Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.01.2006. In Granta beobachtet Lindsey Hilsum den Einzug der Chinesen nach Afrika. Al Ahram beschreibt den Kulturschock über den Wahlerfolg der Muslimbrüder. Im Espresso warnt Umberto Eco vor einem Exzess der Veränderung. Das ungarische ES-Magazin begleitet den Schriftsteller Miklos Meszöly im Geiste durch Triest. Der New Yorker findet Woody Allens "Match Point" leicht deprimierend. Im Spiegel sieht Karl Schlögel Europa im Osten neu erstehen. Das New York Times Magazine porträtiert Julia Timoschenko.

Granta (UK), 15.01.2006

Lindsey Hilsum beschreibt eine afrikanische Revolution: "Die Chinesen sind die gierigsten Kapitalisten auf dem Kontinent, der Handel zwischen China und Afrika verdoppelt sich jedes Jahr." Besonders interessiert sind die Chinesen an afrikanischem Öl! Die Afrikaner profitieren davon, aber es interessiert sie auch noch etwas anderes: "Afrika blickt auf China und sieht Erfolg. Laut Weltbank haben die Chinesen in den letzten zwanzig Jahren in ihrem eigenen Land 400 Millionen aus der Armut befreit. In dieser Zeit hat niemand die Chinesen gezwungen, Wahlen abzuhalten oder Oppositionszeitungen zu dulden. Viele afrikanische Führer würden ihre Opposition nur zu gern so behandeln, wie die Chinesen die ihre auf dem Tiananmen Platz, aber wenn sie Hilfsgelder aus dem Westen wollen, müssen sie die Bedingungen des Westens akzeptieren ... Die Chinesen kommen als Gleiche zu den Afrikanern, ohne koloniale Vorbelastung, ohne komplizierte, von Groll geprägte Beziehung. China will kaufen, Afrika hat etwas zu verkaufen." Auf dieser Grundlage könnten die Chinesen den Europäern und Amerikanern in Afrika den Rang ablaufen.

Wie sehr die Westler den Afrikanern auf die Nerven gehen, lässt sich auch einem sehr schönen Text von Binyavanga Wainaina (mehr und mehr) entnehmen. Der kenianische Autor und Gründer des Literaturmagazins Kwania hat ein paar Tipps für alle, die ein Buch über Afrika schreiben möchten: "Behandeln Sie Afrika in Ihrem Text, als wäre es ein einziges Land. Es ist heiß und staubig, mit rollenden Grasbüscheln, riesigen Tierherden und großen, dünnen Menschen, die verhungern. Oder es ist heiß und feucht, mit sehr kleinen Menschen, die Primaten essen. Verlieren Sie sich nicht in präzisen Beschreibungen. Afrika ist groß: 54 Länder, 900 Millionen Menschen, die zu beschäftigt sind mit Verhungern und Sterben und Krieg führen und Emigrieren, um Ihr Buch zu lesen. Der Kontinent ist vielfältig, er hat Wüsten, Dschungel, Berggebiete, Savannen und viele andere Dinge, aber Ihre Leser interessiert das nicht. Also halten Sie Ihre Beschreibung romantisch, bewegend und möglichst unspezifisch."
Archiv: Granta

Al Ahram Weekly (Ägypten), 29.12.2005

Nabil Abdel-Fattah, Autor des jährlichen "State of Egyptian Religion Report", konstatiert, mit welcher Sorge, aber auch Unkenntnis man in Ägypten auf die großen Wahlerfolge der Muslimbrüder reagiert. Es habe bisher kaum soziologische Forschung über deren Umfeld gegeben. Und die Ideen dieser Gruppierung zum modernen Staat blieben "geheimnisumwoben". "Auch in den kulturellen Zirkeln dehnen sich Überraschung und Sorge über die Wahlerfolge der Muslimbrüder aus, denn in Sachen künstlerischer Kreativität haben sich diese keineswegs zweideutig geäußert. Der Streit um den Roman "Bankett der Meerespflanzen" des syrischen Autors Haidar Haidar und die Demonstrationen von Al-Azhar-Studenten gegen manche andere Romane bleiben in Erinnerung. Das kulturelle Establishment ist bei manchen Formen künstlerischen Schaffens recht vorsichtig geworden, während religiöse Würdenträger eine immer größere Rolle bei der Zensur von künstlerischen und wissenschaftlichen Werken spielen."
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Kreativität, Muslimbrüder

