Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.03.2006. Die Säkularen interessieren sich nicht für soziale Gerechtigkeit, darum sind die Islamisten so erfolgreich, glaubt Al-Ahram. Der New Yorker liest Francis Fukuyamas Abrechnung mit den Neocons. In Spiegel online glaubt Feridun Zaimoglu an die Europäisierung der Muslime. Outlook India überlegt, ob die indischen Muslime nicht als Volksgemeinschaft akzeptiert werden sollten. In der Gazeta Wyborcza empfiehlt Adam Michnik einen Roman über Opposition im kommunistischen Polen. Im Guardian lässt Seamus Heaney nichts auf W.B. Yeats kommen - trotz dessen Sympathie für die Faschisten. Die Weltwoche porträtiert Alain Finkielkraut. Die New York Times lauscht einer Debatte mit 400 Worten/min.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 16.03.2006

Gihan Shahine erklärt, warum eine kürzlich in Kopenhagen abgehaltene Konferenz (mehr hier) zwischen freundlichen jungen Muslimen und freundlichen jungen Dänen bei islamischen Offiziellen nicht so gut ankam: "Die nicht eingeladene dänische Muslim-Gemeinde sprach von unpraktischem Stückwerk, das am Thema vorbeiziele und die Situation verschlimmern könne ... Das Europäische Komitee zur Unterstützung des Propheten Mohammed meinte, die dänische Regierung verbuche solche Aktionen als politischen Sieg."

Amr Hamzawy, Forscher am Carnegie Endowment for International Peace in Washington, konstatiert, dass in der Vergangenheit weder linke noch säkulare Kräfte in der arabischen Welt auf die Entwicklungen reagiert haben, die islamischen Parteien so großen Zulauf beschert haben: Die Dominanz des westlichen Lebensstils, Korrpution und eine epidemische Armut: "Die Islamisten haben es geschafft, die Frage nach der Gerechtigkeit zu einer in erster Linie religiösen Angelegenheit zu machen. Sie haben ihre Diskurse graduell um das Problem der Freiheit erweitert, und damit den Säkularisten den Teppich unter den Füßen weggezogen. Das Problem besteht nicht darin, dass die Etablierung säkularer Kräfte keine Zustimmung finden würde, sondern in der Unfähigkeit dieser Kräfte, die vorhandenen strategischen Möglichkeiten zu nutzen, und in ihrem Versagen, politische Themen zu setzen, die weite Teile der Bevölkerung einbeziehen würde."

Weitere Artikel: Serene Assir erkundet die Repräsentationskriterien, die (und nicht nur in Arabien) Mann und Frau in der medialen Öffentlichkeit trennen: "Eine Sängerin mit dem richtigen Äußern kann es schaffen, ob sie singen kann oder nicht; ein Mann muss sich nicht um sein Gewicht oder seine Rasur sorgen, solange er Talent hat oder hart arbeitet." Rania Khallaf berichtet, wie die ägyptische Regierung Kulturhoheit praktiziert (indem sie eine beliebte Freilichtbühne in Kairos Al-Azhar Park schließt). Und Nehad Selaiha hat eine hypnotische Begegnung mit Rudolf Steiner und dem Teufel - während einer eurythmischen Inszenierung von Goethes Faust auf einer ägyptischen Anthroposophen-Farm.
Archiv: Al Ahram Weekly

New Yorker (USA), 27.03.2006

Louis Menand hält das neue Buch des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama ("America at the Crossroads: Democracy, Power, and the Neoconservative Legacy", Yale) eher für eine "milde gestimmte Polemik" gegen die Bush-Regierung als für eine theoretische Abhandlung über Staatskunst. Fukuyama, der sich immer selbst als Neokonservativen verstanden hatte, vertritt die These, dass der "Krieg gegen den Terror und besonders der Einmarsch in den Irak keine Anwendung neokonservativer Prinzipien darstellt, wie er sie verstand. George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld seien keine neokonservativen Intellektuellen, sondern rechtsgerichtete Eiferer und Missionierer, deren Kriegsbestrebungen für die amerikanischen Interessen ein Desaster darstelle. Sie globalisierten einen Konflikt, den sie besser eingedämmt hätten." Fukuyama selbst, so Menand, ist kein politischer Intellektueller, sondern ein "origineller und unabhängiger Denker, dessen Schriften nie auf einer doktrinären Basis beruhten".

