Teenager aus Texas, die in ihrer kurzen Zeit nach dem Bürgerkrieg Kühe auf die Weidegründe im Norden trieben (...) . Heroisch wurde der Cowboy erst unter den Federn und Pinseln der Maler des sogenannten Alten Westens. George Catlin (
mehr), Frederick Remington (
mehr), Charles Russell (
mehr) und Will James sind immer noch die Meister ihrer Disziplin. In ihren Hunderten von Bildern und Skulpturen, die mutige Männer in
schrecklichem Kampf - meist gegen Indianer - darstellten, haben Remington und Russell den Cowboy als Helden erschaffen."
Salman Rushdie weist darauf hin, dass es ziemlich
viele Wahrheiten gibt. Im Fall Guantanamo zählt er drei Gruppen: die Wahrheit der ausländischen Beobachter, die Wahrheit der Demokraten und die der Republikaner. "Die konservative Wahrheit, die so etwas wie
'konservative Fakten' schafft, lautet in etwa so: Es gibt einen Krieg, und diese Gefangenen sind unsere Todfeinde. Warum gibt es soviel Geschrei darüber, wie man Leute behandelt, deren Verbündete ihre eigenen
Gefangenen köpfen? Und warum gibt es keinen Aufschrei über die eindeutig nachgewiesene Zerstörung von heiligen Büchern des Christentums und Judentums in muslimischen Ländern?"
Ozon, 23.06.2005
Stefan Chwin ist zurück. Der
Schriftsteller aus Danzig veröffentlicht seinen neuen Roman "Die Frau des Präsidenten" ("Zona prezydenta"), pünktlich zu den politischen Auseinandersetzungen um eine von der
Präsidentengattin Jolanta Kwasniewska geführte charitative Stiftung und ihre dubiosen Sponsoren. Allerdings erklärt Chwin im
Interview: "Das hat nichts mit der gegenwärtigen First Lady zu tun. Mich interessieren wichtigere Fragen als irgendwelche Gerüchte um einen
Untersuchungsausschuss. Dank eines befreundeten Arztes las ich einige Texte eines psychisch Kranken. Seine Ansichten zur gegenwärtigen Lage in Polen und der Welt haben mich beeindruckt. In meinem Buch erzählt ein solcher Patient seine Geschichte, weil ich den gegenwärtigen Seelenzustand im Prisma der
Geisteskrankheit darstellen wollte. Ich wollte unsere Phobien, Obsessionen und Ängste betrachten, die wir ungern laut eingestehen."
Al Ahram Weekly, 23.06.2005
Tutenchamun, im Bewusstsein der Neuzeit der emblematische Pharao, ist ja derzeit wieder in den Schlagzeilen: Es gibt Ausstellungen, CT-Analysen, Rekonstruktionen seiner Gesichtszüge. Jill Kamil
nimmt das zum Anlass, die Ereignisse zu rekapitulieren, die dazu führten, dass die
Entdeckung der Grabstätte des jugendlichen Pharaos durch
Howard Carter 1922 zum Politikum werden konnte: "Als Carter nur vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges seine Entdeckung im Tal der Könige machte, erlebte Ägytpen eine
Welle des Nationalismus. Eine konstitionelle Monarchie stand in den Startlöchern, und es war daher unvermeidbar, dass die Entdeckung einer intakten königlichen Grabstätte politische Bedeutung erlangen würde. Carter aber schien sich dessen nicht bewusst zu sein." Er dachte vielmehr, er könnte die Bestimmung des Fundes festlegen, exklusive Reportagerechte verteilen und - dümmster Fehler! - die Forderungen der damals noch
französisch dominierten Behörden übergehen. Ein Fehler, der ihn teuer zu stehen kam.
Weitere Artikel: In einem bewegenden Text
beschreibt Youssef Rakhaaus den
Tod seines Vaters und wie die Trauer ihn erstmals verstehen ließ, was
Sartre mit der Trennung von Selbst und Bewusstsein meinte. Maggie Morgan
porträtiert Samir Morcos als Autorität
moderner koptischer Identität, vor allem aber als Stimme einer
antisektiererischen Vernunft und als jemanden, der sich nicht scheut, oppositionelle Identitätspolitik - die vermeintlich gerechte Frontbildung der Verfolgten - als Engstirnigkeit zu bezeichnen. Ali Guindi
porträtiert Hoda Wasfi, die Chefredakteurin des vierteljährlich erscheinenden
Literaturmagazins Fusoul, das sie mitbegründete, als der sozialistische Realismus das Gebot der Stunde war und das sie durch den philosophischen und politischen Zeitgeist hindurch gestaltend in die Gegenwart begleitete.
