Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
13.12.2005. In Al-Ahram wirft Gamal Nkrumah den Franzosen vor, sich auf Kosten Afrikas zu bereichern. Der New Yorker fürchtet um die Zukunft der New York Times. Im Nouvel Obs will sich der Historiker Marc Ferro die Moral der Geschichte nicht vorschreiben lassen. The Nation beschreibt Folter mit Metallica. Der Spectator lauscht den Sorgen superreicher Kunstsammler. In der Gazeta Wyborcza streitet der Theaterregisseur Piotr Tomaszuk für sein Recht, Jesus mit Bart und nackten Brüsten ans Kreuz zu nageln. In Elet es Irodalom warnt Peter György vor dem Infotainment. Und im TLS feiert George Steiner Karl Kraus.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 08.12.2005

In Frankreich wird gerade über die Vergangenheit des Kolonialismus und die Gegenwart der Jugendunruhen debattiert, und in Ägypten denkt der Publizist Gamal Nkrumah anlässlich des afrikanisch-französischen Gipfels in Mali und des bevorstehenden WTO-Gipfels in Hongkong über die heutigen französisch-afrikanischen Beziehungen nach. Frankreich, so Nkrumah, sieht dabei nicht sehr gut aus. Einerseits setzt es sich mit Worten für die afrikanische Wirtschaft ein, "andererseits bleibt es der größte Profiteur der europäischen Agrarsubventionen, die im Jahr 2004 mehr als 11 Milliarden Dollar wert waren... Nun hat Europa, das selbst kein Baumwollproduzent ist, angedeutet, dass es in Hongkong für eine Beschneidung der amerikanischen Baumwollsubventionen eintreten will, während Frankreich verzweifelt versucht, den negativen Einfluss der EU-Agrarsubventionen auf die afrikanische Wirtschaft verschleiern. Doch es wäre falsch, die Verantwortlichkeiten der französischen Politik auf andere abzuladen."

Hani Mustafa stellt zwei iranische Filme vor, die auf dem Filmfest in Kairo liefen und den iranisch-irakischen Krieg zum Hintergrund haben. Durch Reza Aazamiyans "A Border for Life" fühlt er sich an John Boormans "Hell in the Pacific" erinnert, wo ein Amerikaner und ein Japaner auf einer einsamen Insel aufeinander angewiesen sind. Bei Reza Aazamiyan muss ein blinder Iraner einen lahmen Iraker aus der Schusszone bringen. Diese Grundkonstellation, so Mustafa, "mag ein wenig offensichtlich wirken. Aber der Regisseur schafft es, Subtilität in das allzu einfache Drehbuch zu bringen, und die Art, in der er einen naiven Symbolismus vermeidet, erinnert wiederum an 'Hell in the Pacific'."
Archiv: Al Ahram Weekly

New Yorker (USA), 19.12.2005

Kann Arthur Sulzberger Jr., seit 1992 Herausgeber der New York Times, die Zeitung und sich selbst retten, fragt Ken Auletta in einer sehr langen und sehr informierten Reportage über die angesehenste Zeitung der Vereinigten Staaten. "Zweimal in den letzten drei Jahren erlitt der Nachrichtenraum der Times das Aquivalent zu einem Nervenzusammenbruch. Kritiker sagen, Sulzberger sei mit der letzten Krise (um Judith Miller) so schlecht umgegangen wie mit der Episode um Jayson Blair, die 2003 die Entlassung des Chefredakteurs Howell Raines zur Folge hatte. Die Krisen im Nachrichtenraum haben die Times zum schlechtest möglichen Zeitpunkt erwischt - während einer Periode der technologischen und wirtschaftlichen Unsicherheit, die die ganze Industrie betrifft."