Nicholas Lemann porträtiert den bekanntesten Fernsehmoderator Amerikas, Bill O'Reilly, Frontmann des Fernsehsenders Fox, Moderator der TV-Talkshow "The O'Reilly Factor" und der Radiosendung "The Radio Factor": "Wie jeder politische Moderator mit einer großen Fan-Gemeinde ist er ein Populist, der in seiner völlig unironischen Art einen reichen, mittelalten weißen Typ verkörpert, der mit der regierenden Partei verbunden ist. Zugleich hat er den Mumm, gegen die elitäre Klasse aufzubegehren, die dieses Land regiert (aber auch hasst). Wer jetzt sagt, dass ergebe keinen Sinn, bringt sich um das Vergnügen, das eine nähere Studie O'Reillys gewährt."

Weitere Artikel: Alex Ross stellt den britischen Tenor Ian Bostridge vor, der in New York kürzlich mit einem Britten-Programm glänzte. Nancy Franklin schreibt über die TV-Serie "Big Love", in der es um eine polygame Ehe in Utah geht. Hilton Als bespricht "The Emperor Jones", eine Produktion der Wooster Group. Anthony Lane sah im Kino "Inside Man" von Spike Lee und den letztjährigen Cannes-Gewinner "L?Enfant" von Jean-Pierre and Luc Dardenne. Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einer Untersuchung über die Entwicklung psychologischer Verhörmethoden durch die CIA von Vietnam bis Abu Ghraib ("A Question of Torture", Metropolitan).

Nur in der Printausgabe: eine Betrachtung über Goldrahmen und Impressionismus, die nicht zusammenpassen, ein Porträt der Präsidentin von Liberia, Ellen Johnson Sirleaf, ein nicht näher zu spezifizierender Artikel über das Eheleben einer Frau namens Alice, die Erzählung "A Love Letter" von Gary Shteyngart und Lyrik von Michael Ryan und Yehuda Amichai.
Archiv: New Yorker

Spiegel (Deutschland), 20.03.2006

In Spiegel online spricht Henryk M. Broder mit Feridun Zaimoglu über Shakespeare, die Väter seiner Freundinnen, Gott und Ehrenmorde: "... sie ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Leute reden dann von der Islamisierung Europas und übersehen dabei, dass es auch eine Europäisierung der Muslime gibt, die hier leben. Das sind inzwischen gute Deutsche, die von ihrer Umgebung beeinflusst worden sind. Auf dem Höhepunkt des Streits um die Mohammed-Karikaturen rief mich ein Bekannter an, ein gläubiger Muslim, und sagt: 'Ist das nicht ekelhaft?' Und ich denke, er meint die Karikaturen, frage aber vorsichtshalber: 'Was meinst du?' Und er sagt: 'Mach' das Fernsehen an und schau dir diese Idioten an!' Er meinte die Demonstrationen gegen die Karikaturen!"
Archiv: Spiegel

Outlook India (Indien), 27.03.2006

In einem Aufruf gegen die drohende politische und mediale Marginalisierung muslimischer Gruppierungen und ihrer Interessen durch das indische Establishment erklärt Sunil Menon, warum gerade dieser Weg der falsche wäre: "Das Absprechen politischer Mündigkeit, der Möglichkeit, als Volksgemeinschaft zu empfinden, aufzutreten und die Stimme zu erheben (wie in der Karikaturen-Kontroverse), die Reduktion auf die alte Raj-Kategorie des Mobs, der jenseits demokratischer Bedingungen agiert ... wird sie nur ins Abseits treiben und bei Gelegenheit wiederkehren lassen - als wirkliche zersetzende Kraft ... Ein 'Coming-out' böte die Möglichkeit, den eigenen sozialen und moralischen Kodex 'bei Licht' neu zu überdenken".