Times Literary Supplement, 24.06.2005

Der norwegische
Oxford-Soziologe Stein Ringen
empfiehlt in einem sehr lesenswerten Text über die Armut und ihre Bekämpfung - besonders in Afrika - zwei Bücher zum Thema:
"The End of Poverty" von
Jeffrey Sachs und
Gareth Stedman Jones' Ideengeschichte
"An End to Poverty?", die die Diskussion um die Bekämpfung der Armut seit
Paine und Condorcet nachzeichnet. "Paine und Condorcet stimmten in Sachen Armut überein, aber nicht in der Frage der Umverteilung. Paine wollte die
Reichen besteuern und das Geld den Armen geben. Condorcet setzte auf
Erziehung. Ihm war wichtig, die Machtlosen in die Lage zu versetzten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen." Sachs folgt Condorcet. "Natürlich müssen die Reichen den Armen helfen, aber eher durch Investitionen als durch Spenden. Der Wunsch nach Verbesserung ist
universal. Menschen werden immer dafür arbeiten, ihren Lebensstandard und den ihrer Kinder zu verbessern. - wenn sie es denn können. Das Problem der Armut ist gelöst, wenn jeder 'die
Chance hat,
die Leiter nach oben zu steigen'."
Freudig erregt
zeigt sich Martin West über die Rekonstruktion eines
Sappho-Gedichts, mit dem sich die Zahl der vollständig erhaltenen Gedichte auf ganze
vier erhöht. Die
Fragmente waren 2004 von
Martin Gronewald und
Robert Daniel in der Universität Köln entdeckt worden. "Dieser Text, entdeckt in der Kartonnage einer
ägyptischen Mumie, ist das früheste bisher bekantte Manuskript ihres Werks. Er wurde im dritten Jahrhundert vor Christus kopiert, nicht viel mehr als dreihundert Jahre, nachdem sie ihn geschrieben hatte." Leider haben wir keine deutsche Übersetzung gefunden. West präsentiert seine Englische. Es geht ums
Altern! "... This state I oft bemoan; but what's to do?' / Not to grow old, being human, there's no way."
Außerdem: Tom Holland
empfiehlt Filmemachern,
Xenophon zu lesen. Robert Elsie
widmet dem albanischen Schriftsteller
Ismail Kadare ein ausführliches Porträt, das online leider nur in Auszügen zu lesen ist.
Economist, 24.06.2005

In einem ausführlichen Artikel
versucht der
Economist die Frage zu klären, warum das
religiöse Amerika politisch zunehmend
nach rechts abdriftet und macht dafür liberale Tendenzen in anderen Bereichen der Gesellschaft verantwortlich - etwas die Verbote der Schulgebete und die Zulassung von Abtreibung durch die Rechtsprechung: "Die Tatsache, dass die Gerichte der öffentlichen Meinung in diesem allgemein religiösen Land so weit voraus waren, stärkte der religiösen Rechten in zweierlei Hinsicht den Rücken: Zum einen hatte dies zur Folge, dass weiße Gläubige sich ins politische Getümmel zu stürzen. Und zum anderen überzeugte dies
alle religiösen Richtungen sich miteinander zu verbünden. Protestanten und Katholiken, die sich einst ständig in den Haaren lagen, haben jetzt Gemeinsamkeiten entdeckt, insbesondere was die Frage der Abtreibung angeht."
Weitere Artikel: Diesen Herbst jährt sich die Schlacht um Trafalgar zum 200. Mal, und der
Economist nimmt sich ihres Helden und Siegers -
General Nelson - an. Drei Neuerscheinungen werden vorgestellt und gelobt, ganz besonders
Roger Knights Biografie "The Pursuit of Victory", die nach Ansicht des
Economist das Zeug zum
endgültigen Nelson-Porträt hat. Und der
Economist gibt der Legende des jiddischen Theaters
Lilian Lux das letzte Geleit.