Espresso (Italien), 05.01.2006

Der Espresso überlegt in vielen kleinen Vignetten, was sich 2006 ändern wird. Freigeschaltet ist aber nur der Beitrag von Umberto Eco, der die Frage natürlich hinterfragt und sich also fragt, ob sich überhaupt immer alles so schnell ändern muss oder ob nicht etwa Entschleunigung das Gebot der Stunde ist. "Es handelt sich nämlich nicht um eine Änderung im Sinne des Strebens nach Perfektion und der Spannung auf etwas Neues. Viele der Veränderungen etwa in der Mode bestehen aus Reprisen und Rückgriffen auf Vergangenes, und das Neue kann sich darin erschöpfen, sich wie in den Zwanzigern anzuziehen oder wie in den prähistorischen Zeiten von Mary Quant (der Erfinderin des Minirocks). Der Exzess der Veränderung zielt also nicht auf einen stetigen Fortschritt und auch nicht auf die 'großartigen Chancen und Verbesserungen' im Sinne Leopardis (mehr), sondern erscheint als spiralförmige Bewegung, als 'regressive Innovation'."

In seiner Bustina empfiehlt Eco schon wieder merklich beruhigt den komisch-melancholischen Autor Luciano Bianciardi. Ein Großteil seiner Werke ist in dem stattlichen Sammelband "L'Antimeridiano" erschienen.
Archiv: Espresso

Elet es Irodalom (Ungarn), 23.12.2005

Seine Asche soll in Triest über das Meer verstreut werden, die Teilnehmer der Zeremonie sollen in ein Kaffeehaus gehen und sich nicht über ihn unterhalten - das war der letzte Wunsch des 2002 verstorbenen ungarischen Schriftstellers Miklos Meszöly. Der befreundete Laszlo R. Hollos denkt darüber nach, was Triest für ihn bedeutet haben mag: "Er meinte bestimmt das Cafe Tommaseo links von der Piazza Unita, ? ein echtes Kaffeehaus aus dem 19. Jahrhundert, wie das Kaffehaus New York in Budapest, das Cafe Slavia in Prag oder die vielen Pendants in Wien: riesige Spiegel, Marmortische, Kristallleuchter? Triest liegt an der Grenze zwischen Norden und Süden, wie seine Geburtsstadt Szekszard. Es ist eine unsichtbare Grenze zwischen den Geistern zweier Landschaften, an der man zwei Welten gleichzeitig erleben kann. An der Küste in Triest sind Frohsinn, Lärm und Düfte des Mittelmeerraums zu spüren, aber zwischen den Häusern flattert keine aufgehängte Wäsche im Wind. Die Stadt ist kälter, geschlossener als andere italienische Städte. Durch die blendenden Farben der Adria schlendert der Geist Wittgensteins."

Der Filmkritiker György Baron feiert den preisgekrönten Kurzfilm "Never Never Gipsyland" von Kati Macskassy: "Der Film erzählt von den Träumen und Sehnsüchten der Roma, die in ihren Volksmärchen Ausdruck finden. ? Wie im magischen Realismus südamerikanischer Künstler wird die tiefste, dunkelste Schicht der Realität mit den höchsten, blendenden Fäden der Phantasie durchwoben. In diesem mit Worten, Gesang und Fotos erzählten Film fliegt das Märchen auf Vogelfittichen aus Schlamm und Not plötzlich auf, so hoch, dass die Schwerkraft der Dramaturgie überwunden wird ? Das Märchen wird doch nicht zur billigen Folklore reduziert, weil die betonfarbene, grausame Realität stets präsent bleibt."

New Yorker (USA), 09.01.2006

Nicht ganz überzeugt, aber auch nicht wirklich enttäuscht ist David Denby von Woordy Allens neuem Film "Match Point". Allen kehre darin wieder "zur Rolle des Glücks und einer alten Obsession aus 'Crimes and Misdemeanors' zurück: der Frage, ob es Gerechtigkeit auf der Welt überhaupt gibt. Doch diese theoretischen Überlegungen sind nur Staffage. Im Kern ist 'Match Point' nur die jüngste Version einer Geschichte, die schon seit fast 200 Jahren als erzählerische Basis dient: Ein junger Mann aus der Provinz erobert mit Kühnheit und sexuellem Charme die Großstadt und gerät in Schwierigkeiten. Und uns bleibt es wie immer überlassen, uns mit seiner Sehnsucht zu identifizieren und deren Konsequenzen zu bedauern - was heißt, dass wir unsere eigene Sehnsucht wohl oder übel zügeln müssen."

