Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
24.01.2006. In der New York Review of Books beschreibt Timothy Garton Ash die Kaczynski-Zwillinge als alte Besen. In New Republic versetzt sich der ägyptische Dramatiker Ali Salem in die Gedankenwelt eines Terroristen. Für den Espresso stapft Andrzej Stasiuk durch die verfluchten Berge in Albanien. Die London Review vergleicht Google mit der Eisenbahn. In der Revista de Libros fordert Juan Villoro Hilfe für Männer, die über Liebe reden wollen. In Magyar Narancs untersucht Eva Standeisky das Verhältnis der Schriftsteller zur Macht. Die Weltwoche gerät in eine Schlägerei. Die New York Times widmet sich Tieren, die Sex und Dinner nicht auseinanderhalten können.

New York Review of Books (USA), 09.02.2006

"In Darfur findet ein Genozid in Zeitlupe statt", ruft Nicholas D. Kristof mit einem eindringlichen Bericht aus dem Südwesten des Sudans in Erinnerung: "Ich dachte, ich hätte in meinem bisherigen journalistischen Leben das ganze Spektrum des Horrors gesehen: von Babys, die an Malaria sterben, über chinesische Truppen, die Studenten erschießen, bis zu indonesischen Mobs, die Menschen köpfen. Aber nichts hatte mich auf Darfur vorbereitet, wo systematisch gemordet, vergewaltigt und verstümmelt wird, einzig und allein weil das Opfer einem bestimmten Stamm angehört."

Der Osteuropa-Historiker Timothy Garton Ash versucht abzuschätzen, was Polen unter den Kaczynski-Zwillingen zu erwarten hat: "Ein Problem der Kaczynskis und ihrer politischen Verbündeten ist, dass sie trotz der Behauptung, ein neuer Besen zu sein, von Anfang an Teil des diskreditierten politischen Systems der dritten Republik waren. Und ihre Herrschaft hatte einen schlechten Start, mit gescheiterten, unwillig geführten Koalitionsgesprächen, die genau das würdelose Geschacher um Posten und Privilegien demonstrierten, das die Kaczynskis hinter sich lassen wollten. In der Presse erscheinen bereits erste Berichte über Korruptionsskandale innerhalb ihrer Entourage." Doch, meint Garton Ash auch, dies sei kein Grund, in Panik zu geraten. "Selbst wenn die Kaczynski-Zwillinge alles schlecht machten, sind die Unabhängigkeit, die politische Freiheit und die Sicherheit in Polen in keiner größeren Gefahr mehr als in Italien und Spanien. Junge Polen spüren das instinktiv, weshalb sie ins Ausland gehen oder mit einer Mischung aus Protesten und Enterich-Witze reagieren."

Weiteres: John Leonard findet Rick Moodys neuen Roman "The Diviners" lustiger als seine Vorgänger, aber auch gefälliger: "Die Marx-Brothers treffen Thomas Pynchon." Gary Wills stellt Jimmy Carters Buch "Our Endangered Values" vor, in dem der Ex-Präsident, selbst erklärtermaßen ein wiedergeborener Baptist, gegen "Rigidität, Selbstgerechtigkeit und Zwanghaftigkeit" seiner Glaubensgenossen zu Felde zieht. Und Alison Lurie untersucht C.S. Lewis' "The Chronicles of Narnia". In einem offenen Brief an den Kongress protestieren eine Reihe von Juristen, darunter Richard Epstein und Ronald Dworkin, gegen die von Präsident George Bush verteidigte Praxis der NSA, amerikanische Staatsbürger abzuhören: "Einer der grundlegenden Züge einer konstitutionellen Demokratie ist, dass es einem Präsidenten oder jedem anderen freisteht, Gesetze ändern zu wollen. Aber es steht außer Frage, dass in einer solchen Demokratie ein Präsident nicht einfach hinter verschlossenen Türen das Strafrecht verletzen kann, weil es ihm unnötig oder unpraktisch erscheint."

Przekroj (Polen), 19.01.2006

Ex-Präsident und "Solidarnosc"-Gründer Lech Walesa kommentiert die gegenwärtige politische Krise in Polen und die Strategie der Minderheitsregierung der Brüder Kaczynski, mit denen er seit Jahren zerstritten ist: "Sie benehmen sich wie Kinder, spielen rum, als ob sie nicht wüssten, dass es um Polen und um Geld aus Brüssel geht. Die Menschen schauen geduldig zu, später werden sie dann unzufrieden. Aber so hat die Nation gewählt - wenn auch nur zur Hälfte. Soll die sich jetzt dafür schämen, das ist auch eine Lektion in Demokratie."