Außerdem: "Hallo Nachbarn!" Im
Dossier schaut der
Economist nach
Osten, von den unmittelbaren Anrainerstaaten der EU bis hin nach Russland, und geht der Frage nach, wie eine
osteuropäische Integrationspolitik in Zukunft aussehen könnte. Dazu gibt es auch etwas auf die Ohren: ein
Interview mit dem Zentraleuropa-Korrespondenten
Robert Cottrell.
Nouvel Observateur, 23.06.2005

Im Interview
erläutert der französische
Sozialphilosoph Jean-Pierre Dupuy, warum er die Natur- und politischen Katastrophen des 20. und 21. Jahrhunderts in einen Zusammenhang bringt. Auf die Frage der Reporter, ob man denn diese Dinge miteinander verbinden dürfe, erklärt er: "Vergleichen heißt nicht vermengen. Mein Buch ("Petite Metaphysique des tsunamis", Seuil) ist eine kurze Einführung in die moderne Philosophie seit dem 18. Jahrhundert, die ich als von der
Frage des Bösen verfolgt lese. Die großen Katastrophen, die naturbedingten ebenso wie die politischen, haben dermaßen viele
Erdbeben zur Folge gehabt in der Art und Weise, wie wir das Böse darstellen. Ich folge der Spur dieser 'Tsunamis' und arbeite ihre Unterschiede wie auch ihre Ähnlichkeiten heraus. Auschwitz ist der Gipfel des beabsichtigten Bösen, aber das Wort, das wir benutzen, um dem Schrecken einen Namen zu geben, bezeichnet eine
Naturkatastrophe: Shoah."
New York Times, 26.06.2005
Michael Ignatieff diskutiert im
New York Times Magazine kundig und historisch weit ausholend die
Mission Amerikas, weltweit die
Demokratie zu verbreiten. Verschiedene Präsidenten haben es versucht: in Deutschland, in Vietnam, in Osteuropa. Ein nobles Vorhaben, das aber zu zwiespältigen Ergebnissen führen kann, wie George W. Bush gerade erfährt. "Der Terrorismus hat dazu geführt, dass die Freiheit fremder Völker und die nationalen Interessen der USA übereinstimmen. Aber nicht jeder glaubt daran, dass ein
demokratischer Naher Osten Amerika sicherer machen wird, nicht mal mittelfristig. Thomas Carothers vom
Carnegie Endowment for International Peace etwa zweifelt an der 'leichtfertigen Annahme, dass es eine direkte Verbindung zwischen demokratischem Fortschritt und dem Austrocknen des islamischen Terrorismus gibt.' Eine Demokratisierung in Ägypten könnte zum Beispiel kurzfristig nur die
Muslimische Bruderschaft an die Macht bringen."
Weitere Artikel: Nancy Updike
porträtiert den israelischen
Schriftsteller Etgar Keret, der mit seiner politischen und
ideologischen Enthaltsamkeit recht originell und erfolgreich ist. Jaime Wolf
stellt den Radiomoderator Nic Harcourt vor, der mit seiner Show
Morning Becomes Eclectic zum Herold
unbekannter Musiker geworden ist. Im Titel
grübelt Jonathan Dee, wie man Kindern erklären soll, dass sie noch vor ihrer Geburt mit
HIV infiziert wurden.
In der
New York Times Book Review: Die polnische
Journalistin Hanna Krall hat in ihrem Erzählband "The Woman From Hamburg" (
erstes Kapitel) einen neuen Stil kreiert, den die begeisterte Elena Lappin "
Holocaust Gonzo Journalismus"
tauft. "Sie berichtet die grundsätzlichen Fakten, versieht sie aber mit einem romanhaften Dreh, was ihre Interviews zu eleganten, vielschichtigen Erzählungen macht. In Madeleine G. Levines subtiler Übersetzung spricht Kralls ausdrücklich kunstlose Prosa mit der Kraft der Fiktion - eine
mysteriöse Verschmelzung, die sie in ihrer Geschichte 'Salvation' auch anerkennt. 'Bei meiner Arbeit als Reporterin habe ich gelernt, dass logische Geschichten, ohne Rätsel und Löcher, in denen alles offensichtlich ist, meistens unwahr sind. Und dauernd geschehen Dinge, die man
beim besten Willen nicht erklären kann.'"