(Nachtrag vom 15. Dezember.) Der New Yorker brachte zuerst den historischen Text, den Orhan Pamuk unmittelbar vor seinem Prozess geschrieben hat. Wir zitieren aus der Übersetzung, die am 15. Dezember in der FAZ erschien: Pamuk reflektiert seine Situation vor dem Prozess, spricht in glasklaren Worten nochmals den Völkermord an den Armeniern an, schildert das zwiespältige Verhältnis seines Landes zu Europa (und umgekehrt) und erweitert seine Reflexion auf eine größere Gruppe aufsteigender Länder: "Das bemerkenswerte Wirtschaftswachstum, das wir in Ländern wie China und Indien erleben, hat dort zur Herausbildung einer neuen Mittelschicht geführt, deren spezifische Eigenschaften sich wohl am besten durch Romane beschreiben ließen. Ob man sie nun als nichtwestliche Bourgeoisie oder als neureiche Bürokratie bezeichnet, auf jeden Fall stehen diese neuen Eliten genau wie die westlich geprägte Elite meiner Heimat vor dem Dilemma, dass sie sich bemüßigt fühlen, zur Legitimierung ihrer Macht und ihres Wohlstandes zwei Haltungen an den Tag zu legen, die miteinander im Widerspruch stehen. Zum einen möchten sie beweisen, dass sie selbst sich die Sprache und die Gepflogenheiten des Westens angeeignet haben, und möchten, dass ihr gesamtes Volk es ihnen am besten gleichtut. Zum anderen aber müssen sie sich der Kritik erwehren, nicht mehr genug 'Stallgeruch' zu haben, und suchen daher ihr Heil in einem militanten, intoleranten Nationalismus."

Außerdem zu lesen: Daniel Radosh besichtigt ein neues Computerspiel, in dem es um Straßenkriminalität geht. Caitlin Flanagan porträtiert Pamela L. Travers, die mit Mary Poppins das "beliebteste Kindermädchen des 20. Jahrhunderts" geschaffen hat. Paul Goldberger bejubelt den neuen Hearst-Tower von Norman Foster in Manhattan ("Foster ist der Mozart des Modernismus.") Und Sasha Frere-Jones meldet den Siegeszug von reggaeton, einer Mischung aus spanischem Rap und jamaikanischen Rhythmen.
Archiv: New Yorker

Nouvel Observateur (Frankreich), 08.12.2005

Die französische Regierung hat jüngst ein Gesetz erlassen, das es den Lehrern vorschreibt, auch die "positiven Aspekte" der französischen Kolonialgeschichte hervorzuheben. Seitdem tobt in Frankreich eine Debatte über das Thema der Kolonien. Der Nouvel Obs hat in dieser Woche ein ganzes Dossier dazu zusammengestellt. Zitiert sei der Historiker Marc Ferro, der das Gesetz als "Wahnsinn" beschreibt: "Historiker können sich gegen eine solche Bestimmung nur auflehnen. Der regierende Staat darf nicht die Moral der Geschichte festlegen, deren Akteur er war und seine Politik rechtfertigen, als habe er stets das Gute verkörpert. Diese Versuchung erinnert an die totalitären Staaten und Chruschtschows Satz von den 'gefährlichen Historikern'."

Weitere Artikel: Claude Askolovitch beschreibt die Hintergründe und unterschiedlichen Positionen der aktuellen Debatte. In einem Interview warnt der Historiker Pascal Blanchard vor einem "Krieg der Erinnerungen". Und ein weiterer Beitrag fasst zusammen, wie "postkoloniale Amnesie, falsche Integrationsversprechungen und rassistische Diskriminierung" die Jugendlichen aus den Banlieues gegen die "französische Verlogenheit" aufbrachten.

Jean Baudrillard schreibt in einem nicht immer ganz klaren kleinen Essay über den "versteckten Riss" in unseren Gesellschaften, der auch das französische "Nein" zur europäischen Verfassung erkläre. Demnach ist es nicht politisch oder wirtschaftlich, sondern als eine Auflehnung gegen die Derealisierung des Bevölkerung durch Medien und Politik zu verstehen: "Was soll man von einem Volk erwarten, das durch Umfragen virtualisiert, in Statistiken eingesperrt, durch Medien belästigt wird, als dass es dieses Joch eines Tages abwirft durch ein ebenso unerklärliches wie unvorhersehbares Nein?"

