Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
07.02.2006. Das ungarische ES-Magazin nennt weitere Informanten des Geheimdienstes: Kardinal Laszlo Paskai und Filmemacher Zsolt Kezdi Kovacs. In Nepszabadsag wundert sich der Historiker Robert Braun über die Stille nach diesen Enthüllungen. Im Spiegel fordert Ayaan Hirsi Ali den Westen auf, die Mohammed-Karikaturen überall zu zeigen. Outlook India berichtet über den Kliniktourismus. In der Kommune schildert Sonja Margolina das Entstehen einer fremdenfeindlichen Ethnokratie in Russland. Im Guardian erinnert sich Pankaj Mishra schaudernd an seine Liebe zu Breschnew. In der Gazeta Wyborcza erklärt Andrzej Stasiuk seine Vorliebe für die "falschen" Länder.

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.02.2006

Nach dem Bericht über die Stasi-Vergangenheit Istvan Szabos enttarnt das ES-Magazin weitere Prominente als Informanten des ungarischen Geheimdienstes: Kardinal Laszlo Paskai und den Filmemacher Zsolt Kezdi Kovacs. Der junge Historiker Krisztian Ungvary zitiert aus der Stasi-Akte des Kardinals Paskai und fordert die Ungarische Bischofskonferenz auf, ihr Schweigen zu brechen: "Jeder, der heute seine Stasi-Vergangenheit als Geheimnis mit sich schleppt, ist fünfzehn Jahre nach der Wende immer noch ein Sklave der Diktatur. ? Wir machen gerade die fürchterliche Erfahrung, dass auch jene, die nur zögernd mit der Stasi zusammenarbeiteten, mit der Zeit eine Art Loyalität zur Staatsmacht entwickelt haben, obwohl sie von ihr erniedrigt wurden."

Zsolt Kezdi Kovacs erzählt, wie Istvan Szabo und er von Geheimdienstleuten abgeholt, später verhört, getreten und beschimpft wurden. Er beschreibt den Moment, als er sich entschieden hat, für den Geheimdienst Berichte über Mitstudenten zu verfassen: "Wir fuhren im Aufzug in das mehrere Etagen tiefe Gefängnis, es war ein halbes Jahr nach der niedergeschlagenen Revolution, und ich spürte, dass dies ein grundsätzlich ungleicher Kampf ist. Ich war nie besonders tapfer, aber Tapferkeit hätte hier auch nicht viel gebracht. Ich wusste, dass ich keine Kraft haben würde, die Schläge zu ertragen oder alles aufzugeben, was ich endlich erreicht hatte: an der Filmhochschule studieren zu dürfen? Ich hielt es für kaum vorstellbar, dass ich der Stasi Informationen geben könnte, die meine Freunde, meine Eltern oder irgendjemanden in meiner Umgebung in Schwierigkeiten bringt. Die einzig mögliche Strategie war es, auszuharren und um den heißen Brei herumzureden."

Nepszabadsag (Ungarn), 02.02.2006

Ungarn fällt es schwer, sich kritisch mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, stellt der Historiker Robert Braun fest und entdeckt Parallelen zwischen dem Umgang mit dem Fall Istvan Szabo und dem Holocaust: "Ohne die totalitären Systeme gleichsetzen zu wollen, kann man zumindest behaupten, dass beide Formen der Diktatur einen entscheidenden Schlag für die moralischen Werte waren. Gerade deshalb wäre es von großer Bedeutung, sich der Herausforderung der Erinnerung zu stellen - an den Holocaust und an den Sozialismus gleichermaßen. Interessanter als Istvan Szabos Leben selbst ist für mich die Anspruchslosigkeit, die aus vielen Reaktionen spricht. Schlecht ist auch die Stille, denn Stille ist die Flucht vor dem Urteilsspruch. Bei der Erinnerung an unsere Vergangenheit sollten wir uns eines moralischen Unterschiedes bewusst werden: Es gab in totalitären Regimes Täter, Opfer, Widerstandskämpfer und Voyeure. Wer Täter und wer Opfer war, wer Widerstand geleistet und wer nur zugesehen hat - darüber sollten wir reden."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Moralische Werte