Weitere Besprechungen: Wer etwas über den skandalumwölkten Dichter
Robert Lowell erfahren will, sollte besser Lowells
Lyrik lesen statt der jetzt erschienenen Briefe (
Auszüge),
rät Walter Kirn. Jeffrey Steingarten
findet Tom Hodgkinsons Vorschläge, jede Stunde des Tages perfekt mit
Müßiggang zu füllen, bis drei Uhr nachmittags ganz nett, dann wird es ein wenig eintönig. Hodgkinson ist übrigens nicht nur Autor von "How to Be Idle" (
erstes Kapitel), sondern seit 1993 auch der Gründer der schönen britischen Zeitschrift
The Idler. Sollten wir das
New York Police Department mit Taschenausgaben der
"Sonnette aus dem Portugiesischen" ausstatten,
fragt sich David Orr, dem in zwei aktuellen Romanen aufgefallen ist, dass Gewalt auch durch Poesie verhindert werden kann.
New York Review of Books, 14.07.2005
Mit ihrem Nein zur Verfassung - und vor allem zur stetigen Erweiterung - haben die
Franzosen und Niederländer der EU einen
großen Dienst erwiesen,
meint ein recht realpolitscher
William Pfaff: "Die EU ist keine internationale Hilfsorganisation, sie ist nicht dazu da, die
Menschheit zu reformieren oder alle Zivilisationen miteinander zu versöhnen (auch nicht, um die amerikanische Außenpolitik zu unterstützen, wie einige Amerikaner das gerne hätten). Das niederländische und französische Votum beweist ein Gespür dafür, dass die
oberste Verpflichtung einer jeden politischen Gemeinschaft, ob nun national oder international,
sich selbst gegenüber besteht, gegenüber der eigenen Sicherheit, der eigenen Integrität und dem eigenen erfolgreichen Funktionieren. Die Europäische Union muss erfolgreich sein, um konstruktiven Einfluss auf andere zu haben, und dies stand auf dem Spiel."
Tony Judt
bekräftigt noch einmal, dass der Irakkrieg "der falsche Krieg zur falschen Zeit" war, und stellt drei Bücher vor, die dies mehr oder weniger unternauern:
David Rieffs desillusionierter Blick auf die Möglichkeiten humanitärer Interventionen
"At the Point of a Gun",
Andrew J. Bacevichs Abrechnung mit der Militarisierung der USA
"The New American Militarism" und
Amnesty Internationals Report on the United States.
Weitere Artikel: Der Physiker
Freeman Dyson ist hocherfreut über die neue
Norbert-Wiener-Biografie
"Dark Hero of the Information Age", die nicht nur das des
Mathemikgenie würdigt, sondern endlich auch den
Erfinder der Kybernetik ins rechte Licht setzt. Arthur Kempton
empfiehlt eine neue
Billie-Holiday-Biografie von Julia Blackburn,
"With Billie".
Prospect, 01.07.2005

"Die
Verfassung ist tot - Lang lebe die Verfassung!" Auch nachdem Franzosen und Niederländer mit "Nein" gestimmt haben,
sieht der amerikanische
Politologe Andrew Moravcsik das europäische Projekt keineswegs als gescheitert an. "Weit entfernt, den Niedergang der EU zu demonstrieren, zeigt sich ihre Stabilität und Legitimation in der Krise. Der
zentrale Irrtum der Gestalter der EU-Verfassung ist stilistischer und
symbolischer Art, nicht substantieller. Die Verfassung enthält eine Reihe bescheidener Reformen, wie sie von den meisten Europäern bevorzugt werden. Jedoch haben die europäischen Politiker das
pragmatische Konstrukt selbst gekippt, indem sie die Reformen zur großen Vorlage für konstitutionelle Veränderungen und eine Demokratisierung der EU aufgeputzt haben."
Larry Siedentop, Gisela Stuart, John Kay, Sunder Katwala, Charles Grant, Philippe Legrain und Michael Maclay sehen das
skeptischer. (Schade, dass nur amerikanische und britische Autoren nach ihrer Meinung gefragt wurden.) Fast alle betonen übrigens, wieviel
sozialer Großbritannien ist als Frankreich oder Deutschland. "Schneller auf als jedes andere Land in Europa baut Großbritannien gerade seinen Wohlfahrtsstaat auf, der zum Teil auf dem skandinavischen Modell basiert", schreibt etwa Moravcsik.