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 12.12.2005

Einen interessanten Artikel über eine mögliche neue geopolitsche Allianz publiziert Mischa Gabowitsch: Auch durch die Türkei führen neue und riesige russische Pipelines nach Europa. Gabowitsch erkundet die Geschichte der russisch-türkischen Beziehungen, schreibt über die gegenseitige kulturelle Ignoranz und stellt dennoch fest: "In den letzten 15 Jahren, da Russland und die Türkei keine unmittelbaren Nachbarn mehr sind, haben die wirtschaftlichen und auch die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern ein Höchstmaß an Intensität erreicht. Vor allem dank der Energielieferungen ist Russland heute nach Deutschland der zweitwichtigste Handelspartner der Türkei. Türkische Bauunternehmen sind in Russland sehr präsent; seit kurzem gibt es in der Moskauer Innenstadt sogar ein schickes Einkaufszentrum in türkischem Besitz. Die Türkei ist das beliebteste Reiseziel für russische Touristen, die heute die größte Besuchergruppe an den Stränden der Süd- und Westküste stellen. Auch auf politischer Ebene gibt es regelmäßige gegenseitige Besuche. Und trotz schwelender Differenzen über Tschetschenien wird viel von einer neuen russisch-türkischen Partnerschaft gesprochen, die in beiden Ländern als Gegengewicht zur EU bedeutsam werden könnte."

Ferner präsentiert Le Monde diplo einen Schwerpunkt zum WTO-Gipfel in Hongkong. Im globalisierungskritischen Magazin französischer Provenienz plädiert Jacques Berthelot in der Frage der Agrarsubventionen allgemein für "Ernährungssouveränität", die es auch Europa gestatten würde, Importbeschränkungen aufrechtzuerhalten, während Tom Amadou Seck in der Frage der amerikanischen Baumwollsubventionen sehr kritische Worte findet. (Weitere Artikel zum Thema hier, hier und hier).

Espresso (Italien), 15.12.2005

In den zwei Bestsellerautoren der Stunde, Alessandro Baricco ("Questa storia") und Pietrangelo Buttafuoco ("Le uova del drago"), werden die gesellschaftlichen und politischen Konflikte Italiens wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar, meint Edmondo Berselli. Baricco ist politisch links und Turiner, Buttafouco ist rechts und Sizilianer. Die Konkurrenz der beiden wird zum politischen Stellvertreterkrieg benutzt, hat Berselli beobachtet: "Auffallend ist, dass Buttafuoco unaufhörlich Feuerschutz von Giuliano 'Giulianone' Ferrara (Chefredeakteur des Foglio) erhält: 'Pietrangelo Buttafuoco hat die pathologische Sensibilität eines Louis-Ferdinand Celine, aber er schreibt zu seinem und unserem Glück in der heilsamen Sprache Alessandro Manzonis.' Und noch eine Garbe des Foglio-Kommandos: 'Ein sehr faschistischer und außergewöhnlich partisanenhafter Roman'. 'Ein prächtiger Feind.' 'Er sollte an der Schule gelesen werden' (Alessandro Giuli). Oder: 'Er wird ein Scheiß-Faschist.' 'Aber gut, mutig ist er.' (Stefano Di Michele, der sich an die Scharmützel bei l'Unita Anfang der Neunziger erinnert, als Buttafuoco dort über das 'Italienische Jahrhundert' schrieb.)"
Archiv: Espresso

The Nation (USA), 26.12.2005

Die Weihnachts-Spezialausgabe ist der Folter gewidmet, die bei den amerikanischen Geheimdiensten eine unrühmliche Renaissance zu erleben scheint. Steve Brodner und Peter Ahlberg haben das Netzwerk der Verantwortlichen in einem Folterbaum veranschaulicht, der als pdf heruntergeladen werden kann.