Weiteres: Das Titeldossier befasst sich mit indischer Mode, die als besonders farbenfroh und "demokratisch" gilt. Darin u. a. ein Ranking aktueller Topdesigner - und Fotostrecken (hier, hier und hier). Im Ressort "Buch" empfiehlt Khushwant Singh eine lebenspralle Biografie über die große indische Malerin Amrita Sher-Gil.
Archiv: Outlook India

Gazeta Wyborcza (Polen), 19.03.2006

Seit Wochen beschäftigen sich die polnischen Medien mit den Präsidentschaftswahlen in Weißrussland. Es werden die diktatorischen Machenschaften von Amtsinhaber Alexander Lukaschenko beschrieben und oppositionelle Politiker interviewt. In der letzten Wochenendausgabe der Gazeta Wyborcza kommt der prominente Journalist Pawel Scheremiet zu Wort. "Das Regime ist in Panik geraten ob der großen Resonanz auf den Wahlkampf der Opposition. Anders kann ich mir das brutale Vorgehen nicht erklären. Aber trotz der Anzeichen eines Erwachens in der Gesellschaft, sind die Weißrussen noch nicht soweit. Lukaschenko wird siegen, aber es wird ein Pyrrhus-Sieg werden, weil er alle Kräfte des Regimes dafür einsetzen muss, und dadurch seine Autorität verliert."

Adam Michnik greift persönlich zur Feder, um den neuen Roman des Schriftstellers Janusz Andermann zu loben. Es geht darin um einen Schriftsteller, der zuerst in der demokratischen Opposition wirkt, um nach 1989 in Vergessenheit zu geraten. "Dieses Buch erzählt von meinen Zeiten, meinem Millieu und meiner Generation. Es ist ein unheroischer Roman über heroische Zeiten." Beschrieben wird auch, wie die einstigen Helden von den Befürwortern der radikalen Veränderung nach und nach marginalisiert werden. Für Michnik Grund genug, das Buch zu lesen und darüber nachzudenken, was in Polen passiert.

Adam Leszczynski ist fasziniert vom Buch "Postwar" des britischen Historikers Tony Judt. "Judt zeigt, dass Europas Erfolgsstory in den letzten sechzig Jahren seine Wurzeln in den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hat. Die ganze europäische Politik wurde von Grund auf neu konstruiert, um die Dämonen zu bändigen, die den Kontinent an den Abgrund geführt haben. Der Wohlfahrtstaat, der den westeuropäischen Demokratien eine einmalige Entwicklung beschert hat, erlebt zwar aktuell eine Krise. Aber das ist ein Preis, den es wert war zu zahlen - genau so, wie die Besetzung der östlichen Hälfte Europas durch die Sowjetunion und die fehlende Abrechnung mit Kriegsverbrechern und Kollaborateuren".
Archiv: Gazeta Wyborcza

Guardian (UK), 18.03.2006

Der britische Dramatiker Tom Stoppard denkt über das Recht auf Meinungsfreiheit nach und bezweifelt, dass es ein ebenso unveräußerliches Menschenrecht ist wie das Recht auf Leben und Freiheit. Mit Blick auf Voltaires Diktum ("Ich stimme Ihnen nicht zu, aber ich werde mit meinem Leben Ihr Recht verteidigen, Ihre Meinung zu sagen") schreibt Stoppard: "Der Reiz von Voltaires Ausspruch besteht gerade darin, dass er auf Freiwilligkeit beruhte, es war seine Wahl. Er gestand seinem Gegenüber nicht ein vorrangiges Recht zu, er entschied sich, dieses Recht zu gewähren. Er markierte damit die Art der Gesellschaft, die er sich vorstellte, ein Ideal. Die grundlegende Frage bleibt: Taugt Voltaires Credo für alle Zeiten unter allen Umständen? Das Menschenrecht auf freie Rede ist ein Rohrkrepierer. Es ist kein Absolutum, auf das man sich immer und überall berufen kann. Es wird sich durchsetzen, wenn wir uns darauf verständigen."

