Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
13.09.2005. Das New York Times Magazine befürchtet, dass der Krieg gegen den Terror al-Qaida gestärkt hat. Der Spectator beklagt Drittwelt-Verhältnisse in den USA. L'Espresso berichtet von bloggenden US-Soldaten im Irak. Der Spiegel entlarvt linke Visionen als reaktionär. In der Gazeta Wyborcza stellt sich Adam Michnik den verblendeten Massen entgegen. Der Economist sucht Nobelpreisträger an deutschen Universitäten. Im Nouvel Obs trauert John Updike um die aussterbende Spezies der Schriftsteller. Der Guardian erklärt, was kontinentaleuropäische von britischer Literatur unterscheidet. Und Outlook India preist den Filmessayisten Adoor Gopalakrishnan.

New York Times (USA), 11.09.2005

Vier Jahre nach 9/11 zieht Mark Danner im New York Times Magazine Bilanz und muss erkennen, dass der Krieg gegen den Terror die Terroristen zwar verändert, aber auch gestärkt hat. "Die schiere Anzahl und Bandbreite der terroristischen Attacken drängt die Vermutung auf, dass al-Qaida zu einem al- Qaidaismus geworden ist - dass die einst relativ kleine, konspirative Organisation durch den amerikanischen und allierten Angriff zu einer weltweiten politischen Bewegung mutiert ist, mit Tausenden von Anhängern, die ihre Methoden annehmen und ihre Ziele verfolgen. Nennen wir es eine virale al-Qaida, die von hochmotivierten Anhängern der nächsten Generation getragen wird, die sich aus dem virtuellen Trainingscamp des Internet das geeignete Handwerkszeug für den Terror herunterladen... 'Wir haben eine Quecksilberkugel genommen', sagt der Aufstandsexperte John Arquilla, 'und dann mit einem Hammer draufgeschlagen'."

Weiteres: James Traub traut auch einer reformierten UN wenig zu und stellt seine eigene Variante einer multinationalen Organisation vor. Eine "Friedens- und Sicherheitsgemeinschaft" nach Vorbild der NATO, in der sich nur Staaten versammeln, die gewisse Kernprinzipien akzeptieren. Mary Anne Weaver diskutiert die Frage, warum Osama bin Laden weder 2001 in Tora Bora noch in den Jahren danach in Pakistan geschnappt worden ist. A. O. Scott setzt große Hoffnungen auf die zwei neuen Literatur- und Debattenmagazine The Believer und n+1. Deborah Solomon unterhält sich mit dem Schriftstelller Andrei Codrescu, der erst aus Rumänien und nun aus New Orleans fliehen musste.

Auch die Book Review steht im Schatten des Terrors, wenn auch der literarischen Version. Benjamin Kunkel erstellt ein weites Panorama der einschlägigen aktuellen Werke und diskutiert dann die Frage, ob dieses Genre nun am Ende ist, nachdem die Realität die Fiktion überholt hat. Zumindest erfüllt der Terror als Sujet eine wichtige literarische Funktion. "In dem fantastischen Alptraum eines Terror-Romans war der Terrorist jener Setzer öffentlicher Zeichen, der der Romancier gerne sein würde, aber naturgemäß daran scheitert."

Tom Reiss erinnert an Joseph Conrad, der 1911 mit "Under Western Eyes" den wahren Klassiker der Terror-Literatur vorgelegt hat (hier die Besprechung von damals als pdf). Leider kennt ihn kaum jemand. "Das Problem ist vielleicht, dass es nicht um chemische Sprengsätze sondern um die explosiven Bestandteile der Seele geht." Besprochen werden außerdem T. C. Boyles Erzählband "Tooth and Claw", Pamela Pauls Untersuchung zur Pornografisierung unserer Gesellschaft, und zwei Bücher über Bars und Kneipen, die sich diesem archaischen Ort der Gemeinschaft einmal journalistisch nüchtern (erstes Kapitel) und einmal persönlich erinnerungstrunken (erstes Kapitel) annähern.
Archiv: New York Times

Plus - Minus (Polen), 10.09.2005

Vier Jahre nach den Anschlägen vom 11. September schreibt Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter, im Magazin der polnischen Rzeczpospolita: "Die US-Regierung setzte anstelle der Kommunisten als obersten Feind die islamischen Terroristen. Die wahre Bedrohung liegt aber in der Dritten Welt, in den Millionen von frustrierten Menschen. Das selbstgerechte Amerika ist für sie ein Traum-Hassobjekt." Die Welt erwartet heute mehr von den USA als die militärische Bestätigung ihrer Macht. Sie müssen, in eigenem Interesse, Verbündete suchen, um die Last der Verantwortung für eine Verbesserung der Menschheit zu tragen. "Die Souveränität der USA muss einer Sache dienen, die größer ist als die eigene Sicherheit."