Spiegel (Deutschland), 06.02.2006

Die niederländische Politikerin Ayaan Hirsi Ali fordert im Interview den Westen auf, die Mohammed-Karikaturen "überall" zu zeigen. Für eine Entschuldigung gebe es keinen Grund. Es "vergeht kein Tag, an dem nicht radikale Imame in ihren Moscheen Hass predigen. Sie nennen Juden und Christen minderwertig, und wir gesetehen ihnen dies als Meinungsfreiheit zu. Wann erkennen die Europäer, dass die Islamisten dieses Recht ihren Kritikern nicht zubilligen?"
Archiv: Spiegel

Outlook India (Indien), 13.02.2006

In der Titelgeschichte befasst sich Anjali Puri mit dem Kliniktourismus, der Indien neuerdings verstärkt heimsucht. Oder muss es heißen: beglückt? Der durch positive Berichterstattung in westlichen Medien angeheizte Gesundheitsbasar lockt vor allem Patienten aus den USA, Kanada und Großbritannien, wo eine gute Krankenversorgung für viele inzwischen unerschwinglich geworden ist: "Solange der Preis stimmt und die Qualität reisen sie für eine Hüft-OP oder eine Zahnbehandlung tausende Kilometer weit in ein sogenanntes Cholera-Land." Mit anvisierten 2,3 Milliarden US-Dollar Umsatz ein echter Aufschwungfaktor für die indische Wirtschaft. "Nach unglaublichen Tempeln, unglaublichen Tigern und unglaublichem Yoga, werden es bald schon unglaubliche Ärzte sein, unterstützt von unglaublicher Technologie, die in den Tourismuskatalogen zu sehen sein werden." Fragt sich, was schlecht versorgte indische Patienten tun sollen. In den Westen reisen?

Weitere Artikel: Rana Dasgupta ärgert sich über Upamanyu Chatterjees Satire "Weight Loss" über einen so desillusionierten wie zynischen Zeitgenossen, den die Lebensumstände und, wie es aussieht sogar der Autor selbst, in den Selbstmord treiben: "Den Leser überkommt das bedrückende Gefühl, dass die Moral des Autors genauso niedrig ist wie die seiner Figur." Und Sanghamitra Chakraborty überlegt, ob das Buch zum Thema Mutterschaft, das sie uns vorstellt, seine Zielgruppe auch erreicht: Mütter haben schließlich gar keine Zeit zum Lesen.
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Kanada, Satire, Mutterschaft, Cholera, Yoga

Kommune (Deutschland), 01.02.2006

Sonja Margolina beschreibt, wie sich Russland vor allem im Zuge des Tschetschenienkrieges zu einer fremdenfeindlichen Ethnokratie entwickelt, mit tatkräftiger Unterstützung des Kremls. "Das Schüren lokaler Konflikte und geheimdienstliche Provokationen waren immer schon bewährte Instrumente des sowjetischen Geheimdienstes. Heute dient die Politik 'kontrollierter Instabilität' eher der Selbstbereicherung und dem Machterhalt der neuen 'Sicherheitsoligarchie', die im Blick auf das Jahr 2008 die Operation 'Nachfolger' gestartet hat. Ob der Kreml den von ihm geschürten Fremdenhass auch weiter zu kontrollieren vermag oder dessen Geistern später nicht mehr Herr werden wird, ist eine Gretchenfrage zynischer Machtpolitik. In einem Vielvölkerstaat wie Russland kann der Nationalismus sowohl der Mehrheit als auch der Minderheiten lediglich eine destruktive Rolle spielen."

