Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
22.11.2005. Die New York Review of Books besucht die radikale Religionsschule Haqqania in Pakistan. In Outlook India erinnert sich der Künstler Rajeev Sethi, wie Indira Gandhi ihm die beste Korrektur für schlechtes Design empfahl. Im Express streiten Caroline Fourest und Francois Burgat über islamischen Feminismus. In der chilenischen Revista de Libros beklagt Rafael Gumucio den verheerenden Einfluss von Nabokov und Borges. Im Guardian kritisieren Schriftsteller das geplante Blasphemieverbot in Großbritannien. Im ungarischen Heti Vilaggazdasag warnt Janos Ladanyi vor den Folgen der Armut bei den Roma. In der New York Times singt Jonathan Lethem ein Loblied auf Italo Calvino. Der Espresso freut sich über den neuen Pirelli-Kalender.

New York Review of Books (USA), 01.12.2005

Es gab Zeiten, klagt Michael Massing, da zwangen die Washington Post und die New York Times die Regierung in die Knie, heute werden sie von Washington eingeschüchtert. Radio- und Fernsehstationen senden Berichte, die von den Republikanern in Auftrag gegeben wurden. Gleichzeitig sorgt Washington dafür, dass immer mehr Dokumente als geheim eingestuft werden. "Doch die Kampagne gegen die Presse ist nur zum Teil das Ergebnis eines feindlichen Weißen Hauses. Die Bemühungen der Regierung wurden unterstützt durch eine disziplinierte und gut organisierte Nachrichten- und Meinungskampagne, die von Konservativen und der christlichen Rechte gesteuert wird. Dieses bestens finanzierte Netzwerk schließt Newsletter, Think Tanks und Talk Radio ebenso ein wie Kabelfernseh-Nachrichten und das Internet. Oft in Kooperation mit dem Weißen Haus haben diese Stellen eine systematische Kampagne gegen das lanciert, was sie abschätzig als 'MSM' bezeichnen: mainstream media."

William Dalrymple hat im pakistanischen Akora Khattack die Madrassa Haqqania besucht, die wohl radikalste Religionsschule, die unter anderem Talibans wie Mullah Omar herangezüchtet hat. Dort traf Dalrymple den recht vollmundigen Chef der Madrassa, Maulana Sami ul-Haq: "Ich sagte, dass man es der Haqqania ja nicht unbedingt anmerkt, dass Präsident Musharraf angekündigt hatte, Zentren des Radikalimus zu schließen. Samis Gesicht hellte sich auf: 'Das ist doch nur für amerikanischen Gebrauch', lachte er. 'Das sind Statements für die Zeitungen. Nichts ist passiert.' Also fragte ich, 'Sie finden die Lage im Moment nicht schwierig?' 'Wir sind in einer guten, starken Position', antwortete Sami. 'Bush hat die gesamte islamische Welt aufgeweckt. Wir sind ihm dankbar.'"

Weiteres: John Updike schreibt über eine Ausstellung mit Zeichnungen von Vincent Van Gogh im New Yorker Metropolitan Museum. Andre Aciman prüft Lydia Davis' neue Übersetzung von Marcel Prousts "Du cote de chez Swann". Caroline Moorehead beschäftigt sich anhand neuer Bücher mit Kindersoldaten in Sierra Leone, Liberia und dem Sudan.

Outlook India (Indien), 28.11.2005

Der Künstler Rajeev Sethi (hier mehr über seinen Beitrag zum Expo-Themenpark in Hannover) schreibt zum 88. Geburtstag von Indira Gandhi eine Hymne auf die kunstbewusste Premierministerin, mit der er fast einmal ein Gespräch angefangen hätte - über Kissen. "Ich sagte: All diese Kissen... warum haben Sie die?' Sie sagte, dass sie noch auf keinem Stuhl gesessen hätte, der ihrem Rücken gefiel, und erklärte, dass aus ergonomischer Perspektive Kissen die beste Korrektur für schlechtes Design sind. Sie hielt die Kissen hoch, sah auf und lächelte. 'Man könnte sie auch metaphorisch verstehen, wissen Sie!' Ich bereue es bis heute, dass ich damals zu verklemmt gewesen bin und die beste Gelegenheit habe verstreichen lassen, eine ernsthafte Diskussion mit einer Frau zu beginnen, die quasi vor meinen Augen auf Überlebensgröße angewachsen ist."
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Expo, Gandhi, Indira