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew erinnert sich an seinen Besuch in New Orleans vor einigen Jahren: "Ich erinnere mich an das flache Wasser im Meer bei New Orleans. Es ließ sich nicht schwimmen, schlimmer noch als in der Ostsee. Wo kam diese gewaltige Welle her? Was wollte Katrina uns sagen?"
Archiv: Plus - Minus

Espresso (Italien), 09.09.2005

Das Pentagon geht massiv gegen die Blogs von Soldaten im Irak vor, in denen diese unverblümt vom Krieg berichten, schreibt Alessandro Gilioli. "Colby Buzzel, 28 Jahre, erstes Bataillon, 23. Regiment, versuchte von einer Schlacht zu erzählen, die er selbst an vorderster Front erlebt hat: jene um Mosul, im August des vergangenen Jahres. Viele grausame Details, das Geständnis, Zivilisten erschossen zu haben, bis hin zur Anfechtung der von CNN gemeldeten Gefallenenzahlen (es wurde von nur zwölf gesprochen). Schließlich erreichte Colby eine Anweisung des Pentagons, das Blog bis zu seiner Entlassung aus der Armee zu schließen. Nun hat er es wieder aufgenommen, und wer dorthin klickt, findet ganz oben ein Bild, das die Meinung des Ex-Soldaten Colby schnell deutlich macht: Guernica , Picassos Bild von den Massakern während des spanischen Bürgerkriegs."

Umberto Eco beschäftigt sich in seiner Kolumne mit Maurizio Ferraris philosophischer Abhandlung über das Handy und stellt fest, dass ein Teil der Wirklichkeit, nämlich die der sozialen Objekte, mittlerweile fast auschließlich derart vermittelt konstituiert wird. In der Titelgeschichte zitiert Riccardo Bocca genüsslich aus einer jetzt aufgetauchten geheimen Datenbank der Post, die dokumentiert, wie ausführlich die Protagonisten aus Wirtschaft und Politik in Italien sich gegenseitig Posten zuschachern und mit sensiblen Informationen versorgen. Andrea Visconti unterhält sich mit Bret Easton Ellis über den neuen Roman "Lunar Park" und erfährt, wie Ellis arbeitet: "Ich lasse mir Zeit zum Nachdenken, gehe in meinem Büro hin und her, schaue CNN, um auf Ideen zu kommen, beantworte die Post. Ich benutze Papier und Stift und keinen Computer." Im Gesellschaftsteil stellt Monica Maggi zwei neue Fetisch-Hochglanzmagazine vor, mit denen die Szene in Italien endlich auf deutschem und britischem Niveau informiert wird.
Archiv: Espresso

Spectator (UK), 10.09.2005

Die Katrina-Katastrophe führt für den Spectator sehr direkt zur Titelfrage: "What's Wrong with America?" Wie wenig erfreulich die Gesamtlage ist, fasst Walter Ellis zusammen: "Für fast die Hälfte der Einwohner der Vereinigten Staaten sind es keine guten Zeiten. Die Kluft zwischen Reichen und Armen hat sich in den letzten dreißig Jahren fast zu Drittwelt-Ausmaßen vertieft. Den Reichen und Erfolgreichen geht es immer besser, aber die Mittelklasse ist zutiefst verunsichert, steckt in Schulden (von kaum bezahlbaren Studiengebühren zu schweigen), während viele Hispano-Amerikaner nur gerade so über die Runden kommen. Eine Fabrik nach der anderen wird geschlossen, und vielfach gehen die Jobs nach China, dessen Aufstieg zur Weltmacht Amerika erst jetzt zu begreifen beginnt."