Victor Pfaff zeichnet ein düsteres Bild der Situation in Afghanistan: Islamisierung und Korruption beherrschten den Alltag mehr als die vielbeschworenen Aufbauerfolge: "Afghanistan ist im Griff der organisierten Kriminalität: Raub, Landraub, Medikamentenfälschung, Drogenschmuggel und -handel sind an der Tagesordnung. Nicht selten ist die Polizei mit von der Partie. Besonders katastrophal ist, dass Kinder entführt werden. ISAF hat im Jahr 2004 allein im Raum Kabul 160 Fälle registriert. Mädchen und Jungen im Alter von 5 bis 15 Jahren werden entführt für Zwecke der Organtransplantation, Erpressung, Verschleppung in die Arbeits- und Kriegssklaverei und in den Sexualmissbrauch."

Weiteres: Georg Vobruba möchte das garantierte Grundeinkommen neu diskutieren, und Michael Opielka geht der Frage nach, was die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in Misskredit gebracht hat.
Archiv: Kommune

Guardian (UK), 04.02.2006

Der indische Autor Pankaj Mishra blickt schaudernd auf seine frühere Liebe zur Sowjetunion zurück, die ihn sogar den Einmarsch in Afghanistan begrüßen ließ: "Ich erinnere mich noch, wie sehr mich Fotos von Jimmy Carter im Weißen Hause schockiert haben: er hatte seine Füße auf dem Tisch. Später war ich genauso entsetzt, als ich erfuhr, dass die Amerikaner einen Schauspieler zum Präsidenten gewählte hatten. Konnte man solchen Menschen trauen? Dagegen strahlten die Sowjetführer gutmütige Macht und Verständnis aus. Ich studierte sie so genau wie ein Kreml-Astrologe, allerdings nach Zeichen und Omen für meine eigene Zukunft. Die Brauen von Breschnew, die Melancholie von Gromyko, die stählerne Ernsthaftigkeit von Suslow - wie beredt sie zeugten von der selbstlosen Hingabe an soziale und ökonomische Gerechtigkeit!"

Weiteres: Iain Sinclair erzählt, wie er sich als Mitglied an der Jury daran beteiligen musste, für die Penguin Classics neue Cover auszusuchen. Mit "brutaler Hast" sei es zugegangen: "Nächster Tisch: 'Verbrechen und Strafe'. Die gleiche Routine. Jetzt beteiligen sich auch andere Juroren an dem Gemetzel. Weg, weg, weg. Fußspuren im Schnee..." Terry Eagleton feiert Jugenderinnerungen des irischen Autors Hugo Hamilton "The Sailor in the Wardrobe" und stellt fest: "Anders als in England war die Familie in Irland viel eher der Mikrokosmos der Geschichte als ein Schutz vor ihr." Besprochen werden unter anderem Robert Irwins Verteidigung des Orientalismus "For Lust of Knowing", Sarah Waters' Roman "The Night Watch", Zoran Zivkovic' sardonische Fabel "Hidden Camera" und Tim Parks Porträt einer Vater-Sohn-Beziehung "Cleaver".
Archiv: Guardian

Point (Frankreich), 02.02.2006

Als "Bombe" apostrophiert Le Point das "Journal atrabilaire" (Gallimard) von Jean Clair, dem derzeitigen Direktor des Pariser Picasso-Museums und Kurator der überaus erfolgreichen Ausstellung über Melancholie im Grand Palais. In seinem "galligen Tagebuch" geht Clair auch mit der französischen Kulturpolitik ins Gericht. Le Point druckt einige Auszüge aus dem Buch, unter anderem Claires Haltung zur paneuropäisch höchst erfolgreich gewordenen Einrichtung der "Nacht der Museen". "Gestern Abend hat das Picasso-Museum 4633 kulturbeflissene Besucher empfangen, die Kinderwagen noch nicht mitgerechnet. Höllischer Lärm und ebensolche Hitze. Um nicht umzufallen, haben sich die neuen abendlichen Besucher an den Bildern abgestützt. Kein Wachpersonal, das sie daran hinderte: es gab keinerlei Geld, um Überstunden zu bezahlen. (...) Hier wie überall tut man nichts anderes, als schamlos die Reichtümer der Vergangenheit zu verschleudern. Man stellt, ohne nachzurechnen, einen Wechsel auf ein Erbe aus, das uns anvertraut wurde, ohne dieses Erbe zu vermehren oder es zu bewahren und zu sichern. Ein dekadenter Ausverkauf."