Express (Frankreich), 17.11.2005

Der islamistische "Schub" in Frankreich spaltet die französische Linke. L'Express hat die Journalistin Caroline Fourest und den Politologen Francois Burgat zu einem Streitgespräch geladen, das "nicht schärfer hätte ausfallen" können. Auf die Frage, ob die Linke dem Islamismus "den Weg bereitet" habe, antwortet Burgat: "Ich glaube ja, eine bestimmte Linke hat dem Fundamentalismus den Weg bereitet. Sie begegnet einer Generation, die am Fortschritt der Geschichte teilhaben möchte und dies auf ihre eigene Weise und einem anderen Wortschatz tut, mit einer absoluten, sektiererischen und arroganten Ablehnung, einem Veto. Eine der Wortführerinnen dieser Linken sind Sie, Caroline Fourest. Sie bestreiten, dass muslimische Frauen ihre Sache voranbringen können, indem sie sich Elementen ihrer eigenen Kultur bedienen." Caroline Fourest erwidert: "Lassen Sie uns über diesen islamischen Feminismus reden, den Sie interessanter finden als meinen laizistischen Feminismus. Gemäß der Definition von Tariq Ramadan sollen Frauen Tätigkeiten übernehmen, die ihrer 'Natur' entsprechen - unter der Bedingung, dass dies ihre Rolle innerhalb der patriarchalischen Familie nicht gefährdet, und, natürlich, dass sie sich verschleiert, um Männer nicht in Versuchung zu führen. Wenn das Ihre Auffassung von Frauenbefreiung ist ..."

Zu lesen ist außerdem ein Interview mit Paul Bocuse, dem inzwischen 80-jährigen Starkoch, der seine Lebensgeschichte vorgelegt hat. Aufgezeichnet wurde sie von Eve-Marie Zizza, Tochter der Lebensgefährtin von Bocuse. ("Paul Bocuse. Le feu sacre", Glenat)
Archiv: Express

Revista de Libros (Chile), 20.11.2005

"Sterile Väter: Borges und Nabokov." Der chilenische Schriftsteller und Journalist Rafael Gumucio hat ein wunderbar melancholisches Pamphlet gegen zwei Hausgötter (nicht nur) lateinamerikanischer Literaten verfasst: "Ihre Werke sind groß, ihr Einfluss verheerend, denke ich in manchen Nächten. Beide versichern sich, dass das Gesetz, das die Welt regiert, undurchschaubar und niemandes Seele zugänglich sei, dass die Gesellschaft sich weder verändern noch bewahren lässt. Ihre heutigen Epigonen bedienen sich ihrer Manien, aber das Eigentliche entgeht ihnen. Aus Borges' Schamhaftigkeit haben wir uns einen Allerweltspuritanismus zurechtgezimmert, um uns nie eine Blöße geben zu müssen, Nabokovs Lügen haben wir zu unseren Wahrheiten gemacht. So viele Treffer ohne Gewissheit, soviel Spiel ohne Spaß, da wird mir zuweilen ganz schwindlig, angst und bange. Denn so sehr wir uns auch verschworen haben und es bestreiten: die Erde dreht sich weiter, und nach all den literarischen Spielen und dem großtuerischen Skeptizismus haben wir immer noch Hunger und Durst."
Stichwörter: Borgen, Gumucio, Rafael

Espresso (Italien), 24.11.2005

Rita Tripodi feiert eine großartige Ausstellung über Italiens größten Künstler des 20. Jahrhunderts Alberto Burri (mehr) und seine Erben auf dem Quirinal (hier einige Exponate). "Wie Burri waren auch Beuys, Rotella, Pistoletto, Rauschenberg, Schnabel, Twombly, Kounellis, Cesar, Nicholson, Millares, Ceroli, Canogar, um nur einige zu nennen, Alchimisten der Materie. Ökologen ante litteram, Poeten der Natur, Liebhaber des Mülls. Sie haben Holzfetzen und Stofflappen ins Zentrum der Kunst gerückt. Für sie wie auch für Burri reichte die Farbe nicht mehr aus, um die Kraft der Kreativität auszudrücken. Sie machten Kunst mit Gips, Sand und Zement."