Weiteres: Patrick J. Buchanan resümiert: "Der 11. September hat uns geeint, nach Katrina sind wir wieder entzweit." Julia Reed zeigt sich davon überzeugt, dass New Orleans, eine bisher schon vielfach zerklüftete, ja lebensgefährliche Stadt, auch das Katrina-Desaster überleben wird.
Archiv: Spectator

Spiegel (Deutschland), 12.09.2005

"Nach den Dichtern haben sich die Soziologen und Historiker zu Stichwortgebern der Politik gemacht." Matthias Matussek schreibt einen melancholischen Abgesang auf die linke Gesellschaftskritik. "Im großen Ganzen ist die linke Kritik reaktionär geworden. Sie meldet sich mit der Besitzstandsrhetorik Lafontaines oder gar nicht. Linke Visionen sind nicht mehr kulturstiftend, wahrscheinlich, weil sie sich zu oft revidieren mussten. Wen reißt heute noch der Internationalismus vom Hocker, wenn er um seinen Arbeitsplatz gegen die Globalisierung kämpft? Wer begeistert sich noch für Multikulti, wenn in den muslimischen Ghettos westlicher Großstädte Frauen verprügelt und Bomben gebastelt werden? Ja, wem hängt nicht der hedonistische Selbstverwirklichungszirkus der Geschlechter zum Halse raus, wenn der nur noch zertrümmerte Familien, allein gelassene Kinder, soziale Verrohungen anrichtet?" Die Welt, findet Matussek, ist aus den Fugen.

Alexander Osang berichtet aus New Orleans, wo er den Polizcheichef Eddie Compass trifft, der einen schlimmen Rücken hat, seit zehn Tagen dieselbe Unterwäsche trägt und etwas hilflos wirkt. "Er möchte den Superdome inspizieren, in den während des Sturms 30.000 Leute flüchteten, und dann auch noch ins Convention Center, wo er herausfinden will, wie viele Menschen dort wirklich in der vorigen Woche starben. Er springt auf die Pritsche eines feuerroten Pick-up-Trucks, fährt aber nur drei Straßen weiter zu einem Interview mit dem Fernsehsender NBC, dem er sagt, dass er nicht weichen wird, bis die Stadt sicher sei."
Archiv: Spiegel

Gazeta Wyborcza (Polen), 10.09.2005

Adam Michnik fürchtet die Macht der verblendeten Massen - wohl angesichts der hitzigen polnischen Diskussion um die Fehler des Systems nach 1989 und die Forderungen nach einer "moralischen Revolution". In einem großen Essay zeichnet er Beispiele aus der Geschichte nach, bei denen nationalistisch und antisemitisch aufgeputschte Massen das Leben aufrichtiger Menschen ruinierten - sei es die Dreyfus-Affäre in Frankreich und die Hetze gegen Zola, sei es die Hass-Kampagne gegen den ersten polnischen Präsidenten Gabriel Narutowicz, der 1922 kurz nach seiner Wahl von einem Künstler erschossen wurde. "Es ist schwer, sehr schwer, gegen die massive Aggression der Massen stand zu halten. Und es ist sehr schwer gegen die niederträchtige, antidemokratische Argumentation anzureden, die beim Gesindel gut ankommt. Aber man muss Widerstand leisten, auch wenn es bedeuten sollte, sich mit einer verlorenen Sache zu solidarisieren. Das hat ein polnischer Demokrat im 20. Jahrhundert gelernt."

Die Orange Revolution ist noch nicht am Ende! - zeigt sich der ukrainische Philosoph Myroslaw Popowytsch im Interview überzeugt: "Bildlich gesprochen: Juschtschenko umgab sich mit Brüdern, Schwestern und Cousins, die die Teilnahme an der Revolution verband. Das reichte aber nicht aus, um effektiv den Staat zu reformieren. Auf längere Sicht ist die heutige Krise ein Schritt in Richtung Normalität auf der ukrainischen politischen Szene".

Ja, ich bin enttäuscht - kommentiert gleichzeitig der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch. "Die Teilungen musste früher oder später kommen, aber es regt mich auf, wie es passiert. Wir empfinden es als persönliche Niederlage."