Auch in Polen beschäftigt man sich zunehmend mit der Sterbehilfe. Marek Rybaczyk beschreibt, wie vor allem die Sterbehilfeorganisation "Dignitas" Zürich zum zweifelhaften Ruhm der europäischen "Hauptstadt des Todes" verholfen haben. "In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der begleiteten Selbstmorde in der Schweiz um das Zehnfache. Lebensmüde, oft totkranke Menschen kommen aus ganz Europa nach Zürich, weil der Verein auch Ausländer betreut und keine überflüssigen Fragen stellt. Man kann von einer europäischen Selbstmordtouristik sprechen. Die 'Zivilisation des Todes' naht heran."
Archiv: Przekroj

Espresso (Italien), 26.01.2006

Albanien ist ohne Strom, weil es in den "verfluchten Bergen" im Norden nicht geregnet hat, berichtet Andrzej Stasiuk und schildert die wunderschön archaische, aber gottverlassene Gegend am Drin (Karte). "In diesem Sommer habe ich in der Nähe von Fierze etwa zehn Hochzeitsgäste gesehen: die Männer in Anzug und Krawatte, die Frauen mit hohen Absätzen, eleganten Kleidern und frisch gelegten Haaren. Dort habe ich sie im Gänsemarsch auf einem Pfad an einem Überhang gesehen, der bis in den Himmel führte. Es war wie ein Bild aus einem surrealistischen Film, oder wie ein schöner Traum."
Archiv: Espresso

Magyar Narancs (Ungarn), 20.01.2006

Die Historikerin Eva Standeisky analysiert im Interview das Verhältnis der Schriftsteller zur Macht während der Diktatur: "In diesem Spiel glaubten beide Seiten, dass sie die andere Seite manipulierten und da lagen sie auch nicht ganz daneben. ? Die Parteifunktionäre hatten etwa bis in die siebziger Jahre ein idealistisches und utopistisches Gesellschaftsbild: Sie meinten, dass Intellektuelle eine Art erzieherische Rolle in der Gesellschaft spielen. Wenn die Partei ein gutes Verhältnis zu den Schriftstellern pflege, dann könne die Partei die Autoren dafür gewinnen, den Lesern zu helfen, sich mit der Gedankenwelt des Sozialismus identifizieren zu können." Gleichzeitig versuchte die Kommunistische Partei die Ungarn in ein echtes Lesevolk zu verwandeln und startete günstige Buchreihen der Klassiker in riesigen Auflagen: "Bestimmte Passagen wurden umgeschrieben oder weggelassen, aber jene Menschen, die bis dahin gar keine Bücher gelesen hatten, bemerkten diese Strategie nicht."
Archiv: Magyar Narancs

New Republic (USA), 30.01.2006

Der ägyptische Dramatiker und Satiriker Ali Salem versetzt sich in die Gedankenwelt eines Terroristen. Fouad Ajami hat den Text übersetzt, der ursprünglich in der arabischen Tageszeitung Al Hayat in London erschienen ist. "Wir sind im Krieg, und für den Sieg in diesem Krieg braucht es Klarheit und Offenheit. Es ist unmöglich, diese Region zu verändern und zu reformieren, wenn wir nicht das meiste davon zerstören, was heute darin existiert. Wir können die Existenz eines Staates in Palästina oder dem Irak nicht erlauben. Wir arbeiten daran, den Staat in allen Ländern der Araber und Muslime zu vernichten. Denn der Staat, mit seinen modernen Elementen, seinen Gesetzen und seiner Verfassung, seinem Parlament und den Menschenrechten und seiner Gewaltenteilung und Hingabe an den Fortschritt könnte zur menschlichen Erfüllung führen, und diese Entwicklung können wir nicht dulden."
Archiv: New Republic
Stichwörter: Irak, Gewaltenteilung