"Disco ist nicht tot. Sie ist in den Krieg gezogen." Moustafa Bayoumi macht Musiker darauf aufmerksam, dass weltweit Gefangene mit ihren Liedern gefoltert werden (in Guantanamo Bay etwa mit Eminem, Britney Spears, Limp Bizkit, Rage Against the Machine, Metallica und Bruce Springsteens 'Born in the USA'), und fordert sie auf, gegen den Missbrauch ihrer Kunst zu protestieren. "Gefangene lauter Musik auszusetzen ist Teil der 'Folter light', die nun Eingang in die Lexika gefunden hat. 'Folter light' ist eine kalkulierte Kombination aus psychologischen und physischen Zwangsmaßnahmen, die kurz vor dem Mord aufhören und das Risiko minimieren, dass verräterische Male am Körper zurückbleiben, die aber nichtsdestotrotz extreme psychologische Traumata auslösen."

Weitere Artikel: Jonathan H. Marks rückt das medizinische Personal in den Vordergrund, das die Folternden "betreut". Anthony Lewis fordert einen unabhängigen Sonderermittler, da die Politik versagt. "Die Wahrheit ist, dass die meisten Kongressabgeordneten vor allem zurückschrecken, was ihnen als Weichheit gegenüber Terroristen ausgelegt werden könnte."
Archiv: The Nation

Foglio (Italien), 10.12.2005

Der Überfall auf die israelischen Athleten durch ein palästinesisches Kommando während der Olympischen Spiele 1972 in München (mehr) und die Verfolgung der Attentäter durch den Mossad hat Steven Spielberg zu dem Film "Munich" animiert. Für Alessandro Giuli geht es in seinem Beitrag (nur als pdf) in der Wochenendbeilage angesichts der gnadenlosen israelischen Vergeltungsaktionen (einer der Drahtzieher wurde noch 1991 in Tunis getötet) um die derzeit wieder brisante Frage, welche Grenzen auch demokratische Staaten überschreiten, wenn sie sich im Krieg sehen. "An diesem Punkt wird klar, dass der Staat im Ernstfall nicht nur jedes Privatrecht bricht, sondern sich auch über jedwede Ethik hinwegsetzt, die ihn eigentlich leiten müsste. Letzlich gibt es nur eines, was der Staat immer sichern wird: sein Überleben."

Weiteres: Stefania Vitulli erzählt die Entstehungsgeschichte des Films. Marianna Rizzini beschreibt den Spielbergschen Drang zur Historie. Richard Newbury erinnert an den Anschlag "jesuitischer Dschihadisten" auf das englische Parlament 1605. Und Stefano Di Michele schildert, wie man zu Zeiten Darwins über die Sexualhygiene aufgeklärt hat.
Archiv: Foglio

Guardian (UK), 10.12.2005

Es ist allein die Gier, die den Westen nach China treibt, meint der Autor Ian Buruma in einem Essay und widerspricht der oft zitierten These, dass der Kapitalismus die Mittelklasse stärke und damit dem Land schließlich auch die Demokratie bringen werde. "Die Mittelklasse in China expandiert tatsächlich genauso wie in Japan vor hundert Jahren. Aber China wird nicht demokratischer. Die chinesische KP hat die gebildete, städtische Elite zu einem Schnäppchenpreis gekauft, ebenjene Leute, deren Kinder 1989 in Peking auf dem Tienanmen-Platz und in all den anderen Städten demonstriert hatten. Im Tausch gegen politischen Gehorsam, den Verzicht auf demokratische Rechte wurde der Mittelklasse Stabilität, Ordnung und immer weiter wachsender Wohlstand versprochen." Außerdem weist Buruma darauf hin, dass die Chinesen bei aller Geschäftstüchtigkeit auch "eine lange Tradition haben, sich dagegen zu wehren, dass ausländische Händler ihre saftigsten Früchte pflücken. Im 19. Jahrhundert mussten die Gewehre der Königlichen Marine China zum Handel, meist mit Opium, aufschießen."