Jaroslaw Kurski spricht mit dem ersten, demokratisch gewählten Premierminister Polens Tadeusz Mazowiecki über seine Freundschaft mit Lech Walesa, die 1990 in die Brüche ging und jetzt wieder ersteht, über den heute missverstandenen Umbruch von 1989, über den Großen August 1980, über die soziale Marktwirtschaft und die Macht der Umfragen. "Ich hoffe, in Polen gibt es noch genug Menschen, die an eine 'Überzeugungsdemokratie' glauben, und sich in den Teufelskreis des Populismus nicht begeben werden. Das ist auch Pragmatismus, nur auf länger angelegt."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Economist (UK), 09.09.2005

Im Dossier macht sich der Economist Gedanken über die Qualitätsicherung der Hochschullehre angesichts einer stetig wachsenden Studentenschaft. Gerade um die Bildungsstätten der alten Wissenschaftshochburg Europa steht es schlecht, schreibt der Economist bitter. In einer von der Universität Shanghai erstellten internationalen Rangliste der Universitäten befänden sich allein Oxford und Cambridge unter den ersten zwanzig. "Um die ganze Absurdität zu begreifen, lohnt es sich, der Humboldt-Universität in Berlin einen Besuch abzustatten. Treten Sie ins Hauptfoyer, wandeln Sie die Treppen hinauf zum ersten Stock, vorbei an dem Spruch eines früheren Studenten (Karl Marx), der in goldenen Lettern in die Wand gemeißelt ist ("Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern"), und besehen Sie sich die Porträts der Nobelpreisträger, die die Wände säumen. Zwischen 1900 und 1909 waren es acht, zwischen 1910 und 1919 sechs, vier zwischen 1920 und 1929, sechs zwischen 1930 und 1939, einer zwischen 1940 und 1949 und vier zwischen 1950 und 1956. Die Ehrenreihe zählt Koryphäen wie Theodor Mommsen, Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg. Doch nach 1956 gibt es plötzlich keine Nobelpreisträger mehr."

Weiter Artikel: Der konservative Richter John Roberts - eben noch Anwärter auf den Posten der zurückgetretenen Richterin am Obersten US-Gericht Sandra Day O' Connor - soll nun, nach dem Tod des Obersten US-Richters William Rehnquist (dem der Economist einen süßsauren Nachruf widmet), dessen Posten einnehmen. Der Economist stöbert in Roberts' Keller und kann dort zu seiner eigenen Überraschung nichts finden, was auch nur annähernd einer Leiche ähnlich sieht.

Weiterhin hat der Economist drei empfehlenswerte Bücher gefunden, die Amerika zur neuen Supermacht des Weins küren. In Frankreich bahnt sich ein Kampf um die Nachfolge des gesundheitlich geschwächten Präsidenten Jacques Chirac an. Der Economist vergleicht die beiden Kontrahenten Dominique de Villepin und Nicolas Sarkozy. Und wie der Economist entdeckt hat, legen medizinische Studien nahe, dass die Langzeitauswirkungen des Atomunfalls von Tschernobyl vor allem psychischer Natur sind.

Nur im Print zu lesen ist der Aufmacher, den der Economist dem Wirbelsturm Katrina und seinen verheerenden Folgen widmet. Zu lesen ist allerdings, ob New Orleans nach der Katastrophe überhaupt noch eine Zukunft hat.
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 08.09.2005

In einem Interview antwortet John Updike auf die Frage, ob er Schriftsteller für eine aussterbende Gattung halte: "Schriftsteller, im Sinne wie ich sie verstehe - also professionelle Schriftsteller, die in meditativer Einsamkeit ein Produkt herstellen, das an ein interessiertes Publikum verkauft werden kann und die nach einem gewandten Denken und sprachlichen Können streben, mittels dessen sie sich an quasi jedem Sujet versuchen können - werden immer seltener. Der Begriff des Schriftstellers verblasst im elektronischen Zeitalter, in dem der Appetit des Markts auf die Schrift abgenommen hat. (...) Die Leselust ist nicht vollkommen verschwunden; Gedrucktes bietet eine Möglichkeit des Entkommens, der Erleuchtung wie nichts anderes. Aber Neues, das, was früher in Zeitschriften abgedruckt wurde, droht - wie die Lyrik - aufs Abstellgleis zu geraten, in eine spezialisierte Provinz, die im Wesentlichen nur von selbsternannten Schriftstellern aufgesucht wird."