Elet es Irodalom (Ungarn), 22.01.2006

Andras Lanyi überlegt, warum in Ungarn kaum über die jüngste Vergangenheit gesprochen wird. "Historische Epochen kann man, wie auch literarische Werke, nur vom Ende her interpretieren: Das Ende gibt dem vorher Geschehenen einen Sinn. Für die Zeit zwischen 1956 und 1989 trifft dies jedoch nicht zu, denn wir haben immer noch nicht richtig über sie gesprochen. Wenn sich ein Land nicht an seine Vergangenheit erinnert oder sich nicht erinnern will, gibt es dafür meiner Meinung nach mindestens drei Gründe. Erstens: Die Kultur des Schweigens hat sich schon früher entwickelt, das Verschweigen ist eine bewährte Strategie der gesamten Gesellschaft. Zweitens: Die Menschen möchten mit der Vergangenheit nicht konfrontiert werden, weil ihre Geschehnisse mit den allgemeingültigen Erklärungen der Gegenwart unvereinbar sind. Drittens: Die Vergangenheit ist noch nicht vergangen."
Stichwörter: 1956

London Review of Books (UK), 23.01.2006

Ist Google eine gute Sache? John Lanchester porträtiert den Internet-Riesen und kommt zu dem Schluss, dass sowohl seine Stärken (sein überquellender Innovationsgeist, nicht nur in technischer Hinsicht) als auch seine Schwächen (etwa sein unzureichendes Verantwortungsbewusstsein in Sachen Datenschutz) auf Googles Verankerung in der studentischen Nerd-Kultur zurückzuführen sind. Eins jedoch steht fest: Ob gut oder nicht, Google wird die Welt verändern. "Die beste geschichtliche Analogie für den Punkt, an dem sich Google heute befindet, stammt wahrscheinlich aus der Zeit, als das Eisenbahnnetz errichtet wurde. Jeder wusste, dass die Eisenbahn die Welt verändern würden, doch niemand hatte die Erfindung der Vorstädte vorhergesagt. Google, und der verstärkte Informationsstrom, auf dem es schwimmt und von dem es profitiert, ist die Eisenbahn. Und ich glaube nicht, dass wir schon die ersten Vorstädte erblickt haben."

Weitere Artikel: Mit großem Interesse - und einigem Grauen - hat Stephen Shapin Daniel Charles' Biografie des jüdischen und erz-deutsch-nationalen Chemikers Fritz Haber gelesen, die den Nobelpreisträger als zugleich genialen und skrupellosen Pionier der chemischen Kriegsführung porträtiert (auf den unter anderem das ursprünglich zur landwirtschaftlichen Schädlingsbekämpfung entwickelte Gas Zyklon B zurückgeht). Ed Harriman durchforstet die Berichte des US-amerikanischen Bundesrechnungshofes (GAO) sowie der Sonder-Generalinspektion (SIGIR) über die Gelderverwaltung innerhalb des Wiederaufbaus im Irak und sieht darin eine regelrechte "Kultur der Vetternwirtschaft und der Schmiergelder" dokumentiert. In den Short Cuts erklärt Thomas Jones die Memoiren ("A Life of Privilege, Mostly") von Gardner Botsford, dem langjährigen Herausgeber des New Yorker, zum absoluten Leckerbissen. Und schließlich streift Peter Campbell durch die Ausstellung "Dancing to the Music of Time", die die fiktionalen Gemälde der fiktionalen Maler in Anthony Powells Romanen zum Leben erweckt.

Gazeta Wyborcza (Polen), 21.01.2006

Der Filmkritiker Tadeusz Sobolewski ist begeistert von Marc Rothemunds Film "Sophie Scholl - die letzten Tage", der letzte Woche in den polnischen Kinos anlief: "Der Film bietet eine seltene Möglichkeit, den Nationalsozialismus von innen zu betrachten - aus einer rein deutschen Perspektive. Aber die Stärke von 'Sophie Scholl' macht vor allem aus, dass es ein aktueller Film ist: Julia Jentsch spielt eine Frau, die, ähnlich wie in 'Die fetten Jahre sind vorbei', sehr überzeugt ist von ihrem Tun. Damit führt sie dem Publikum vor Augen, woran es heute fehlt: am Gefühl für die Wahrheit, an Glauben und Ideen (nicht Ideologien!)".