Der irische Dichter und Nobelpreisträger Seamus Heaney verteidigt seinen Vorgänger W.B. Yeats gegen dessen Verächter: "Niemand dürfte seine fundamentale Bedeutung als Schöpfer einer kulturellen Idee in und für Irland bezweifeln, und dies ist nur ein Teil seiner Größe ... Natürlich, politische Aspekte seiner Arbeit sind immer besonders angegriffen, aber auch zurecht verteidigt zu versöhnen, etwa von Elizabeth Cullingford die ihre Studie zu Yeats als politischem Denker mit dem Vorschlag schloss, seine faschistischen Sympathien am besten als Teil seiner Fantasien zu betrachten und nicht als seine Überzeugung."

Weiteres: Als Buch der Woche preist der Schriftsteller Adam Thorpe "That Sweet Enemy", eine Geschichte der französische-britischen Beziehungen von dem binationalen Autorenduo Robert und Isabelle Tombs: "Die Briten haben die Franzosen immer mit zwei Eigenschaften verblüfft: ihrem individuellen Reichtum und ihrer Trunksucht." Außerdem ist ein Vorabdruck aus Elaine Dundys neuem Buch "The Dud Avocado" zu lesen, in denen sie beschreibt, wie sie langsam erblindete: "Es wurde schwerer und schwerer, die Worte auf meinem Computer oder Handschriftliches zu lesen, völlig unmöglich, ein Buch zu entziffern. Alle sechs Monate oder so brauchte ich eine neue Brille. Sie halfen weniger und weniger."
Archiv: Guardian

Nouvel Observateur (Frankreich), 16.03.2006

In seinem neuen Buch "Poste restante: Alger. Lettres de colere et d'espoir a mes compatriotes" formuliert der in Algier lebende Schriftsteller Boualem Sansal seine Träume von einem wahrhaft "authentischen" Algerien. In einem interessanten Abschnitt über den Sprachgebrauch im Land schreibt er unter der Überschrift "Arabisch ist unsere Sprache": "Nichts ist weniger selbstverständlich als das. Das klassische Arabisch ist zwar die offizielle Sprache, aber für niemanden Muttersprache. Zuhause und in der Familie, im Clan, Stamm und in seinem Viertel sprechen wir im Alltag Berbersprachen (kabylisch, chaoui, tamashek), arabische Dialekte oder ein wenig koloniales Französisch." Das lässt für Sansal nur einen Schluss zu: "Das klassische Arabisch ist zwar die Sprache Algeriens, aber die Algerier sprechen andere Sprachen. Erinnert das nicht an Europa im Mittelalter? Mich schon. Die Herren schwafelten auf Lateinisch, die Leibeigenen behalfen sich so gut sie konnten. Wenn die Regierung auf uns hören würde, würden wir ihr vorschlagen, arabische Dialekte und Französisch zu konstitutionalisieren. Es ist nie verrückt, Gesetze zu erlassen, die der Realität entsprechen und man kann nie über genug Sprachen verfügen, um sich verständlich zu machen."

Weltwoche (Schweiz), 16.03.2006

Ein sehr schönes Porträt des scharfsinnigen, aber widersprüchlichen und in seinen verzweifelten Widersprüchen oft übers Ziel hinausschießenden Denkers Alain Finkielkraut schreibt Daniel Binswanger. In seinem berühmten Buch "Der eingebildete Jude" schildere Finkielkraut, wie er sich von einem als komfortabel empfundenen Opferstatus Nachgeborener befreit habe - ein Weg, den er auch Kindern von Immigranten empfiehlt, die sich nicht länger als Opfer des Kolonialismus oder der Sklaverei empfinden sollten: "Was er den Holocaust-Überlebenden nicht zugestehen will, das soll für die aus Afrika stammenden Minderheiten schon gar nicht legitim sein: die Begründung einer politischen Identität auf den Verbrechen der Vergangenheit. Finkielkraut liegt im Dauerclinch mit dem Minderheitenstatus. (...)Finkielkraut wurde von der Republik mit offenen Armen empfangen. Er wurde durch die ecole republicaine sozialisiert. Er glaubt aus innerster Seele an die zivilisatorische Macht der Bildung, der Gelehrtheit, des Buches. Brennende Primarschulen bilden für den Philosophen das simple Fanal der Barbarei."
Archiv: Weltwoche