Zu lesen ist außerdem ein Interview mit der amerikanischen Schriftstellerin Cynthia Ozick (mehr).

Merkur (Deutschland), 01.09.2005

Das Doppelheft beschäftigt sich in diesem Jahr mit der Wirklichkeit (wir verkneifen uns jegliche Kalauer), also dem Realismus in Philosophie, Politik und Kultur. Hans Ulrich Gumbrecht konstatiert nach den Jahren dekonstruktivistischer Melancholie eine neue Sehnsucht nach Substanzialität: "'Substanzialität' steht auch und vor allem für eine (nicht nur psychische) Wärme, für eine Dichte und vielleicht auch für eine Unberechenbarkeit des Lebens, die sich nicht vollends auf Leistungen des Bewusstseins reduzieren lassen."

"Was Realpolitik anrichtete, vermochte nur Realpolitik zu mildern oder zu verhindern. Machtmissbrauch wurde beinahe nie durch Moral eingeschränkt, sondern fast immer durch Gegenmacht", hält Peter Bender in einem historischen Rückblick auf die Realpolitik fest: "Realpolitik trug viel dazu bei, menschliche Schwächen durch Maß und Vernunft auszugleichen. Realpolitik wirkte verheerend, wenn sie Macht und Vorteil als einzige Maßstäbe gelten ließ, Recht, Moral und Humanität verdrängte und menschlichen Schwächen zur Entfaltung verhalf. Realpolitik blieb aber das wirksamste Verfahren, Macht durch Gegenmacht nicht zur Allmacht werden zu lassen. Sie war nicht, wie es oft erscheint, das Gegenteil moralisch gelenkter Politik, beide bedingen einander. Realpolitik ohne Moral endete im Verbrechen, Moral ohne Realpolitik blieb leeres Gerede."

Siegfried Kohlhammer verteidigt die Realität gegen die Theorie und die Fotografie gegen gegen die Semiotik. "Aus der Tatsache, dass alle Fotos als Zeichen benutzt werden können, folgt nicht, dass Fotos an sich Zeichen sind: Das Problem dieser und anderer Theorien ist nicht, dass sie Theorien sind, sondern dass ihnen ihr Gegenstand weitgehend egal ist. Irgendein leidenschaftliches Verhältnis, sei es negativer oder positiver Natur, zu ihrem Gegenstand ist nicht zu erkennen; dieser theoretische Stiefel ließe sich auch an der Imkerei oder der Säuglingspflege durchziehen, und immer mit den gleichen Resultaten und jenem mürrischen Querulieren, das immer noch als oppositioneller Diskurs durchgeht. Theorien, denen die Welt abhanden gekommen ist, können sich notwendigerweise nurmehr mit sich selbst beschäftigen, ihrer Bestätigung und der Widerlegung anderer. Il n'y a pas de hors theorie."

Leider nur in der Printversion dieser Ausgabe: Karl Schlögel bedauert, dass die vergangenen fünfzehn Jahre in Osteuropa nur als Transformation, als Zwischenperiode wahrgenommen werden. Vielleicht, überlegt er, sollte man ein Museum des Übergangs schaffen. Mariam Lau sieht die UNO in der harten Wirklichkeit und vor einer Entscheidung angelangt, ob sie globale Heilsbringerin sein will oder sich permanent als Opfer des Egoismus der Nationalstaaten selbst bedauern.

Außerdem schreiben Herfried Münkler und Josef Joffe ebenfalls zur Realpolitik, Tod Lindberg über den Neokonservatismus (hier das Original aus der Policy Review), Jochen Hörisch, Paul Nolte, Jörg Lau über die ganz und gar ideologieunkritische Richtung der Filmkritik, die es wagt, im Kino glücklich zu sein, Christian Demand und und und.
Archiv: Merkur