Niemand braucht einen zweiten Irak, kommentiert Tahar Ben Jelloun den wachsenden Druck auf Syrien und seinen Präsidenten Baschar el Assad. "Alles hängt davon ab, wie die Vereinten Nationen ihn behandeln. Es kommt nun darauf an, ihn nicht zu demütigen und seine Glaubwürdigkeit bei den Funktionären des syrischen Staates nicht zu untergraben. Vielmehr muss Assad dabei geholfen werden, das von seinem Vater übernommene Regime zu verändern, damit er sich in Zukunft nicht mehr auf die Berichte der Geheimdienste verlässt, seien sie nun ziviler oder militärischer Natur."

Weiteres: Emiliano Carpineta erzählt den Plot des neuen Films der Wachowski-Brüder "V for Vendetta", in dem ein faschistisches London der Zukunft von einem Terroristen hinter einer Guy-Fawkes-Maske erschüttert wird. Die Titelgeschichte zeigt, dass der Espresso zwar ein politisch-intellektuelles, aber eben auch ein italienisches Magazin ist. Vorgestellt werden - zumindest in der Printausgabe - alle Aufnahmen des hochintellektuellen Pirelli-Kalenders 2006 (hier Fotos von Kate Moss).
Archiv: Espresso

Gazeta Wyborcza (Polen), 19.11.2005

Vor einem Jahr begann mit den Massenprotesten in Kiew, nach der gefälschten Präsidentenwahl, die sogenannte Orange Revolution in der Ukraine. In ihrer Wochenendausgabe blickt die polnische Gazeta Wyborcza zwei Mal zurück. "Pluralismus, Redefreiheit, das Entstehen unabhängiger Medien und das Recht, seine Meinung frei äußern zu dürfen - das sind die größten Errungenschaften der Revolution. Aber man möchte mehr, und man möchte es schneller", fasst Marcin Wojciechowski die momentane Gefühlslage der Ukraine zusammen. Er unterstreicht auch, dass selbst jene, die von den bisherigen Veränderungen enttäuscht sind, geeint hinter dem von Präsident Juschtschenko vorgegebenen Ziel stehen: dem Weg in die EU.

Auch für Wiatscheslaw Briuchowietzki, Rektor einer Kiewer Universität und einer der Anführer der Pro-Juschtschenko-Partei "Unsere Ukraine", hat sich die Revolution gelohnt. "Dank der Ereignisse vor einem Jahr sind die Ukrainer zu einer politischen Nation geworden - sie haben ihr Schicksal in ihre Hände genommen!" Das Problem sieht Briuchowietzki vor allem darin, dass die Hoffnungen der Ukrainer unmöglich in diesem Jahr realisiert werden konnten.
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Pluralismus, Redefreiheit

Spectator (UK), 18.11.2005

Peter Oborne kommt in seiner Reportage aus der irakischen Diyala-Provinz zu dem Schluss, dass vor dem amerikanischen Eingreifen nicht alles schlecht war. Zumindest plädiert er dafür, die alten Eliten wieder zu installieren. "Das oberste Ziel der USA und der irakische Regierung sollte sein, die historische Gegnerschaft von Baathisten und dem militanten Islam wiederherzustellen, indem man die Baathisten geradewegs in das politische Zentrum zurückbringt. Wenn das gelingt, werden die Islamisten den Rückhalt im Volk verlieren und nicht mehr länger fähig sein, innerhalb des Irak zu operieren."