In Afghanistan beginnt man, die Verbrechen aufzuklären, die während des fast 25-jährigen Bürgerkriegs begangen wurden, schreibt Wojciech Jagielski, der über Jahrzehnte in Afghanistan als Reporter unterwegs war und das Land wie kaum ein anderer Europäer kennt. Anlass ist ein Prozess gegen den früheren Chef der Geheimpolizei unter der kommunistischen Herrschaft, Asadullah Sarwari. "Der Prozess ist ein erster Versuch der Abrechnung mit der neuesten Geschichte, die von Putschen, Revolutionen, Bürgerkriegen, Fremdherrschaft und völliger Zerstörung des Landes gekennzeichnet ist. An diesen Ereignissen hatte Sarwari seinen Anteil, und sein Leben ist beispielhaft für die tragische Geschichte Afghanistans in den letzten fünfundzwanzig Jahren."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Revista de Libros (Chile), 20.01.2006

"Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" - diesem Geheimnis, das u. a. dem wohl bekanntesten Erzählungsband Raymond Carvers den Titel gab, geht der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro in seiner Kolumne für die aktuelle Ausgabe der chilenischen Revista de Libros nach. Mithilfe einer amüsanten Anekdote illustriert er die These, dass "zu den kulturellen Beschränkungen des männlichen Geschlechts die Unfähigkeit gehört, in gelungenen, originellen Sätzen seine Liebe auszudrücken. Die Lyrik der Troubadoure, die mittelalterlichen Turniere, die Boleros und Serenaden wurden entwickelt, um dieser offensichtlichen männlichen Schwäche abzuhelfen. Meines Wissens gibt es bislang keine Web-Site, die Männern Hilfe bei ihren Ausdrucksschwierigkeiten bietet. Weshalb wissen Frauen auf wundersame Weise immer, was sie zu sagen haben? Es besteht dringender Bedarf an einer modernen Methode, die die Partner einer Beziehung in dieser Hinsicht auf gleiches Niveau bringt."
Stichwörter: Villoro, Juan

Nouvel Observateur (Frankreich), 19.01.2006

In einem Essay schreibt der aus Martinique stammende Schriftsteller Patrick Chamoiseau über das Problem der Erinnerung im Zusammenhang mit der Diskussion über die koloniale Vergangenheit Frankreichs. "Wie kann man von der ethnozentrierten Geschichtsschreibung zu einer umfassenden gelangen? Wie das Konzert der Erinnerungen mit einem Gedenken in Einklang bringen, das alle unsere Erinnerungen und die Würde aller berücksichtigt? (...) Mein Land, Martinique, ist eine natürliche Nation, ohne Staat, ohne Verantwortung, ohne Souveränität, aber dennoch ohne Zweifel imstande, auf sehr ruhige Weise einen gewaltigen Einsatz dafür zu leisten."

Mit der Anmerkung, auch die Spanier hätten ein "Problem mit der kollektiven Erinnerung", leitet der Nouvel Obs einen Beitrag des spanischen Schriftstellers Javier Marias ein, in dem dieser sich mit der Verdrängung der Franco-Zeit auseinandersetzt. Im Gegensatz zu Frankreich, Italien oder Deutschland habe es in Spanien nie ein "Gefühl der Scham" gegeben. "Die meisten Franquisten waren auf einmal keine mehr, einfach so. Sie hatten nicht das Bedürfnis, ausdrücklich abzuschwören, oder für das, was sie während der langen Diktaturzeit getan hatten, gerade zu stehen."

Der Schriftsteller Philippe Sollers befasst sich schließlich anlässlich des Erscheinens eines Pleiade-Bandes mit den "Libertins des 18. Jahrhunderts" (Gallimard). Neben den "Stars" der erotischen Literatur wie Diderot, Laclos, Casanova, Sade, aber auch Mirabeau, Denon, Retif de La Bretonne, Crebillon, Dorat und Nerciat sei sein Lieblingsschriftsteller allerdings ein im doppelten Sinne Unbekannter, der seine "Meisterwerke" unter dem Namen Anonyme veröffentlicht hatte.

Weltwoche (Schweiz), 19.01.2006

Der Schriftsteller James Hamilton-Paterson rekonstruiert eines seiner Treffen mit einer Reinkarnation Mozarts, diesmal in Gestalt eines nigerianischen Herzzspezialisten. "Verstehen Sie meine Verwunderung darüber, dass meine ehemaligen Landsleute donnernde Geschäfte machen mit einer Schokoladensorte namens Mozartkugeln? In meiner Heimat gibt es noch immer Stämme, wo man die Genitalien eines erschlagenen Feindes verzehrt, um sich dessen Kraft einzuverleiben. Offenbar haben die gerissenen Salzburger die alte Doktrin von der Transsubstantation aktualisiert... Ich weiß nicht mehr, sind Sie katholisch? Jedenfalls mampft tagtäglich irgendwo in Mitteleuropa jemand eines meiner Eier. Das kann einen schon nachdenklich stimmen."