Guardian (UK), 10.09.2005

Der australische Schriftsteller Murray Bail versucht zu ergründen, was den europäischen vom angelsächsischen Roman unterscheidet. Die Europäer, inklusive der Russen, meint Bail, lieben zum Beispiel die Verallgemeinerung: "Sie scheuen nicht die gewagten Behauptungen. So gewagt und unverwechselbar sind diese Behauptungen, dass sie ängstliche und einfache Gemüter in die Flucht schlagen könnten: 'Oh, das ist jetzt aber schon sehr verallgemeinernd.' Was könnte man sonst sagen über den ersten Satz bei 'Anna Karenina'? 'Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche ist auf ihre Art unglücklich.' Das ist sicher etwas mehr als eine 'Verallgemeinerung'. Ängstlichen Leser, ängstlichen Gemüter ist es lieber, wenn kühne und ausgeprägte Geister auf ein bekömmlicheres Niveau gesenkt werden - mittels Flucht in den Relativismus."

Weiteres: Wie viele Professoren hegt die Literaturwissenschaftlerin Elaine Showalter nach eigenem Bekunden eine Leidenschaft für Campus-Romane. Und das, obwohl sie selbst des öfteren in einem auftaucht: "Einmal als wollüstige, promiske, drogensüchtige Boheme, einmal als prüde, plumpe Spinatwachtel." Buch der Woche ist Zadie Smith' neuer Roman "On Beauty".
Archiv: Guardian

Point (Frankreich), 08.09.2005

Le Point unternimmt in dieser Woche eine Art Ehrenrettung Michel Houellebecqs, der in Frankreich für seinen neuen Roman "Die Möglichkeit einer Insel" gründlich abgewatscht wird. Die Lanze für ihn bricht Claude Imbert in seinem Editorial. "Wie alle antimodernen Pessimisten ist Houellebecq ein wahrer Moderner, das heißt ein Moderner, der seiner Zeit voraus ist. Sein Pessimismus begnügt sich nicht damit, nach einem Rat von Schopenhauer den 'ruchlosen Optimismus' aufzuscheuchen. Er versteht vielmehr ganz einfach, dass der Mensch vor einer Gabelung steht. Angekommen an einer Kreuzung wählt er unbekannte Marschrouten auf noch unberührten Pfaden."

Und in seinen Bloc notes erinnert sich Bernard-Henri Levy sehr sentimental an seinen Besuch in New Orleans vor wenigen Monaten.
Archiv: Point

Elet es Irodalom (Ungarn), 12.09.2005

Die Tagebücher des ungarischen Schriftstellers Sandor Marai, von Literaturkritikern oft als sein Hauptwerk gefeiert, konnten noch nie in voller Länge veröffentlicht werden. Tibor Meszaros, Herausgeber der ersten, demnächst in der Originalsprache erscheinenden Edition nennt die Gründe für Marais Selbstzensur: "In der Emigration war es sehr schwer, in Ungarisch geschriebene Bücher in einer hohen Auflage zu verkaufen, er musste gezwungenermassen mehrere Jahre in einem Band zusammenfassen... Er handelte aber auch aus politischen Erwägungen. Marai machte aus seiner Meinung nie einen Hehl und doch ließ er Vieles aus den früheren Ausgaben aus Rücksicht auf die in Ungarn Gebliebenen aus. 1951 sendete das Radio Freies Europa seine Vorlesungen, in denen er u.a. das Rakosi-Regime scharf kritisierte. Am nächsten Tag suchte die Stasi seine Mutter auf. Danach wollte Marai weder seine Mutter noch seine Geschwister solchen Attacken aussetzen."

Der US-Korrespondent Akos Rona-Tas erinnert daran, dass mit New Orleans auch eine Insel der Opposition untergegangen ist. "Aus einer blühenden Handelsstadt des 19. Jahrhunderts entstand in New Orleans eine französische, spanische, englische und schwarze Elemente verbindende reiche Stadtkultur, die immer einen Fremdkörper im konservativen Süden bedeutete. In der Stadt von Sherwood Anderson, William Faulkner und Tennessee Williams ist der Jazz geboren, der die Kultur der Schwarzen erstmalig in die Kultur des Westens integrierte. Das weltberühmte Karneval Mardi Gras ließ für eine kurze Zeit jegliche rassische, gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede verschwinden. Die katholische Big Easy bot Asyl für alle, die ihren Platz in der dörflichen, rassistischen und tief protestantischen Welt des Südens nicht finden konnten. Diese Welt hielt New Orleans für einen Sündenherd, für die Hochburg der Bordelle, der gottlosen Rassenmischung, der profithungrigen Händler und des Kosmopolitismus."