Außerdem in der Samstagsbeilage: Die Polit-Aktivistin Naomi Klein konstatiert in ihrer Kolumne, dass in Bezug auf die USA und ihre Folterpraxis einzig und allein die Offenheit darüber neu sei. Stuart Jeffries porträtiert Shami Chakrabarti, die Direktorin der britischen Menschenrechtsgruppe Liberty.

In der Book Review schreibt George Orwells Biograf DJ Taylor über die kürzlich gefundenen Briefe von Orwells erster Frau Eileen O'Shaughnessy, von der man bisher so gut wie nichts wusste. Ein wenig kratzbürstig scheint sie gewesen zu sein. So schrieb sie einer Freundin nach längerer Pause: "Die Gewohnheit regelmäßig zu schreiben habe ich schon in den ersten Wochen der Ehe aufgegeben... Wir streiten so viel und so heftig, dass ich dachte, es würde Zeit sparen, wenn ich einen Brief an alle schicke, sobald der Mord oder die Trennung vollbracht ist."
Archiv: Guardian

Gazeta Wyborcza (Polen), 10.12.2005

In Polen wird gerade über die Freiheit der Kunst gestritten. Anlass ist das Stück "Wilgefortis", das am Theater Wierszalin aufgeführt werden sollte. In dem Stück geht es um eine Prinzessin, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Sie betet zu Gott, dass er ihr einen Bart wachsen lässt, der tut ihr den Gefallen. Zur Strafe wird sie gekreuzigt. Dieses Bild - der gekreuzigte Jesus als Frau mit Bart und nackten Brüsten - hat die nationalkatholische "Liga der Polnischen Familien" so in Rage versetzt, dass sie mit Protesten einen Aufführungsstopp durchsetzen konnte. Für Regisseur Piotr Tomaszuk ist das schlicht Zensur: "Das Theater ist, ähnlich wie die Galerie, ein gesonderter Raum, in dem Fiktion regiert. Wenn jemand das in Frage stellt, weil er glaubt, dass der Künstler kein Recht hat, in diesem Raum frei zu denken, heißt das, dass die Zensur zurück kommt."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Spectator (UK), 10.12.2005

Theodor Dalrymple belegt eindrücklich, wie standesgemäße Hüte das ewige Problem mit der ungezogenen Jugend lösen könnten. "Der Hut - oder besser gesagt: das Fehlen desselben - ist die Quelle allen schlechten Benehmens. Blanke Köpfe oder Köpfe mit der falschen Bedeckung, verursachen unseren Mangel an Selbstrespekt und damit das Verlangen nach dem Respekt der anderen. Was wir also brauchen, sind mehr Hüte: wahre Hüte, von Schiebermützen zu Trilbys (Beispiel), Homburgs (Beispiel), Melonen und Zylindern."

William Cash beschreibt nach seinem Besuch der Art Basel Miami die Preisblase auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt, der sich vor Nachfrage kaum retten kann. "Ich nahm an einem Dinner des Kunstmessensponsors Bulgari im alten Dupont-Gebäude im Stadtzentrum teil. Vor dem Essen wurden die VIP-Sammler und Gäste eingeladen, in den Gewölben von 1920 herumzustromern, wo Geschmeide im Wert von Dutzenden Millionen ausgestellt war. Als ich champagnerschlürfend in dem Art-Deco-Gewölbe stand, vernahm ich die Bemerkung eines superreichen amerikanischen Sammlers, der über den Eröffnungstag der Messe grummelte: 'Ich habe meine Frau mit einem unbegrenzten Budget ausgestattet - und sie hat es überschritten.'"