Mit nicht nur einer Prise Wehmut beklagt Frank Furedi den Niedergang traditioneller Autoritäten, der ein "Zeitalter der Unvernunft" und eine bunte Riege sogenannter Lebensexperten gezeitigt hat. "Im Januar mahnte Cherie Blairs ehemaliger Lifestyle-Guru (und Künstlerin) Carole Chaplin die Öffentlichkeit, nicht für Labour zu stimmen, wenn sie nicht von ihren Plänen zum Verbot von Vitamin- und Nahrungszusätzen Abstand nähmen. Ein paar Monate später schaffte es Jamie Oliver (ein Koch), das traditionell unerfreuliche Schulessen in ein gewichtiges Wahlkampfthema zu verwandeln. Auf diese Intervention folgte das Spektakel in Gleneagles, auf dem die Führer der Welt für ihre Ungezogenheit gerügt wurden, als sie zu Füßen des früheren Popbalgs Bob Geldof (Homepage) saßen."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Furedi, Frank, Irak, Labour, Wehmut

HVG (Ungarn), 17.11.2005

Der Soziologe Janos Ladanyi meint, dass auch Ungarn aus den Unruhen in Paris eine Lehre ziehen sollte: "Paris ist zwar weit entfernt und die Situation der unter den Einfluss des islamischen Fundamentalismus geratenen Einwanderer in der französischen Gesellschaft nur bedingt mit der Lage der ungarischen Roma vergleichbar. Die Verbindung von Armut und ethnischer Ausgrenzung kann jedoch überall einen gefährlichen Konflikt verursachen, auch bei uns. ? Wenn unsere Regierung, die Opposition und die unabhängigen Intellektuellen über die notwendigen sozialen Maßnahmen debattieren, sollten sie nicht so tun, als ob die von ethnischen Minderheiten ausgelösten Krawallen - vor anderthalb Jahren in der Slowakei und gerade in Frankreich - auf einem fernen Planet passieren würden."
Archiv: HVG

Guardian (UK), 18.11.2005

Die Labour-Regierung plant ein Gesetz gegen die Anstachelung zum religiösen Hass, der Guardian versammelt eine Reihe prononcierter Stimmen, die sich gegen diese Einschränkung der Redefreiheit aussprechen: Etwa Salman Rushdie: "Die simple Wahrheit ist, wo immer Religionen mit ihren engen moralischen Vorstellungen das Ruder in einer Gesellschaft übernommen haben, war das Ergebnis Tyrannei. Inquisition. Taliban."

Die Schriftstellerin Monica Ali schreibt: "Ich bin nicht verpflichtet, die Idee zu respektieren, dass ich als Insekt oder Esel wiedergeboren werde, oder dass Jesus der Sohn Gottes ist oder irgendeinen anderen Hokuspokus. Wenn Aspekte oder Praktiken einer Religion meinen eigenen Überzeugungen (von Fairness und Gerechtigkeit) entgegenstehen, dann bin ich doch moralisch verpflichtet, dagegen meine Stimme zu erheben. Wenn ich die Tatsache verabscheue, dass der Islam benutzt wird, um den Frauen in Saudi-Arabien das Wahlrecht vorzuenthalten, dann muss ich das sagen."

Und der Autor Philip Pullman meint: "Alles deutet in der derzeitigen Stimmung darauf hin, dass Religionen stärker und einflussreicher werden, dass die größten Eiferer mehr und mehr Privilegien wollen und diese Regierung ihnen nachgibt. Nun, ich glaube, dass wir dieser Tendenz rigoros widerstehen müssen. Ich glaube, dass wir, um die Dinge fair und vernünftig anzugehen, damit beginnen sollten, den besonderen Schutz abzuschaffen, den das Blasphemie-Gesetz der Kirche von England gewährt."