Im Nouvel Observateur ist ergänzend ein Interview mit Jean Clair zu lesen.
Archiv: Point

Al Ahram Weekly (Ägypten), 02.02.2006

Ahmed Naguib Roushdy erklärt, wie Rede- und Pressefreiheit einen Staat vor Terror schützen könnnen: "Freiheit ermöglicht es dem Individuum, seinem Ärger Luft zu machen, anstatt ihn zu unterdrücken oder fehlzuleiten. Sie erlaubt es der Regierung, sich mit ihren Gegnern auseinanderzusetzen und Fehler zu korrigieren. Sie bringt dem Gläubigen andere religiöse Überzeugungen nahe und hilft, diese zu tolerieren."

Wie unscharf die Grenzen dieser Freiheit sein können indes, belegt der Beitrag von Gihan Shahine zu den Reaktionen der arabischen Welt auf die vom dänischen Jyllands-Posten publizierte Entschuldigung wegen der Mohammed-Karikaturen. Während die einen eine Verschärfung der Boykotte fordern, predigen andere, wie der islamische Gelehrte Abdel-Sabour Shahine, Toleranz im Namen des Propheten: "Mohammed selbst war ständig Ziel von Anfeindungen, und seine Reaktionen waren so tolerant, dass sogar seine Gegner schließlich Muslime wurden."

Weitere Artikel: In einem Beitrag zu Steven Spielbergs Kinofilm "München" wirft der Politikwissenschaftler Joseph Massad Spielberg Verdrehung der Tatsachen vor und weist darauf hin, dass "die Palästinensische Gewalt eine Reaktion war auf die zionistische Eroberung und Mord." Spielberg stelle die israelischen Terroristen menschlich dar: "Sie lachen, weinen, lieben, kochen, essen, töten, bereuen." Die Palästinenser dagegen erschienen gewissenlos: "Anders als ihre israelischen Gegenspieler schießen sie, ohne zu weinen." Dass es arabische Literatur auf dem deutschsprachigen Markt nicht leicht hat, dokumentiert ein Beitrag von Rania Khallaf. Mangelhafte Kommunikation zwischen Verlagen, Autoren und Kulturinstitutionen und praktisch keine staatlich geförderten Projekte. Rühmliche Ausnahmen: Die Sphinx Books Agency, DTV und die Schweizer Verlage Lenos und Lisan.
Archiv: Al Ahram Weekly

New Statesman (UK), 06.02.2006

Als Statistin in einer Henry-James-Verfilmung hat die Autorin Siri Hustvedt die so angenehme wie bewusstseinsverändernde Wirkung eines Korsetts erfahren. Auch den Reifrock und den an den Hüften wattierten Unterrock weiß sie nun zu schätzen. "In einem Reifrock kann niemand den Boden schrubben. Die Frau, die ihn trägt, signalisiert, dass sie den lieben langen Tag niemals in die Knie geht. Mit ihm kann man Blumen arrangieren, eine Teetasse heben, ein Buch lesen oder seinen Bediensteten Aufgaben zuweisen. Der Reifrock war ein Zeichen von Klasse, seine Einschränkungen bedeuteten Luxus. Wie die überlangen Fingernägel der chinesischen Aristokraten zeigt er: 'Ich arbeite nicht für Geld.'"
Archiv: New Statesman