Zum Thema Rassismus in der Schweiz kann Redakteur Bruno Ziauddin keine traumatischen Erlebnisse beisteuern. Allerdings ist er auch recht hart im Nehmen, wie diese Geschichte von drei Pöblern auf dem Filmfestival von Locarno nahe legt. "Jeder Einzelne von ihnen hätte für mich im Nahkampf eine erhebliche, um nicht zu sagen unüberwindbare Herausforderung dargestellt. Das war wohl der Grund, wieso es die anderen Gäste in der Toilette - sie sahen aus wie kultivierte Deutschschweizer, die jede Antirassismuspetition unterzeichnen - allesamt vorgezogen hatten, möglichst rasch zu ihrem Campari Soda zurückzukehren. Als die Kurzhaarigen und ich endlich ungestört waren, hielten mich zwei von ihnen fest, während mir der Kleinste, er hatte ein großes, rundes Gesicht, so glatt wie ein Kinderpopo, Schläge gegen die Brust versetzte und mich weiter auf Italienisch beschimpfte."
Archiv: Weltwoche

Guardian (UK), 21.01.2006

Für den Observer, die Sonntagsausgabe des Guardian, hat der Autor Malte Herwig ("Eliten in einer egalitären Welt") den Holocaust-Leugner David Irving in seinem Wiener Gefängnis besucht: "Ich frage ihn nach seinen empörenden Bemerkungen, etwa, dass auf dem Rücksitz von Ted Kennedys Auto mehr Menschen umgekommen seien als in den Gaskammern von Auschwitz. Ob er nicht glaube, dass dies zutiefst verletzend sei? 'Das ist die englische Art, und die ist nicht immer höflich.' Irving mag diese geschmacklosen Witze, er findet nichts schlimm daran, sich über Holocaust-Überlebende lustig zu machen und dies als Dummejungenstreich auszugeben. Sein Verlangen, Empörung zu verursachen, scheint in der Art rücksichtsloser Arroganz verwurzelt zu sein, die man häufig bei Privatschülern findet, die glauben, ihnen gehöre die Welt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Irving aus einem Land kommt, in dem nicht nur die Boulevardpresse Witze über den Führer liebt, sondern auch das, was als gute Gesellschaft durchgeht."

Weiteres: In der Book Review wirft sich James Campbell für Schottlands berühmtesten Schriftsteller William McGonagall in die Bresche, der völlig zu Unrecht als der "schlechteste Dichter der Welt" gerühmt wurde. Giles Foden feiert Guy Arnolds "brillantes" Buch "Africa: A Modern History". Maya Jaggi empfiehlt nachdrücklich die Sonderausgabe der Granta "The View from Africa", die Essays, Erzählungen und Kurzgeschichten zahlreicher afrikanischer AutorInnen versammelt. Ziemlich ambitioniert findet James Flint Rick Moodys neuen Roman "The Diviners": Moody ziele ganz klar auf "Great-American-Novel-Status". Außerdem bespochen werden eine Reihe neuer Mozart-Biografien.
Archiv: Guardian

Al Ahram Weekly (Ägypten), 19.01.2006

Nach der Schlappe bei den Parlamentswahlen in Ägypten leckt die ägyptische Linke ihre Wunden, so auf einem Seminar des Socialist Studies Centre in Kairo. Amira Howeidy notiert die Vorschläge führender Linker für eine führendere Linke: Unstimmigkeiten raus, Selbstkritik rein. Und Marx ägyptisieren. Der ägyptischen kommunistischen Linken, so hieß es vom Podium, sei der Marxismus nämlich noch immer heilige Kuh, ungeachtet der Tatsache, dass es keine monotheistische Religion sei, sondern eine Methodik. Huch. Folgt noch ein beinahe selbstzerstörerischer Tipp für die Genossen: Öfter mal hoch von der Couch und raus aus der Bude!