Weiteres: Von Nadine Gordimer ist die Erzählung "A Frivolous Woman" zu lesen. Zum Buch der Woche gekürt wurde Michael Ashers Geschichte des Sudans unter kolonialer Herrschaft "Khartoum". Im Observer haben wir außerdem ein Interview mit Madonna entdeckt, in dem sie über ihre unschuldigen Anfänge, ihre existenzialistische Phase und ihr neues Album "Confessions on a Dancefloor" spricht, dem sie spontan das Motto verleiht: "Fuck everything, let's dance."
Archiv: Guardian

Weltwoche (Schweiz), 17.11.2005

Alain Zucker bestimmt mit Hilfe neuer Veröffentlichungen zum Thema die derzeitige und zukünftige Rolle von Google. Der Erfolg der Firma, die in den ersten neun Monaten dieses Jahres 4,2 Milliarden Dollar eingenommen hat, basiere vor allem auf der personalisierten Werbung über Schlüsselwörter. "Die Wirkung von Werbung wird erstmals bis zum letzten Klick messbar. Das schlägt sich auch im differenzierten Preis der Schlüsselwörter nieder. Wer 'Digitalkameras' eingibt, hat eher die Absicht zu kaufen als einer, der den Singular benutzt. Für den Plural zahlt man deshalb dreißig Cent pro Klick mehr. Eine andere Erkenntnis liefert der Preis für einen der momentan teuersten Schlüsselbegriffe, 'Mesothelioma', der bis zu über dreißig Dollar pro Klick kostet. Das liegt an den hohen Geboten der Anwälte, die für ihre Sammelklagen nach Fällen dieses Krebses suchen, der durch Asbest verursacht wird."

Walter De Gregorio erfährt vom altgedienten italienischen Pornodarsteller und Produzenten Rocco Siffredi (Wikipedia), dass er gerade bei seinen Ausflügen ins seriöse Geschäft moralische Verkommenheit erlebt hat, etwa bei der Schauspielerin Amira Casar, mit der er Catherine Breillats "Anatomie de l'enfer" drehte. "'Du weißt', sagte Amira zu mir, 'ich habe mit Gwyneth Paltrow gedreht. Hollywood, tu comprends? Hollywood.' - 'Dann lass dich doch in Hollywood in den Arsch ficken, blöde Ziege.' Sie redete mit mir, als sei ich bescheuert. Würde Vincent Cassel (mehr) sie durchbumsen, wäre das 'art'. Mache ich das, ist es Porno. Diese Verlogenheit ist zum Kotzen."
Archiv: Weltwoche

Jelenkor (Ungarn), 01.11.2005

Die südlichste Stadt Ungarns, das multikulturelle Pecs wurde zur Kulturhauptstadt Europas 2010 gekürt. Die Ausgabe der renommierten Literaturzeitschrift Jelenkor ist dieser Stadt gewidmet: Seit Ungarn 1919 im Friedensvertrag von Trianon seine meisten multikulturell geprägten Gebiete an die Nachbarländer verloren hat, führt das Land ein "monokulturelles Dasein", findet Peter György. "Die Erfahrung des Zusammenlebens mit Slowaken, Rumänen, Serben, Kroaten, Ruthenen ist nur noch in Spuren des kulturellen Gedächtnisses erhalten. Nach dem Mord an den Juden und der Vertreibung der Deutschen folgte eine Periode der Verdrängung, die - von zögernden Schritten am 60. Jahrestag des Holocausts abgesehen - immer noch nicht zu Ende ist." Pecs dagegen habe in seiner Bewerbung zur Kulturhauptstadt seine Geschichte der multi- und interkulturellen Erfahrungen hervorgehoben "und damit eine nicht nur für die Bewohner dieser Stadt, sondern für uns alle wichtige Botschaft formuliert".

Auch der Kulturanthropologe Peter Niedermüller feiert Pecs, weil sein Bewerbungskonzept "die Notwendigkeit der Neuinterpretation von Staatsgrenzen innerhalb des vereinigten Europas betont." Es gehe schließlich nicht darum, "Länder und Kulturen zu trennen, sondern das Denken in nationalen Rahmen zu durchbrechen, die Entstehung und Institutionalisierung transnationaler Regionen zu fördern."