Reportajes (Chile), 05.02.2006

Lobende Worte für die neue chilenische Präsidentin Michelle Bachelet aus dem Munde von Sebastian Ewards, Ex-Weltbank-Ökonom und Kolumnist der chilenischen Reportajes: "Die Präsidentin hat den ersten Schritt mit dem rechten Fuß getan. Sie hat eine genuine Fähigkeit zu raschen und wohl überlegten Entscheidungen an den Tag gelegt. Der beste Beweis dafür ist die Qualität des von ihr ernannten Kabinetts, bei dessen Zusammenstellung sie sich strikt an die im Wahlkampf gegebenen Versprechen gehalten hat: Geschlechterparität und viele neue Gesichter - schon allein diese Einhaltung von Wahlversprechen ist eine für hiesige Verhältnisse wohltuende Seltenheit."

Der Schriftsteller Roberto Ampuero spekuliert über den Einfluss, den Bachelets Erfahrungen mit der sozialistischen "Gerontokratie" während ihrer Exiljahre in der DDR auf ihren so unkonventionellen wie pragmatischen Politikstil gehabt haben dürften. Die grundlegenden Veränderungen seit jener Zeit illustriert Ampuero, der seinerseits einige Zeit als Emigrant in Ost-Berlin zubrachte, so: "Die einstige Vertretung der von den Putschisten gestürzten chilenischen Regierung in der DDR - die 'Oficina Chile Antifascista' - ist heute ein Swinger-Club mit dem kuriosen Namen 'Pärchen Contact' - dessen Kürzel prangt als rotes Graffiti über dem Eingang: PC."
Archiv: Reportajes

Spectator (UK), 04.02.2006

In einem Kommentar vermisst Daniel Wolf die offene Zensur, wie sie noch im England der Sechziger praktiziert wurde. Das sei geschmackvoller und ehrlicher gewesen als die heutige politische Korrektheit. "Zu glauben, dass wir neue Höhen der Freiheit und damit der Perfektion erklommen haben, weil wir ein gewisses Maß an Zurückhaltung verloren haben, ist ein klassischer Fehler. Die freie Rede ist heute im gleichen Maße kontrolliert wie vor dem Aufkommen des Fernsehens und des Internet, wahrscheinlich sogar mehr. Die Regierung nützt das öffentliche Desinteresse gegenüber den Grundsätzen einer freien Gesellschaft aus, Gegenmeinungen werden von Interessengruppen als 'unakzeptabel' oder 'unpassend' bezeichnet."
Archiv: Spectator

Gazeta Wyborcza (Polen), 04.02.2006

"Polen ist ein Land der Neurosen und Tragikomödien. Aber ich mag das, Literatur lebt davon", stellt im Interview mit der polnischen Tageszeitung der Schriftsteller Andrzej Stasiuk fest. Er erzählt, wie seine Herkunft aus Praga, dem ärmeren Viertel von Warschau, auf dem rechten Weichselufer, ihn vorgezeichnet hat: "Moldova, Albanien und Rumänien liegen in gewisser Weise ja auch auf dem falschen Ufer Europas. Ich versuche diese Zweitrangigkeit zu erhöhen. Ich kann nicht sagen, welches Ufer besser oder schlechter ist. Ich kann nur sagen, was mich an dem anderen fasziniert: die Unfähigkeit, die Schüchternheit, die Demut und die Hoffnungslosigkeit. Das Europa auf der besseren Seite könnte ohne sein verzerrtes Abbild nicht existieren."