London Review of Books (UK), 20.03.2006

Die Politikwissenschaftler John Mearsheimer und Stephen Walt argumentieren gegen die uneingeschränkte Unterstützung Israels durch die USA und kritisieren den großen Einfluss der Washingtoner Israel-Lobby. "Andere Interessensgruppen haben die Außenpolitik auch verändert, aber keine hat es geschafft, sie so weit von den nationalen Interessen zu entfernen." Israels Wert als Partner sei gesunken. "Der erste Golfkrieg enthüllte, in welchem Ausmaß Israel zur strategischen Last geworden ist. Die USA konnten keine israelischen Basen benutzen, ohne die anti-irakische Koalition zu erschüttern, und es musste Ressourcen abzweigen (etwa Patriot-Raketen), um Tel Aviv davon abzuhalten, irgendetwas zu unternehmen, was die Allianz gegen Saddam Hussein gefährden könnte. Die Geschichte wiederholte sich 2003: Obwohl Israel die USA zum Angriff auf den Irak anhielt, konnte Bush es nicht um Hilfe fragen, ohne arabischen Widerstand zu provozieren. So blieb Israel wieder einmal außen vor."

Weitere Artikel: Katja Behlings Biografie über "Martha Freud" tut wenig, um das altbekannte Bild der ergebenen Hausfrau zu erschüttern, notiert Jenny Diski mit sichtlichem Bedauern. Stephen Youngkins Buch über den Schauspieler Peter Lorre hat Bee Wilson offenbar ebenso beeindruckt wie der Porträtierte selbst, der sich damit brüstete, dass ihm niemand in beide Augen zugleich sehen könne und seine Kollegen anwies: "Suchen Sie sich einfach eines aus. Die Kamera wird den Unterschied nie bemerken." In den Short Cuts rätselt Thomas Jones, warum man beim sommerlichen Port Eliot Lit Fest gestandenen Schriftstellern dabei zusehen sollte, wie sie musizieren, tanzen und filmen.

Point (Frankreich), 16.03.2006

In seinen bloc-notes staunt Bernard-Henri Levy darüber, dass die Bewegung der "neuen Philosophen" bereits auf eine 30-jährige Geschichte zurückblicken kann. "Die Feinde, ja, die Feinde, damals schon dieselben wie heute; es ist sonderbar zu sehen, inwiefern sie tatsächlich dieselben sind, auf immer und ewig dieselben, sie scheinen ständig wiedergeboren zu werden: Die Namen wechseln, der Hass bleibt, wir waren kaum aufgetaucht, da schrieben sie schon an unserem Nachruf und dicke Bücher darüber, dass wir keine Zeile wert seien. Und dann schließlich der Kampf... die Unterstützung der Dissidenten Mittel- und Osteuropas, dann der bombardierten Zivilisten von Sarajewo. Der Wutschrei über das Martyrium Tschetscheniens oder die vergessenen Kriege Afrikas. Die Verteidigung der algerischen Frauen und all jener Muslime, die mit nackten Händen gegen den Islamofaschismus kämpfen. Und so weiter... Ich glaube, dass wir uns für unsere Geschichte nicht schämen müssen - und noch weniger für unsere Jugend."
Archiv: Point

HVG (Ungarn), 18.03.2006

Der Politologe Andras Körösenyi glaubt, dass sich die Demokratie in Ungarn seit 1998 gewandelt hat: die zentrale Stellung der Partei wird durch die ihrer Spitzenpersönlichkeit ersetzt. Auf die Frage, ob diese Art der Demokratie noch als Demokratie bezeichnet werden kann, antwortet der 47-jährige Wissenschaftler: "Ich halte die Demokratie nicht für eine heilige Kuh, sondern grundsätzlich für eine Institution und für eine Methode der Machtausübung. Außerdem meinen wir derzeit in einer Demokratie zu leben, doch dem ist nicht so. Unser parlamentarisches System ist nicht demokratisch, sondern demokratisiert, und zwar in der Hinsicht, dass jeder das Recht hat, die Abgeordneten zu wählen. Die Demokratie liefert lediglich die Legitimität der Macht. Die wichtigen Entscheidungen werden aber nicht mehr von uns, dem Volk, sondern von den Politikern gefällt. Solange die demokratischen Institutionen erhalten bleiben, müssen wir eine Diktatur nicht befürchten."
Archiv: HVG
Stichwörter: Hvg