In der Online-Ausgabe hält Mark Steyn die gigantische Moschee mit 70.000 Plätzen, die die islamische Gruppe Tablighi Jamaat neben dem geplanten Olympia Stadion im Londoner Osten (das 80.000 Zuschauer fasst) bauen will, für das passendere und richtigere Symbol des neuen Englands.
Archiv: Spectator

Times Literary Supplement (UK), 09.12.2005

Ein Denkmal hat Edward Timm dem großen "Counter-Journalisten" Karl Kraus errichtet, jubelt George Steiner. Das Buch "Apocalyptic Satirist" lässt ihn fast hoffen, dass damit auch englischsprachige Leser auf den Geschmack kommen könnten: "Was Kraus so schwierig macht ist, dass für ihn der Teufel im Detail steckte, in den kleinsten Elementen des Lexikons und der Grammatik, Typografie und Zeichensetzung. Die Krankheit der Sprache, Zeichen einer sterbenden Zivilisation in Mitteleuropa, konnte nur auf mikroskopischer Ebene diagnostiziert und bekämpft werden, und zwar von einer unerbittlichen Philologie der Ironie und Rache, mit der Taktik, nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen, sondern zwischen den Buchstaben in trügerischen Worten. Das wiederum bedingte Kraus' Vertiefung in den leviathanischen Schund des zeitgenössischen Journalismus, des bürokratischen Jargons, der politischen Rhetorik, der Juristensprache und der hohlen Lawine kommerzieller Anzeigen. Die Millionen wütende Worte, die Kraus schrieb, richteten sich gegen Millionen Indizien von semantischer Verschwendung, von Antimaterie."

Weiteres: Walter Laqueur stellt zwei Neuerscheinungen vor, die sich von der psychoanalytischen Warte her dem Terrorismus nähern: Peter Conzens "Fanatismus" und Marc Sagemans "Unterstanding Terror Networks". Adele Davidson bietet eine neue Lesart der Gedichte George Herberts an. "Intelligenten Glamour" nennt Peter Porter Laurence Dunmores Lebensverfilmung des Earls of Rochester "The Libertine". Michael Saler stellt Dane Kennedys Richard-Burton-Biografie "The Highly Civilized Man" vor.

Elet es Irodalom (Ungarn), 09.12.2005

Unter den Domruinen der kleinen Stadt Szekesfehervar, in der fünfzehn ungarische Könige gekrönt wurden und begraben sind, will ein Unternehmer mit Unterstützung der Stadtvewaltung ein "Pantheon der ungarischen Könige" errichten. Die Kunsthistorikerinnen Piroska Biczo und Klara Mentenyi beschreiben entsetzt diese "grandiose Kitschparade": "Vierzig Meter unter den Ruinen würde eine Reihe von sich bewegenden und sprechenden Figuren die Vergangenheit heraufbeschwören. Die Besucher würden mit einer Rolltreppe in den 10.000 Quadratmeter großen Komplex herunterfahren, wo alles zu sehen wäre, was glorreich, alt und ungarisch ist - von der Heiligen Krone über die Altungarische Marienklage bis zu den Volksmärchen über König Matthias." Für die Autorinnen zeigt das Projekt vor allem, dass die Ungarn ihre Geschichte gern verklären: "Womit können wir uns identifizieren? Nur mit den Märchen und Legenden unserer Geschichte? Oder auch mit den selbst verschuldeten Katastrophen?"

Kann man den eigenen Augen beibringen, Gemälde zu betrachten, fragt die Dichterin Zsofia Balla. Ja, wenn wir "uns auf das Bild vorbereiten, die unsere Augen verschleiernden epischen Erwartungen und Filter der Vorurteile abbauen, das herkömmliche, faule Sehen hinter uns lassen. ? Das Physische soll auf der Netzhaut, im Sehnerv frei zur Geltung kommen, damit wir durch die Alchemie des Lichts, der Farbe, der Komposition, der Perspektive und anderer Elementen gegen die giftigen Wirkungen der kunstfeindlichen realen Welt gewappnet werden. Lassen wir diese Antikörper, die homöopathischen Perlen großer Kunstwerke mit unserem Leben verschmelzen!"