Im letzten Teil seiner Artikelserie über Arbeitsmigranten in Europa, beschreibt der in Schweden lebende, polnische Publizist Maciej Zaremba die Schattenseiten des schwedischen Wohlfahrtstaates. Aufgrund der einzigartigen gesellschaftlichen Konstellation übten übermächtige Gewerkschaften quasi staatliche Macht aus. "In einer neuen Konstellation - freier Arbeitsmarkt in der EU - reklamieren sie für sich, die Interessen aller Arbeitnehmer in Schweden zu vertreten, ohne die Arbeitgeber oder gar die Arbeitnehmer selbst zu fragen. Das schafft mafiöse Verhältnisse, weil die Einhaltung diese Regeln vom Arbeitsgericht überwacht wird, das ebenfalls mit Gewerkschaftsfunktionären besetzt ist."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Przekroj (Polen), 02.02.2006

Für Jakub Kumoch vom polnischen Magazin Przekroj ist Europa auf dem Weg zur "Union der kleinsten Vaterländer". "Der von Brüssel gewollte Regionalismus ist Verbündeter vieler europäischer Seperatismus- und Autonomiebewegungen. Sie träumen von einem Europa, in dem nicht die Staaten sondern die Regionen den Ton angeben, in dem jede Sprache offiziell anerkannt ist und in dem sie nur von Brüssel, nicht von London, Madrid oder Rom abhängig sind. Kein Wunder, dass politische Vertreter dieser kleinen Nationen so proeuropäisch sind." Die Frage ist nun, so Kumoch, wozu das führen wird: Zu einer großen, europäischen Familie unabhängiger Staaten oder zu einer ernsthaften Destabilisierung Europas.

Der historische Roman "Warunek" ("Die Bedingung") wurde letztes Jahr in Polen nahezu euphorisch aufgenommen. Für Eustachy Rylski ist der Erfolg seines Buches ein Anzeichen dafür, "dass die Zeit für engagierte Literatur, im besten Sinne des Wortes, gekommen ist. Zumal solche Werte wie Patrotismus immer mehr an Bedeutung verlieren. Nur mit einem kann ich nicht fertig werden: mit dem Ende der Intelligenz. Polen ohne seine Intellektuellen ist wie ein Fisch ohne Kopf." Trotz des Erfolgs von "Warunek" konstatiert Rylski: "Literatur ist nicht mehr wichtig, sie ist kein wichtiger Teil des Lebens mehr. Schade - nicht nur für die Literatur".
Archiv: Przekroj

New York Review of Books (USA), 23.02.2006

Der irische Schriftsteller John Banville preist den Dichter Philip Larkin, auch wenn dessen Ansichten über "Rasse und Klasse" in ihrer "Heftigkeit und Bösartigkeit haarsträubend" gewesen seien. Banville versucht sich an einer Verteidigung: "Man könnte sagen, dass Larkin ein Opfer dessen wurde, was unsere Lehrer-Priester 'schlechten Umgang' zu nennen pflegten. Richard Bradford hat gezeigt, dass alle Hinweise darauf, dass Larkin ein frauenhassender, intoleranter Rassist war, in den Briefen an Colin Gunner und Kingsley Amis zu finden sind."

J.M. Coetzee bespricht Gabriel Garcia Marquez' Roman "Memoria de mis putas tristes", der jetzt als "Memories of My Melancholy Whores" auf Englisch erschienen ist. Er hält den Roman zwar nicht für besonders stark, aber seine Stoßrichtung für mutig: "Im Namen eines alten Mannes zu sprechen, der sich nach minderjährigen Mädchen sehnt, die Pädophilie sprechen zu lassen, oder zumindest zu zeigen, dass Pädophilie nicht unbedingt eine Sackgasse für den Liebenden und die Geliebte ist."

Weiteres: Charles Rosen widmet sich ausführlichst Richard Taruskins sechsbändiger "Oxford History of Western Music". Daniel Mendelsohn besteht darauf, Ang Lees "Brokeback Mountain" als einen Film über eine schwule Liebe zu sehen, und nicht als universell gültige Liebesgeschichte. Denn kein Heteropaar erfahre derart desaströse Konsequenzen "erotischer Selbstunterdrückung und sozialer Intoleranz". Mit wachsendem Horror liest Thomas Powers James Risens Bilanz der Geheimdienstarbeit vor dem Irakkrieg "State of War". Und Ronald Dworkin kommentiert säuerlich die Bestätigung von Samuel Alito zum Obersten Richter der USA durch den Senat: "Wenn er seine wahren Meinungen darüber offengelegt hätte, welche Rechte die Verfassung schützt, wäre er wahrscheinlich abgelehnt worden."