Vom 17. Januar bis 03. Februar findet in Kairo die 38. Cairo International Book Fair statt, größtes Kulturhappening in der arabischen Welt und diesmal mit Deutschland als "guest of honour". Geboten werden u. a. ein Diskussionsforum "Me and Germany", die Präsentation der arabischen Übersetzung von Rafiq Shamis "The Secret Report on the Poet Goethe" und echte Spezi-Themen, wie "Der Weg der arabischen Literatur auf den hiesigen Buchmarkt nach Edward Saids 'Orientalismus'". Selbstverständlich ist nicht alles nur deutsch auf der Messe. Nagib Machfus zum Beispiel. Der hat sogar einen eigenen Pavillon: Machfusien. Hier lang zum Programm.

Weiteres: Amal Choucri Catta war beim Neujahrskonzert des Cairo Symphony Orchestra mit der Sopranistin Nicola-Jane Kemp, die "außerordentlich fesselnd" "Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie" sang. Und Hala Halim berichtet über die Jahrestagung der Modern Language Association of America. Das Hauptforum war der Rolle des Intellektuellen im 21. Jahrhundert gewidmet.
Archiv: Al Ahram Weekly

New York Times (USA), 22.01.2006

Im Magazin finden sich zwei feine Artikel zum Thema Verhaltenspsychologie: In einem ellenlangen, aber hübsch kurzweilig verfassten Beitrag macht Charles Siebert Bekanntschaft mit echten Tierpersönlichkeiten. Wo immer alle auf die evolutionären Tricks der Tiere schauen, um davon zu lernen, besucht er Verhaltensforscher, die sich mehr für die Deppen der Wildnis interessieren. Für die amerikanische Fischerspinne etwa: Extrem gut beim Jagen, extrem kurzsichtig in puncto Fortpflanzung, jagt und frisst sie doch auch ihre potentiellen Brutpartner. Das geht natürlich nicht. Sex und Dinner, meint auch unser Autor, das sollte man schon auseinander halten können. Als Spinne. Als Persönlichkeit sowieso.

Und Charles McGrath erklärt die Wonnen und Gefahren der Kurznachricht (SMS): Sie ist billig (zumindest in Südostasien) und ein so simples wie effektives Lebenszeichen - einerseits. Andererseits jedoch ist sie depressionsfördernd (weil sie augenfällig macht, dass wir einander nicht allzu viel zu sagen haben) und birgt, in China etwa, durchaus Risiken im Handling. Auf Mandarin nämlich klingen manche Wörter wie Zahlennamen: Für "Ich liebe dich" tippt man 520, für "Geh hin, wo der Pfeffer wächst" die 748. Nur nicht vertippen.

Schlicht begeistert zeigt sich Rezensent David Kamp in der Book Review von einem Buch der L.-A.-Times-Kolumnistin Norah Vincent. Ein gut gedachtes wie gemachtes und sogar unterhaltsames Stück investigativer Journalismus sei das, schreibt er. Eine Portion Mut, kann man sagen, gehört wohl auch dazu, um sich, wie die Autorin, in Männerkleider zu schmeißen, und mit straffem Sport-BH und Stoppelpaste im Gesicht, als Mann unter Männern, zum Bowlen oder ins Striplokal zu schieben. Warum nur tut man sich das an? Um ein bisschen investigativ zu sein, klar. Aber die Autorin ist auch mächtig froh, einmal nicht von allen Seiten begafft zu werden ("Respekt durch Nicht-Beachtung" nennt sie das), und dankbar für einen neuen Blick auf die Dinge: Oder hätten Sie gedacht, dass Männer richtig freundlich zueinander sein können, verbindlich, mit ordentlichem Handschlag und so und Lichtjahre entfernt von den "unterkühlten Luftküssen, die Frauen untereinander austauschen"?

Ferner: Christopher Hitchens liest eine "elegante" Neuübersetzung von Gustave Flauberts "Bouvard and Pecuchet" - jene beiden armen Teufel, die Flaubert gegen Rousseaus "große Geste", das menschliche Los zu verbessern, ins Feld schickt. Hillary Frey stellt fingerlicking "mystery and suspense stories" von Joyce Carol Oates vor. Joshua Clover empfiehlt mit Pound sämtliche Gedichte von Charles Reznikoff ("thematisch, kann man sagen, ist das jüdisch, amerikanisch, urban"). Und Judith Shulevitz heizt die Evolutionsdebatte weiter an: Wenn der Darwinismus wirklich so ein Argument ist, warum trollen sich die Kreationisten dann nicht?
Archiv: New York Times