Economist (UK), 18.03.2006

Die großen Medienkonzerne drängen mit Wucht ins Internet, stellt der Economist fest. "Es gibt keinen Zweifel, dass unter den großen Konzernen Rupert Murdochs News Corporation am entschiedensten gehandelt hat. Viacom hat dagegen einige Gelegenheiten verpasst, vielleicht weil es im vergangenen Jahr damit beschäftigt war, sich von der Schwestergesellschaft CBS zu trennen. Nicht nur MySpace.com ist ihnen entgangen, auch der Musik-Download-Service, den sie seit Jahren ankündigen (zusammen mit Microsoft ist im Laufe des Jahres ein Service namens 'Urge' geplant), muss noch veröffentlicht werden. Währenddessen hat Apple den Online-Musikmarkt übernommen. Die Firmen verfolgen eine unterschiedliche Strategie im Internet. Viacom und News Corporation wollen brandneue Onlineunternehmen aufbauen oder einkaufen und ihre existierenden Marken auf das Netz ausdehnen. Disney und Time Warner stellen hauptsächlich eigene Inhalte ins Netz."

Weitere Artikel: Weil sich das Open-Source-Modell von der Software-Branche auf weitere Wirtschaftsbereiche wie etwa die Medikamentenherstellung auszudehnen beginnt, untersucht der Economist Vor- und Nachteile des Systems. Der durchschnittliche Brasilianer liest 1,8 nicht-akademische Bücher im Jahr und damit halb so viel wie in Europa, beklagt ein Artikel. Und im Titel werden die letzten Tage von Premierminister Tony Blair eingeläutet.
Archiv: Economist

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.03.2006

Der Philosoph Peter Himmer untersucht in einem Beitrag zur Stasi-Debatte die ethischen Aspekte. Gefragt ist hier seiner Meinung nach, "der kategorische Imperativ. Denn mit wahrhaftigen ethischen Dilemmata werden wir nicht im Alltag konfrontiert, die Ethik ist gerade in der Welt der nicht oder kaum auszuhaltenden Umstände zu Hause. Hier kommt es aber sehr oft vor, dass wir gerade im Hinblick auf die Seriosität oder Exklusivität der Situation am liebsten jedwede Ethik beiseite schieben würden. Doch was ist das für eine Moral, der wir nur solange gehorchen wie alles um uns in Ordnung ist - und sobald wir in eine außerordentliche Situation geraten, das bis dahin als gültig angesehene moralische Gesetz wegwerfen?"

Jüngst forderte der Bischof Andras Veres, Sekretär des Katholischen Bischofskollegs die Schaffung einer christlichen (kirchlichen) Grundlage für die Europäische Union: "Veres setzt uns damit das historisch ziemlich fragwürdige Modell eines 'christlichen Europas' als Beispiel" - meinen die Religionswissenschaftler Peter Buda, Csaba Fazekas und György Gabor, "wenn er behauptet, die Katholische Kirche habe ihre Fähigkeit, Nationen aufgrund des Wertsystems der Evangelien integrieren zu können, schon unter Beweis gestellt. Er lehnt das Konzept eines säkularen Staates ab, weil die Opposition der geistigen Führer der EU gegen christliche Werte offensichtlich sei und 'in der Gesetzgebung und der Führung der EU eine sehr starke, antichristliche Minderheit zur Geltung komme'. Veres will die EU als politische Gemeinschaft aufgrund der ethischen Prinzipien der Kirche integrieren - und hält damit die Neutralität des Säkularen schlichtweg für antikirchlich. Diese Aussagen lassen vermuten, dass sich die derzeitige katholische Hierarchie mit der Restauration des kirchlichen Zeitalters identifiziert."