Economist (UK), 03.02.2006

Niemand hatte mit einem Wahlsieg der Hamas gerechnet, so der Economist, auch nicht die Hamas, die im Wahlkampf eher Alltagsprobleme wie Korruption und Arbeitslosigkeit zur Sprache brachte. Und so sind "die Fragen, die jetzt jeder stellt, Fragen, von denen die Hamas nicht dachte, dass sie sie jemals beantworten müsste. Wie wollt ihr ohne jegliche Erfahrung eine Regierung bilden? Werdet ihr Israel anerkennen? Werden eure Milizen in den Sicherheitskräften der palästinensischen Autonomiebehörde aufgehen? Werdet ihr die Scharia einführen? Welche Zugeständnisse werdet ihr machen, um weiterhin finanzielle Hilfe aus dem Ausland zu bekommen?" Bislang versucht die Bevölkerung das Ganze mit Humor zu nehmen, wie der Economist vielerorts beobachtet hat, doch "wenn eine Gesellschaft Humor gebraucht, um ein Vakuum auszufüllen, dann um die Angst zu knebeln, dass dieses Vakuum bald von etwas weitaus Unlustigerem ausgefüllt werden könnte."

Weitere Artikel: Sie alle berufen sich auf den Islam, doch die verschiedenen islamischen Gruppierungen - etwa al-Quaida oder die Muslimbruderschaft -unterscheiden sich sowohl in ihren Zielen als auch in den Mitteln, mit denen sie diese Ziele verfolgen, erklärt der Economist in einem ausführlichen Artikel. Berichtet wird vom Verbot des Magazins Bing Dian, das der Economist als weiteres Kapitel einer nicht enden wollenden Eiszeit für die Gesellschaftskritik in China deutet.

Außerdem zu lesen: ein Nachruf auf Christopher Lloyd, den Bilderstürmer unter den englischen Gärtnern, ein kurzes Porträt der sogenannten alternativen Fotografie, die auf alte Fototechniken zurückgreift, und eine Einschätzung von George Bushs jüngster Rede zur Lage der Nation (günstigerweise inhaltsschwach).
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 02.02.2006

Im Debattenteil gibt der englische Schriftsteller Jonathan Coe Auskunft über Englands "Blair-Jahre", die auch Thema seines jüngsten Romans "The Closed Circle" sind. Blair sei "zugleich Symptom wie Motor einer Epoche. (...) Er erschien als eine charismatische, quasi eine Leit-Figur, die die Wähler verführte, wie es noch keinem Labour-Politiker vor ihm gelungen war. Und als die alten Linksanhänger der Partei seine tatsächliche Politik erkannten, reagierten sie wie abgeblitzte Liebhaber." Am schlimmsten sei, dass Blair über die Gründe für den Irakkrieg gelogen habe, das aber "schon wieder vergessen sei. Kein Verantwortlicher geruhte, zu seinem Irrtum zu stehen. Es ist verblüffend, dass der eloquenteste Widerstand gegen diesen Krieg zum größten Teil von der politischen Rechten kam. Man liest flammende Leitartikel, zu denen man nur applaudieren kann, um am Ende der Seite den Namen eines ehemaligen Ministers von Frau Thatcher zu entdecken!"

Das Titeldossier beschäftigt sich mit dem Islam in Frankreich und stellt unter anderem die Fragen, ob er eine Bedrohung für den Laizismus darstelle und man die Integrationsbemühungen verstärken müsse. Zu lesen ist unter anderem ein Interview mit dem Autor Patrick Haenni, der ein Buch über einen aus ökonomischen Gründen zunehmend "pragmatischer" agierenden Islam geschrieben hat ("L'Islam de marche. L'autre revolution conservatrice", Seuil). Formuliert werden außerdem die "fünf Baustellen des Islam", dessen Modernisierung, so der Anthropologe Malek Chebel, eine "Voraussetzung für die Kompatibilität mit dem Laizismus" sei.