Weitere Artikel: Dan Baum beschreibt in einer langen Reportage das vollständige Versagen der Polizei von New Orleans angesichts des Hurrikans Katrina. Lilian Ross beschreibt ein Treffen mit dem Schauspieler, Produzenten und Regiedebütanten Tommy Lee Jones ("The Three Burials of Melquiades Estrada"), zu dem dieser ganz rollenuntypisch in Prada und Hermes gekleidet erschien. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Cryptozoologist" von Tony Earley.

Peter Schjeldahl führt durch eine "grandiose, unerwartet herausfordernde" Henri-Rousseau-Retrospektive, die nach ihrem Start in der Londoner Tate Modern auch in Paris und Washington zu sehen sein wird. In einem ausführlichen Porträt stellt David Denby den Journalisten, Kritiker und Drehbuchautor ("The African Queen") James Agee vor, dessen Schriften nun auszugsweise in zwei Bänden erschienen sind (Library of America?s).
Archiv: New Yorker

Gazeta Wyborcza (Polen), 31.12.2005

Im zweiten Teil seiner Artikelserie über Arbeitsmigranten in Europa, schreibt der polnisch-schwedische Publizist Maciej Zaremba diesmal über den berühmten Konflikt zwischen schwedischen Gewerkschaftlern und lettischen "Billigarbeitern" im Dezember 2004. "Als jemand, der von der anderen Seite kommt, kann ich verstehen, dass es für die Letten nicht um den Kampf um gleiche Arbeitsbedingungen, sondern um ein weiteres Kapitel in der Geschichte der schwedischen Überheblichkeit geht. Die schwedischen Gewerkschaften müssen auf ihre Interessen achten - nur sollten sie nicht verlangen, dass sich die armen Letten mit den reichen Schweden solidarisieren."

Außerdem zwei Stimmen zur "Geschichtspolitik": den Historiker Henryk Samsonowicz erinnert die Geschichte an ein "Kostümdepot, in dem viele verschiedene Verkleidungen aufbewahrt werden. Und man zückt immer das, was gerade gebraucht wird. Denn die Geschichte ist zu wichtig, als dass die Politiker sie den Historikern überlassen könnten". Und Adam Krzeminski ärgert sich darüber, dass in der Buchreihe "Europa bauen" Luciano Canforas "Kurze Geschichte der Demokratie" erschienen ist - ein Werk, in dem Stalin bejubelt und die "Solidarnosc" mit keinem Wort erwähnt wird. "Umso größere Anerkennung verdient der C.H. Beck Verlag, der Canforas Publikation nicht in die deutschsprachige Edition aufnehmen will, mit dem Hinweis auf die drastischen Defizite bezüglich Mittelosteuropas und die Bagatellisierung des Stalinismus".
Archiv: Gazeta Wyborcza

Spiegel (Deutschland), 02.01.2006

In einem Essay beschreibt Cordt Schnibben das Dilemma der bürgerlichen Parteien, konservativ sein zu wollen und neoliberal sein zu müssen: "Das bürgerliche Lager fordert von seinen Anhängern und Wählern, schizophren zu sein. Vertraue dem Markt, aber rechne mit seiner Willkür; plane weitsichtig, aber riskiere alles; konsumiere aus vollen Händen, aber sorge fürs Alter; such das Neue, aber schätze die Tradition; denke global, aber liebe deine Heimat; misstraue dem Staat, aber gehorche ihm."

In einem Interview erklärt der Historiker Karl Schlögel, warum der kulturelle Geist Europas in den Städten des Osten wiedererwachen wird: "Ich ärgere mich schon lange darüber, dass immer so getan wird, als entstehe das neue Europa bei den Konferenzen in Straßburg und Brüssel. Natürlich blicken alle nach Westen, aber Europa ist nicht an der Oder zu Ende. Europas Karte wird neu gezeichnet. Ich glaube, dass es langfristig zu einer Verschiebung der Zentren nach Osten kommen wird. Man wird sehen, welches Potenzial in den Städten des Ostens steckt. Es gibt unzählige Menschen, die im Pendelverkehr zwischen Ost und West unterwegs sind, die täglich an der Einheit Europas arbeiten."