Weitere Artikel: David Rieff
hinterfragt das
politische Bewusstsein der
großen
Spenden- und Hilfsorganisationen am konkreten Beispiel der Hungersnot-Katastrophe in Äthiopien Mitte der achtziger Jahre. Jonathan Power, der zwanzig Jahre lang als Freiwilliger am sozialistischen Aufbau in
Tansania mitgewirkt hat und dem Land schließlich verbittert den Rücken kehrte,
berichtet 21 Jahre später von seiner Rückkehr in das Land, in dem sich gleichzeitig nichts und alles geändert zu haben scheint. Und Jonathan Heawood
verteidigt die neue
BBC-Comedy-Serie "The Thick of It" (in der sich ein unglückseliger Minister und sein nutzloser und manipulativer Mitarbeiterstab Sandkastenkämpfe liefern) gegen Anschuldigungen, sie stellte die
politische Realität der britischen Regierung verzerrt und klischeehaft dar.
Nur im Print: das ehemalige Tory- und jetztige Labour-Mitglied
Robert Jackson erklärt in einem Brief an
Dear Angela Merkel, warum Großbritannien und Deutschland so ein
feines Team sein könnten.
Point, 23.06.2005
Bernard-Henry Levy meldet sich nochmal zum
Nein der Franzosen zur EU-Verfassung zu Wort und geht zum
Gegenangriff über. "Die Franzosen", erklärt er, "haben nicht nur zu Chirac NEIN gesagt, sondern auch zu
Kant. Sie haben sich nicht gegen Europa entschieden, sondern gegen den zentralen Text der Aufklärung. Es ist ein souveränistisches, populistisches, nationalistisches, manchmal auch fremdenfeindliches Votum - aber es war ein Votum, das, vor allem anderen, in der Gesamtheit dieser Reflexe, Partei ergriff gegen die Aufklärung und ihr
kantisches Ideal der Freiheit." Nach einem kleinen Rekurs auf Hannah Arendt und Frage der Menschenrechte plädiert Levy für Europa und eine gemeinschaftliche Verfassung: "Nur Europa", schreibt er, "wird den Arbeitern, Konsumenten, Bürgern der europäischen Länder die
Rechte gewähren, die nicht einem endgültig globalisierten Warenstrom gehorchen."
Gazeta Wyborcza, 25.06.2005

Der
Politologe Aleksander Smolar erklärt in einem lesenswerten
Interview die Krise zwischen den
Gründern der EU und den
neuen Mitgliedsstaaten: "Die EU
war immer ein offener Raum, ohne klare Grenzen. Dagegen rebellieren heute die Länder des 'alten Europas'. Viele Menschen in Westeuropa haben das Gefühl, dass wir letztes Jahr ein sicheres und reiches Haus betreten haben und uns verhalten, als hätten wir damit jemandem einen Gefallen getan -
ohne Respekt für diejenigen, die das Haus erbaut haben und jetzt unterhalten. Und dann noch unsere Politiker, die den alten Bewohnern erklären wollen, was moderne Wirtschaft ist, und ihnen
Egoismus vorwerfen. Man muss sich bewusst machen, dass wir für sie ferne Cousins sind, von deren Existenz sie vor kurzem nichts wussten, und deren Geschichte und Geografie erst lernen müssen."
"Paradoxerweise kann der neue, konservative iranische Präsident
Mahmud Ahmadinedschad zu einem demokratischen Umsturz beitragen. Angesichts der zu erwartenden repressiveren Politik wird sich die
Opposition einigen, und die unzufriedenen Menschen werden auf die Straßen gehen". Diese Meinung äußert der liberale
Studentenführer Abdollah Momeni in einem
Gespräch mit der Gazeta Wyborcza. Er glaubt weder an den Sinn einer neuen Revolution, noch an eine
militärische Intervention der USA. Beide würden Tausende von Toten kosten. Dagegen sollten die Reformer auf den Aufbau einer Zivilgesellschaft
setzen, die ihre Rechte von der Regierenden einfordern wird - wie in der
Ukraine (!).