Die Politiker profitieren vom Infotainment kommerzieller Fernsehsender, meint der Medientheoretiker Peter György: "Wer sich als passives Objekt einer von Naturkatastrophen geplagten, undurchschaubaren Welt betrachtet, der erwartet von der Gesellschaft nicht viel und wird die Politiker seiner Wahl auch nicht zur Rechenschaft ziehen. Hinter den Bildern der Hochwasser und Brände verbirgt sich die abergläubische Lehre von der Unergründlichkeit der Welt, die vom Erlebnis des Ausgeliefertseins geprägt ist ... Nicht die aktuellen Geschichten der nach rationalen Normen aufgebauten, spätmodernen Gesellschaft werden jeden Abend erzählt, sondern dass die 'Gesellschaft' nur ein Mythos und das Ausgeliefertsein ein Naturgesetz seien."

Weiteres: Der in Paris lebende ungarische Architekt Attila Batar fordert im Gespräch, dass ein spannendes Gebäude nicht nur das Auge, sondern auch Hände, Ohren und sogar die Nase ansprechen soll. Janos Salamon feiert den vor 200 Jahren geborenen politischen Philosophen Alexis Tocqueville und die gesellschaftsphilosophische Aktualität seines Werkes "Die amerikanische Demokratie".

London Review of Books (UK), 15.12.2005

Weihnachten ist ein Verbrechen an der Architektur, ruft Peter Campbell mit Blick auf den Neonlichter-Tingeltangel, der über sämtliche Fassaden schwappt. Warum gönnen wir unseren architektonischen Bauten keinen Schatten, in dem sich die Schönheit ihres Wesens entfalten könnte, so wie die in Dunkelheit drapierten japanischen Frauen, seufzt Campbell und beruft sich auf Junichiro Tanizakis wunderbares Buch "Lob des Schattens": "Unsere Vorfahren haben die Frau zu einem vom Schatten untrennbaren Wesen gemacht, wie mit Gold oder Perlmutt verzierte Lackarbeiten. Sie bannten so viel von ihr wie möglich in den Schatten, verbargen ihre Arme und Beine im Faltenwurf langer Ärmel und Röcke, so dass nur eines hervortrat - ihr Gesicht."

Weitere Artikel: Julian Barnes feiert zwei Bücher zur Malerei: Alex Danchevs bewundernswert präzise Braque-Biografie "Georges Braque: A Life" und der Katalog zur Ausstellung "Landscape in Provence 1750-1920" im Montreal Museum of Fine Arts. Nach der Wahl von Amir Peretz an die Spitze der israelischen Arbeiterpartei erklärt Ilan Pappe, warum Israel eine größere Revolution braucht als einen Premierminister Amir Peretz: "Darüber zu sprechen, die direkte Besetzung durch eine Form von lebenslänglicher Haft zu ersetzen, heißt letztendlich, überhaupt nicht von Frieden zu sprechen." Bruce Cumings stellt zwei Bücher über die Herrscher-Dynastie in Nordkorea vor: ein lesenswertes und einen bösen Traum. Hugh Penniston erklärt, inwiefern sich in der epidemischen Verbreitung des resistenten MRSA-Bakteriums die Geschichte wiederholt. Und schließlich wandert Daniel Soar durch die Londoner Tate Modern und starrt gebannt auf die übernatürlich detailbesessenen Fotos von Jeff Wall.

Weltwoche (Schweiz), 12.12.2005

Der Fitnesspapst Werner Kieser provoziert im Gespräch mit Simon Brunner und Michael Krobath die deutschen Gesundheitsbehörden. "Die Krankenkassen geben in Deutschland Jahr für Jahr vierzig Milliarden für den deutschen Rücken aus. Einem Krankenkassenvertreter sagte ich kürzlich, ich könnte diese Zahl locker auf vier Milliarden runterbringen, mit einer Vierminutenübung, die jeder Deutsche machen kann. Eine einzige Maschine genügt, unsere F3. Der Typ hat mich angeschaut, und ich dachte schon, der Groschen sei gefallen. 'Aber Herr Kieser', hat er schließlich geantwortet, 'sind Sie sich bewusst, wie viele Arbeitsplätze so vernichtet würden?' Und er hat natürlich Recht."