New York Times (USA), 05.02.2006

"Ein Buch wie Sprengstoff", urteilt der ehemalige CNN-Chef Walter Isaacson über "State of War" von James Risen. Das auf anonymen Quellen basierende Buch (hier eine Kostprobe) erkundet die verborgene Geschichte der CIA und der Bush-Administration. Abhören, Foltern - wie weit ging das, wie lange und in wessen Namen? Risens Antworten, so vermutet Isaacson, seien "zu achtzig Prozent wahr". Mehr sei nicht drin auf diesem Feld der Geschichtsschreibung: "Wie ein impressionistisches Gemälde stützt sie sich auf Punkte von variierender Schattierung und Intensität. Einige stammen aus 'undichten Stellen', andere aus den Erinnerungen und Gedanken der Beteiligten. Stück für Stück entsteht so ein Bild. Es ist an uns, die Punkte zu verbinden und einen Sinn zu entdecken in dieser Landschaft."

Kennen Sie Malcolm Gladwell? Der Mann ist ein Tausendsassa: Gefragter Journalist und Wirtschaftsberater mit 40.000 Dollar-Lesehonoraren, Mitarbeiter des New Yorker, Autor der Bestseller "The Tipping Point" (Leseprobe) und "Blink" (Leseprobe) und mit seinem Stilmix aus sozialwissenschaftlicher Fallstudie und grell-komischer anekdotischer Charakterschau Erfinder eines neuen literarischen Genres. Rachel Donadio stellt uns den Mann mit der wildesten Mähne im westlichen Publikationszirkus vor (hier). "In Zeiten fortschreitender Spezialisierung ist Gladwell der Vermittler schlechthin, zwischen der New Yorker literarischen Welt und dem übrigen Amerika, zwischen liberal und konservativ, Mann und Frau, oben und unten." (Mehr im Audiointerview)

Außerdem in der Review: Der abschließende Teil von Taylor Branchs monumentaler Trilogie über Martin Luther King und seine Zeit (Leseprobe "At Canaan's Edge"). Und Dave Itzkoff zeigt sich "zu Tode erschrocken" von Stephen Kings neuem Roman "Cell" (Leseprobe). - Ein mysteriöser Ton im Handy verwandelt eifrige Mobiltelefonisten in Zombies.

Was passiert, wenn wir lügen? Und wie lässt es sich erkennen? Im Magazin der New York Times geht Robin Marantz Henig diesen spannenden Fragen nach: "Unglücklicherweise erfassen die gängigen Detektoren nicht die Lüge selbst, sondern die Angst vor ihr ... So kommen die gefährlichsten Lügner davon: Die, die es nicht kümmert zu lügen, die, die nicht wissen, dass sie es tun, die, denen man es beigebracht hat, und diejenigen, die nichts zu verlieren haben, wenn sie erwischt werden - die für die Sache sterben würden, weil sie daran glauben."

Weitere Artikel: Außerdem stellt uns Sara Corbett den Puerto-Ricanischen Raggaeton-Star Daddy Yankee anhand der nach ihm benannten Sneakers vor: "Ein hübsches Stück, mehr Lifestyle- als Sportschuh und dazu geschaffen, Yankee so gut zu repräsentieren, wie es ein genähtes Stück Leder nur vermag." Der Turnschuh kann auch singen (hier und hier). Und Rob Walker wirft einen Blick auf die rasch wachsende Gemeinde der in internationalen Ligen organisierten, in gut dotierten E-Sports-Meisterschaften konkurrierenden Computerspiel-Athleten und ihrer Fans.
Archiv: New York Times