Außerdem: Die Titelgeschichte lüftet das Geheimnis um die erste, von Pharao Snofru erbaute vollkommene Pyramide. Und in einem weiteren Interview spricht die Psychologin Kay Jamison über ein bisher unterschätztes Problem: Menschen mit notorisch guter Laune.
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 01.01.2006

Einen zweiten Einstein wird es aus zwei Gründen nicht geben, vermutet John Horgan. Zum einen gibt es heute so viele brillante Physiker, dass einzelne nicht herausstechen. Zum anderen entfernt sich die Physik zunehmend vom Alltag. "Bei den Bestsellern 'Eine kurze Geschichte der Zeit' von Stephen Hawking und 'Das elegante Universum' von Brian Greene fällt es besonders auf, dass die Physik zunehmend esoterisch, wenn nicht gar eskapistisch geworden ist. Viele der besten und schlauesten Physiker sind damit beschäftigt, eine Aufgabe zu vollenden, mit der sich Einstein in seinen letzten Jahren herumgeschlagen hat. Es geht darum, eine 'vereinte Theorie' zu finden, die Quantenphysik und allgemeine Relativitätstheorie verknüpft, die strukturell und mathematisch aber so inkompatibel sind wie Karo- und Punktmuster."

Besprochen werden heute in erster Linie Literaten-Biografien. Reiner Stach hätte in seiner Schilderung der "Decisive Years" (erstes Kapitel) von Franz Kafka - zwischen 1910 und 1915 - ruhig mehr interpretieren können, meint Marco Roth. James Campbell kommen Jerome Charyns mit "Savage Shorthand" (erstes Kapitel) betitelten, mitunter unterhaltsamen, aber ungeordneten Meditationen über Isaac Babel wie eine Vorab-Materialsammlung für eine größere Darstellung vor. James Fenton lobt die von 971 auf 548 Seiten gekürzte Fassung von Juliet Barkers Porträt des englischen Dichters William "Wordsworth" (erstes Kapitel) zwar als lesbarer, vermisst aber die Anmerkungen und die Bibliografie. Daran, wie Darlene Harbour Unrue das innere Leben der amerikanischen Autorin "Katherine Anne Porter" beschreibt (erstes Kapitel), hat Paul Gray nichts auszusetzen. Für einen tieferen Blick empfiehlt er aber doch Porters eigene Kurzprosa.

Unter dem schönen Titel "Bitter Orange" stellt Audrey Slivka im New York Times Magazine die ehemalige ukrainische Premierministerin Julia Timoschenko vor, die gerade die Opposition gegen die von ihr vor einem Jahr mitgegründete Regierung anleitet. "Timoschenko ist eine zwingende Mischung aus rücksichtsloser Berechnung, eisernem Willen und aufrichtigen Gefühlen. Nachdem sie die Jahrestags-Demonstration der Orangenen Revolution im November gekapert hatte, weinte sie auf der Bühne, als Juschtschenko ihre Arbeit als Premierministerin kritisierte. Imn Frühjahr 2004 beobachtete ich Timoschenko, als sie die Opposition zu einem Erdrutschsieg über das Kutschma-Regime führte. Nach einem Tag brutaler Politik ging sie in die Lobby des Parlaments und weinte, von ihren Gefühlen übermannt, in den Armen einer ihr unbekannten Journalistin. Aber nur für eine Sekunde. Einen Moment später, als die Reporter auf sie aufmerksam wurden, hatte sie sich wieder unter Kontrolle und ließ wiederum meine Kollegin den Tränen nahe zurück."

Weiteres: Der amerikanische Philosoph Kwame Anthony Appiah plädiert in einem Vorabdruck aus seinem neuen Essayband für ein neues Kosmopolitentum. Ein südafrikanischer Tierpräparator versucht die ausgestorbenen Quaggas wieder zu züchten, berichtet D. T. Max mit einiger Sympathie für den hartnäckigen Schöpfer. Und Daphne Merkin beschwert sich mit irritierender Freude am Detail darüber, dass der Schönheitswahn nicht mal mehr vor der Vagina halt macht.
Archiv: New York Times