Outlook India (Indien), 19.09.2005

"Adoor Gopalakrishnan lebt ganz in der Gegenwart, macht vorzügliche Filmessays über die Vergangenheit und hat einen ständigen Platz in der Zukunft des indischen Kinos sicher." Und er ist der erste Filmschaffende aus Kerala, dem der renommierte Dadasaheb-Phalke-Award der indischen Regierung verliehen wird, sehr zur Freude des Kritikers Saibal Chatterjee. Trotz des Einflusses, den das europäische Kino auf den Regisseur hatte, schreibt Chatterjee, "verfügt Adoor über ein ganz eigenes filmisches Idiom... Alle seine Filme stellen präzise psychologische Einsichten hoch über große dramatische Bewegungen."

Außerdem: In ein kleines Küstendorf namens Thirukkadaiyur pilgern monatlich 600 ältere Paare, um in der Hoffnung auf Unsterblichkeit ihren Eheschluss erneuern. S. Anand erklärt, wie sie darauf kommen, und wundert sich, dass selbst Japaner unter ihnen sind: "Wie?s scheint, findet die Idee des ewigen Lebens mit schrumpfender Welt immer mehr Anhänger."
Archiv: Outlook India

Weltwoche (Schweiz), 09.09.2005

"Alles über Deutschland" tönt vom Titel der Weltwoche. Bruno Ziauddin reist erster Klasse mit dem ICE durch die Bundesrepublik, um aus Schweizer Sicht die Frage zu beantworten: Geht es den Deutschen wirklich so schlecht? Bereits im Zug auf der Fahrt durchs Allgäu stellt er überrascht fest: "Hier sieht alles genauso perfekt aus wie in einem Heidi-Film. Nur wohlhabender. Kaum ein Haus, das nicht picobello renoviert wäre; der Limousinen-Quotient ist erheblich höher als in der Schweiz, geschweige denn sonst wo in Europa. Und der ICE, aus dem heraus man die ersten Banalbeobachtungen macht, erinnert mit seiner Hightech-Ausstattung, den geräumigen, holzverkleideten Toiletten und dem freundlichen Reisebegleiter, der einem den Tomatensaft auf einem Tablett an den Sitz bringt, an ein Viersternehotel. Kann ein Land, das sich solche Züge leistet, in der Krise sein?"

Im Interview mit Walter De Gregorio wettert Großliterat Gore Vidal gegen George Bush und den amerikanischen Rassismus, der im Umgang mit den Opfern des Hurrikan zutage getreten sei. Mit den Häusern und Menschen seien in New Orleans auch die Kulissen einer "vermeintlich multikulturellen, toleranten Gesellschaft" weggeschwemmt worden. "Rassismus ist Teil unserer Geschichte, unsere Nation ist auf Rassismus aufgebaut. In den USA kann nur Präsident werden, wer die weißen Wähler davon überzeugt, dass er die Schwarzen ebenso hasst wie sie, aber so geschickt ist, dies nicht zu sagen. Zum Beispiel muss er über schwarze Sozialempfänger reden, über schwarze Mütter, die mit ihrem Sozialhilfegeld Flaschen von Cristal-Champagner kaufen."
Archiv: Weltwoche

Nepszabadsag (Ungarn), 07.09.2005

Imre Nagy, Ministerpräsident der ungarischen Revolution von 1956, schrieb in der Haft ein Tagebuch von 500 Seiten, das seine Erben bislang geheim gehalten hatten. Proteste der Historiker und der Zivilgesellschaft führten doch dazu, dass das Buch, - vermutlich eines der wichtigsten Dokumente der Revolution - im Juni 2006 endlich erscheinen darf. Der Historiker Janos M. Rainer, Verfasser einer Monografie über Imre Nagy, meint nach Lektüre des Manuskripts, dass die Veröffentlichung unser Bild über 1956 grundsätzlich verändern wird, wie Zsolt Greczy berichtet: "Laut Rainer versuchten die Erben die Veröffentlichung wahrscheinlich deshalb zu verhindern, weil der ehemalige Ministerpräsident in diesem Tagebuch als zu hinfällig erscheint beziehungsweise weil es deutlich wird, dass er nicht mit allen Forderungen der Revolution einverstanden war. ... Er blieb laut Rainer auch nach der Revolution ein Kommunist, auch wenn er sich selbst als nationalen Kommunisten bezeichnete. 'Imre Nagy war kein Revolutionsheld' - erklärt der Historiker."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Nagy, Imre, 1956