Aber auch über die Lage in
Russland ist man
besorgt. Für die Politologin
Lilia Schevtzova führt die
Zentralisierung der Macht dazu, dass die politische Verantwortung und die Schuldzuweisungen sich auf
Präsident Putin konzentrieren. Auch die wirtschaftliche Monokultur, die Russland zu einem Öl-Staat a la Nigeria macht, und die Tendenzen zur staatlichen
Monopolisierung zum Beispiel im Gassektor versprechen nichts Gutes. Hinzu kommt eine missglückte Sozialpolitik. Noch ist eine Entwicklung wie in
Kiev unwahrscheinlich, aber das System wankt schon, meint Schevtzova. "Das monopolistisch-korporative System funktioniert nur, wenn folgendes vorhanden ist: eine tragende Ideologie, die Bereitschaft zur staatlichen
Repression, eine soziale Duldung dieser Repression und eine Isolierung von der Außenwelt. Wenn eines wegfällt, wankt das ganze System. Allein die Tatsache, dass man im Kreml nach neuen Feinden sucht und zur
stalinistischen Rhetorik greift, zeugt von einer wachsenden Unruhe in der Regierung".
Espresso, 30.06.2005

Der marokkanische
Schriftsteller Tahar ben Jelloun kritisiert den palästinensischen Ministerpräsidenten Mahmoud Abbas, der Anfang Juni wieder Palästinenser öffentlich hat
hinrichten lassen, die mit Israel
kollaboriert hatten. Die Abschaffung der Todesstrafe ist ein Zeichen der Zivilisation, meint Jelloun. "Die
progressiven Araber haben immer geglaubt, dass Palästina mit gutem Beispiel voran gehen und vor allem anders sein muss als die anderen Staaten der Region, die zum größten Teil von Politikern angeführt werden, die die Demokratie verabscheuen und mit
feudalen Methoden regieren."
Repression oder Toleranz? Im Titel
registriert der
Espresso eine zunehmende
Feindseligkeit gegenüber
Ausländern. Die "Extracomunitari"
fallen der Öffentlichkeit momentan vor allem dadurch auf, dass sie öfter im Gefängnis sitzen.
Elet es Irodalom, 27.06.2005
György Klein, Professor Emeritus der
Karolinska-Universität und 25 Jahre lang Mitglied der
Nobel-Kommission für Medizin, verrät im
Gespräch, wie die Entscheidung über den
Nobelpreis gefällt wird: "In der Nobel-Kommission sitzen fünfzehn, die verschiedensten Gebiete der medizinischen und biologischen Forschung repräsentierende Professoren. Diese Gebiete kann man so wenig miteinander vergleichen wie
den Apfel mit der Birne. Jedes Kommissionsmitglied vertritt ein Gebiet, aber in den anderen Gebieten kennt er sich nicht so gut aus. ... Die Entscheidung hängt letztendlich davon ab, welcher Vertreter der zwei aussichtsreichsten Kandidaten die anderen von der Bedeutung des vertretenen Gebietes überzeugen kann. Es geht hier nicht mehr darum, wer wirklich gut war, denn alle Kandidaten waren ausgezeichnet. Den Preis bekommt, wessen Paradigma
die Welt veränderte."
Der Anglist
Tamas Benyei versucht die für Kontinentaleuropäer manchmal rätselhafte englische Seele in einer
Sammelrezension der Bücher des
Philosophen und Essayisten
Roger Scruton und der Schriftsteller
Jonathan Coe (mehr
hier),
Ben Elton (mehr
hier) und
Irvine Welsh (mehr
hier) zu entschlüsseln.
Express, 27.06.2005

Dominique Lagarde ist durch Marokko und das Atlasgebirge gereist und
beschreibt eine
erstarkte Berberbewegung in Marokko, die
durch Kommissionen, in lokalen Initiativen und mit Kulturfestivals für die Anerkennung der eigenen Kultur und Sprache in der marokkanischen Verfassung wirbt. Etwa zehn Millionen Marokkaner gehören zu den Berbern, erklärt Lagarde, das seien etwa
40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dass die Sprache der Berber auch in den Schulen unterrichtet werden soll, ist keine Frage mehr - man streitet allerdings über das Wie. "Denn bevor man die Lehrbücher überarbeiten will, muss man sich für
eine Schrift entscheiden. Der Kampf war hart. Die einen, eine Strömung innerhalb der Berberbewegung, die aus der islamistischen Bewegung hervorgegangen ist, plädieren für die
arabische Schrift; die anderen, militant laizistische Organisationen, sind für die
lateinische. Der Verwaltungsrat der IRCAM (einer vom Staat eingesetzten Kommission, .d. red.) empfahl einen dritten Weg, um diese Debatte zu durchbrechen: die marokkanischen Schüler werden in
Tifinagh schreiben lernen, der ursprünglichen Berberschrift." (Mehr dazu
hier)