Spectator (UK), 18.03.2006

Der Spectator begeht in dieser Ausgabe ausführlichst den dritten Jahrestag des Einmarschs in den Irak. Im Aufmacher bleibt Con Coughlin dabei, dass es richtig war, den Krieg zu beginnen, er hätte vielleicht nur besser geführt werden müssen. Ron Liddle hält es dagegen für an der Zeit zuzugeben, dass der Krieg ein Desaster war: "Haben wir die Lage im Irak verbessert? Wird sich die Lage mittelfristig verbessern? War die These, aufgrund der wir den Krieg begonnen haben, korrekt? War Krieg der Strategie vorzuziehen, Saddam 'einzudämmen'? Auf all diese Fragen ist die Antwort - unabhängig davon, auf welcher Seite man ursprünglich gestanden hat - ein unmissverständliches Nein."

Philip Longworth empfiehlt Richard Pipes' Studie "Russia's Conservatism and its Critics", die das Fehlen einer zivilen Gesellschaft in Russland mit der Verantwortungslosigkeit der Intelligenzia erklärt und der Tradition, den Zar und den Staat gleichzusetzen: "Wenn russische Politik manchmal an ein Mysterienspiel erinnert, dann liegt es auch an einem anderen Zug in der politischen Kultur - der manichäischen Tendenz, einen Führer entweder als Heiland zu preisen oder als Antichrist zu verteufeln."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Irak, Mysterienspiel

New York Times (USA), 19.03.2006

Treffer - versenkt. Wem gerade nach einem gut geschriebenen Verriss ist, der lese Walter Kirns Abrechnung mit dem Harvard-Professor Harvey C. Mansfield und dessen Studie über "Männlichkeit". Unter den Talaren, der Muff von... Oder, wie Kirn es formuliert: "In welcher fernen Galaxie hat Mansfield sein Teleskop aufgestellt, um das Verhalten von uns Erdlingen zu untersuchen?" Mansfield bemühe Wissenschaft, Literatur und 40 Jahre alte Erfahrungswerte zum Thema 'weibliche Schlagfertigkeit', um zu beweisen, dass es nichts zu beweisen gebe, "dass Mann und Frau sich im Innersten unterscheiden und zwar genauso, wie wir es immer vermutet haben".

Wie sagt man hier: Miezen-Literatur? Rachel Donadio verschafft uns einen internationalen Überblick über die "chick-lit"-Romane für und über "berufstätige Frauen bis 40 mit Drang nach Unabhängigkeit und Glamour" - und was sie so populär macht: "Als Marketing-Trick verschrien, als Ausgeburt westlichen Kulturimperialismus oder Rückschritt in vor-feministische Zeiten, erweist sich dies Genre als extrem anpassungsfähig, etwa an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse in Osteuropa und Indien, wo traditionelle Werte mit einer neuen Wirtschaftsordnung kollidieren." Und wo im Fernsehen todsicher "Sex and the City" läuft.

Ferner werden besprochen: Ein Buch, das den Aufstieg der Republikaner in der US-Politik kritisch beleuchtet (Autorenfeature: Kevin Phillips). Eine "journalistisch einwandfreie" Doppelbiografie des Boxers Muhammad Ali und des Sportreporters Howard Cosell (Leseprobe "Sound And Fury"). Sowie eine Biografie der russischen Dichterin Anna Achmatowa.

Zev Chafets besuchte für das Magazin die christliche Liberty Universität in Lynchburg, wo Studenten einem regelrechten Debattendrill unterzogen werden, bei dem es vor allem um eins geht - Tempo: "Ein Topdebattierer schafft 400 Worte pro Minute, so wie ein schneller Auktionator ... Argumente, auch irrelevante müssen widerlegt werden. Die unbeantworteten zählen gegen dich. Je schneller du redest, desto mehr Argumente kannst du vorbringen." Im Training hört sich das dann so an: "Er zieht die Genozid-Karte - wir kontern mit Heidegger, dann, peng, Erich Fromm."

Außerdem porträtiert Pat Jordan den britisch-pakistanischen Boxer Amir Khan, der mit 17 Jahren bereits als neuer Muhammad Ali gehandelt wird. Und im Interview erklärt der Gründer des linksliberalen Politik-Blogs "Daily Kos", Kos Celebre, warum Blogger selten große Buchautoren sind: "Der Blogger kann sein Argument mit einem Link untermauern. Das geht in keinem Buch."
Archiv: New York Times