New Statesman (UK), 12.09.2005

Wegen ihres tiefverwurzelten Glaubens an das selbstverantwortliche Individuum konnten die USA gar nicht angemessen auf die Katastrophe von New Orleans reagieren, schreibt Andrew Stephen. "Katrina zeigte die Zerbrechlichkeit der USA und ihrer Überzeugung, dass eine starke kollektive Führung oder Institutionen, wie sie die europäischen Geselllschaften zu schätzen gelernt haben, überflüssig sind." Der inkompetente FEMA-Chef Michael Brown ist da nur ein Symptom. "So wurde die Antwort der mächtigen US-Regierung auf Katrina einem Trottel überlassen, wegen dessen guter Beziehungen, bestimmt nicht aufgrund irgendwelcher Führungsqualitäten. Das vorherrschende Ethos ist ja, dass die Regierung unwichtig ist und Amateuren überlassen werden kann, Amateuren wie Bush eben."
Archiv: New Statesman
Stichwörter: New Orleans, New Statesman

New Yorker (USA), 12.09.2005

Der New Yorker steht ganz im Zeichen des Hurrikans Katrina. In einer ebenso spannenden wie deprimierenden Reportage berichtet Jon Lee Anderson, wie in New Orleans zurückgebliebene Bewohner versuchen, an ihrem alten Leben festzuhalten und in der überfluteten Stadt ihren Besitz verteidigen. Eine Episode mit einem Bewohner: "Während wir uns unterhielten schien es, als versuche er, seiner Reaktion auf die Katastrophe einen Sinn zu geben. Logisch hatte er begriffen, dass er hilflos und in Gefahr war, und dennoch hatte er sich dafür entschieden zu bleiben und das Haus für die Rückkehr seiner Familie vorzubereiten. 'Ziemlich verrückt, was? Ich habe eben damit angefangen, das Dach zu reparieren.' Rund ein Drittel des Dachs hatte der Hurrikan weggerissen, und er hatte mehrere Tage daran gearbeitet, es wieder zusammenzuflicken, während die Stadt unter Wasser stand. Während dieser Zeit waren Retter, Polizisten, gekommen und hatten ihn gedrängt, endlich zu gehen. Aber wegen der Art und Weise, in der sie mit ihm sprachen ('Die waren ziemlich aggressiv', erzählte er mir), hatte er sich geweigert."

Weiteres: Jane Mayer porträtiert den Senator von Mississippi Trent Lott, der in der Vergangenheit sämtliche ökologischen Warnungen ignorierte und Casinos und Wohnhäuser in die überschwemmungsgefährdeten Gebiete bauen ließ. Dan Baum berichtet aus der Bar Kajun?s, die während der gesamten Katastrophe geöffnet hielt. Elizabeth Kolbert beschreibt den Zusammenhang zwischen Klimaerwärmung und Hurrikans.

John Lahr schreibt über das "bittersüße Leben" des 1986 verstorbenen amerikanischen Komponisten Harold Arlen (mehr hier), der unter anderem "Over the Rainbow" geschrieben hat. Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einem Buch des Journalisten Anthony Shadid, der für seine Reportagen aus dem Irak mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Anthony Lane sah im Kino das "stickige? Familiendrama "Proof" von John Madden mit Gwyneth Paltrow und Anthony Hopkins und "The Weeping Meadow" von Theo Angelopoulos.

Nur in der Printausgabe: ein Bericht von Jane Kramer über den Aufstieg von Angela Merkel, ein nicht näher bestimmbarer Artikel über eine Amazonasexpedition, auf der die Geheimnisse der "verlorenen Stadt Z" und das des Schicksals eines verschwundenen Forschers gelüftet werden sollen, die Erzählung "Cowboy" von Thomas McGuane und Lyrik von Elizabeth Bishop und Ryszard Kapucinski.
Archiv: New Yorker