Weiteres: Der Schriftsteller James Hamilton-Paterson meldet sich in der Schweizer Kampfhund-Debatte zu Wort und erinnert an die wahren Schuldigen, die Halter.

Nur im Print: Lars Jensens Interview mit King-Kong-Regisseur Peter Jackson und Eugen Sorgs Reportage vom Mekong.
Archiv: Weltwoche

New York Times (USA), 11.12.2005

Was ist Kunst? Wo beginnt sie, und vor allem: Wo hört sie auf (einige besonders fragwürdige Beispiele)? Zur Beantwortung dieser Frage haben derzeit nur die Künstler etwas zu sagen, die Kunstkritiker haben aufgegeben, zeitgenössische Kunst zu definieren, behauptet Barry Gewen. "Sie sind Experten im Beschreiben und in der Beschwörung aktueller Arbeiten, sie verorten sie im historischen Kontext und schaffen stilistische und intellektuelle Verbindungen zwischen den Künstlern. Aber, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, sie urteilen nicht. Eine Umfrage der Columbia Universität unter 230 Kunstkritikern im Jahr 2002 ergab, dass Bewertungen auf der Prioritätenliste ganz unten stehen. James Elkins ("What Happened to Art Criticism?") nennt diesen Rückzug aus dem Urteil 'eine der bedeutendsten Veränderungen der Kunstwelt im vergangenen Jahrhundert'."

Aus den Besprechungen: Geoffrey Wheatcroft bricht eine Lanze für den umstrittenen Journalisten Robert Fisk. Dessen neues Buch "The Great War for Civilisation" über den Nahen Osten sei zwar viel zu lang und oft peinlich poetisierend, aber stellenweise doch fesselnd und vor allem ehrlich. Shirely Hazard zählt Dan Hofstadters Ode an Neapel "Falling Palace: A Romance of Naples" zu der Handvoll englischsprachiger Bücher, die der alten Metropole Gerechtigkeit widerfahren lassen. In einem Essay fragt sich der Historiker Sean Wilentz, was eigentlich aus der Sympathie geworden ist, die die amerikanischen Parteien und die Literatur seit 1830 füreinander hegten.

Stephen J. Dubner and Steven D. Levitt präsentieren in ihrer Freakonomics-Kolumne im New York Times Magazine eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Andrew Francis (Zusammenfassung als pdf), der herausgefunden zu haben glaubt, dass unsere sexuelle Orientierung auch von äußeren Umständen abhängt. "Kein einziger Mann, der einen AIDS-infizierten Verwandten hatte, gab an, in den vergangenen fünf Jahren Sex mit einen Mann gehabt zu haben, kein einziger Mann in dieser Gruppe erklärte, er fühle sich hingezogen zu Männern oder sah sich als homosexuell. Frauen in dieser Gruppe vermieden Sex mit Männern ebenso. Bei ihnen war die Rate von Sex mit Frauen, homosexueller Identität und Anziehung zum gleichen Geschlecht mehr als zweimal so hoch wie bei denen, die keinen Verwandten mit AIDS hatten."

Wie seit fünf Jahren schon gibt es zum Ende des Jahres eine Bilanz der besten Ideen und Erfindungen des Jahres, vom Anti-Paparazzi-Blitz bis zu Zombie-Hunden. Hier die Übersicht. Deborah Solomon erfährt zudem von Peter Watson, der alle seiner Meinung nach wichtigen Ideen in sein Buch "Ideas" gepackt hat, was die schlechteste Idee aller Zeiten war: der Monotheismus. Jim Holt fragt sich, wie die Wissenschaft so streitsüchtig und politisch werden konnte. Noah Feldman warnt die notorisch optimistischen Landsleute vor übertriebenem Pessimismus hinsichtlich der Situation im Irak. Auf den Funny Pages gibt es schließlich die 13. Folge von Elmore Leonards Fortsetzungsgeschichte "Comfort to the Enemy".
Archiv: New York Times