Weitere Artikel: Peter Esterhazy (mehr) schreibt über die Abenteuer seines Lieblingshelden Kornel Esti in Pecs. Und der Autor Endre Kukorelly führt ein imaginäres Experiment durch, in dem plötzlich die ganze intellektuelle Szene aus der Hauptstadt in die kleine Stadt Pecs umzieht.
Archiv: Jelenkor

Al Ahram Weekly (Ägypten), 17.11.2005

Erfreut registriert Hala Halim, dass der erste Dozent der Edward W. Said Memorial Lecture der amerikanischen Universität in Kairo, David Damrosch, seinen ehemaligen Kollegen und laizistischen Streiter Said in seinem Vortrag durchaus ambivalent betrachtet hat. "'Es ist wichtig, einen Kompromiss zwischen rein säkularer und rein dogmatischer, konfessionsgebundener Literatur zu finden, weil sie oft mit religiösen Ideen schwanger geht, selbst wenn sie gerade die strenge Orthodoxie angreift', sagte Damrosch, der auch bemerkte, dass viele Literaturwissenschaftler 'dem Text nicht gerecht werden, wenn sie die religiösen Konnotationen außer Acht lassen'."
Archiv: Al Ahram Weekly

New York Times (USA), 20.11.2005

Der Schriftsteller Jonathan Lethem verfasst eine Hymne auf den europäischen Kollegen Italo Calvino, dessen Tod vor zwanzig Jahren er recht persönlich genommen hat. "Calvino, so schien es mir, hatte mühelos geschafft, was kein angelsächsischer Autor von sich sagen konnte: Seine Romane und Erzählungen waren sowohl klassisch modern als auch schwindelerregend postmodern, indem sie Experiment und Tradition vereinten, zugleich konzeptionell und human, intim und mystisch waren. Mit seinen wiederkehrenden Referenzen auf Comics, Volksmärchen und Filme sowie seinen drolligen Erkundungen zeitgenössischer Wissenschafts- und Philosophieströmungen hat er Populäres und Elitäres zu einem international luziden Stil zusammengemischt, den nur er beherrschte."

Weitere Artikel: Julia Briggs' Biografie von Virginia Woolf konzentriert sich erstmals auf das Werk der Schriftstellerin, lobt Curtis Sittenfield, ist aber eher etwas für Kenner. "Wenn Ihr ganzes Wissen über Woolf Nicole Kidmans falsche Nase im Film 'The Hours' umfasst, sollten Sie nicht mit diesem Buch einsteigen." Rafi Zabors Auftakt seiner Lebenserinnerungen "I, Wabenzi" (erstes Kapitel) erreicht laut Liesl Schillinger in Sachen "Opulenz und Abwechslung" die Gefilde von Federico Fellinis Filmklassiker "Satyricon". Jonathan Alter liest die Rechtfertigungschrift "Truth and Duty" der ehemaligen CBS-Reporterin Mary Mapes zum Skandal um gefälschte National-Guard-Dokumente aus George Bush' Jugendzeit als Lehrstück, wie man investigativen Journalismus nicht betreiben sollte.

David Rieff beschäftigt sich im New York Times Magazine mit Evo Morales, der als Indio, Präsidentschaftskandidat Boliviens und Globalisierungskritiker die Riege der USA-Gegner in Lateinamerika entscheidend stärken könnte. Ann Hulbert diskutiert Sinn und Unsinn der Förderung von kleinen Genies. Das private Davidson Institute for Talent Development hat in diesem Jahr etwa den 17-jährigen John Zhou ausgewählt, der die Jury mit seiner Studie von möglichen Interaktionen der Proteine Rev1, Rev3 and Rev7 in Saccharomyces Cerevisiae (alias Bierhefe) überzeugt hatte. Daphne Merkin lobt George Bushs jüngsten Kandidaten für den Supreme Court, Sam Alito, nach einem Blick in das Princeton-Jahrbuch von 1972 als "authentisch uncool", also unabhängig. Deborah Solomon porträtiert Lynne Truss, die mit ihrer Grammatikfibel "Eats, Shoots & Leaves" einen unerwarteten Erfolg hatte. Hier kann man seine Interpunktionskenntnisse testen.
Archiv: New York Times