Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
04.04.2006. Im Merkur sagt Tony Corn den Vierten Weltkrieg voraus. Outlook India macht eine Krise des Säkularismus im Land aus. In Folio hebt Paul Parin die segensreich Wirkung von Speed, Morphium, Alkohol und Zigaretten für alte Menschen hervor. Im Express streiten Malek Chebel und Jean-Paul Charney über die Reformierbarkeit des Islam. Im Guardian setzt Ian McEwan den Poeten der Wissenschaft ein Denkmal. In Polityka erklärt Adam Krzeminski Europa zum Kontinent der Neurastheniker. In Elet es Irodalom denkt Peter Nadas über doppelbödige Sätze nach. Der Economist bedauert Frankreich.

Merkur (Deutschland), 02.04.2006

Der Merkur übernimmt einen Text aus der Policy Review, in dem Tony Corn klar stellt, vor welcher Herausforderung der Westen steht: Nicht weniger als dem Vierten Weltkrieg. "Es handelt sich dabei in erster Linie um eine Aufstandsbewegung innerhalb des Islam, die 1979 ernsthaft begonnen hatte und für die der Westen, zumindest bis 2001, nur ein Nebenkriegsschauplatz war. Seit 1979 wirkten die Revolution im Iran, die Invasion Afghanistans, die Reislamisierung von oben in Pakistan, die rapide Zunahme des saudischen Aktivismus im Nahen Osten und Nordafrika und die gleichzeitige Marginalisierung Ägyptens innerhalb der arabischen Welt zusammen mit an der Entstehung eines Paradigmenwechsels, wodurch der Panarabismus durch den Panislamismus abgelöst wurde. Aber eben weil dieser Aufstand innerhalb des Islam ein Aufstand ist, ist das Terrorismusparadigma weitgehend irrelevant, außer auf der taktischen Ebene. Der Westen führt heute ebensowenig Krieg gegen den Terrorismus wie im Zweiten Weltkrieg gegen den Blitzkrieg oder gegen die Revolution während des Kalten Krieges. Der Westen führt Krieg gegen einen neuen Totalitarismus." (Hier das Original)

In seiner Ökologiekolumne räumt der Zoologe und Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf mit falschen Vorstellungen von der Natur auf: "Das Haus der Natur, das Oikos der Ökologie, gibt es gar nicht. Nichts davon existiert in der Wirklichkeit, weder ein Fundament noch das zugehörige Dach, die Wände und die Zimmer. Es handelt sich beim Haus der Natur wie auch beim moderneren Ökosystem um nichts weiter als um schöne Bilder aus einer Zeit, in der die Gesellschaft wohlgeordnet zu sein hatte."

Nur im Print: Der Historiker Jürgen Kocka denkt darüber nach, wie sich Sozialgeschichte im heraufziehenden Zeitalter einer transnationalen Globalgeschichte erforschen lässt. Alexander Demandt widmet sich Goethes völligem Desinteresse an jeglicher Geschichtsschreibung. Zu lesen sind die Aufzeichnungen von Walter Kliers Großvater Josef Prochaska, der im Oktober 1914 in den Ersten Weltkrieg zog: "Unsere Armee hat guten Geist. Heute ein Prachttag. So etwas wie die Sauferei heute Nacht habe ich nicht leicht einmal mitgemacht. Bis Wien werden wir mit 2 St Verspätung ankommen. Mir geht es ausgezeichnet. Bis jetzt ist der Krieg ganz lustig."
Archiv: Merkur

Outlook India (Indien), 10.04.2006

Gibt es in Indien eine "Krise des Säkularismus"? Der Ökonomie- und Rechtswissenschaftler Jagdish N. Bhagwati (homepage) untersucht die komplizierte religiöse Gemengelage in einer ausdrücklich nicht-theokratischen Gesellschaft: "Ein kleiner reaktionärer Teil der Hindus, die immerhin 82 Prozent der indischen Bevölkerung stellen, glaubt, der weltliche Staat missachte seine Rechte, während er diejenigen der muslimischen Minderheit schütze." Die freie Ausübung der Religion zu gewährleisten, so Bhagwati, sei eine Sache. "Aber wir müssen auch beachten, was man positive Religionsfreiheit nennen könnte: dass keine Religion in der Öffentlichkeit bevorzugt wird und andere Glaubensrichtungen marginalisiert."

Außerdem: Shobitar Dhar berichtet über das boomende Geschäft mit der Online-Nachhilfe (indische Tutoren betreuen Schüler in den USA via Internet für 20 Dollar/Stunde). Ajai Shukla stellt ein Nachschlagewerk über Pakistans Terrornetze vor. Und Ruchir Joshi freut sich über den Krimi "The Page 3 Murders" von Kalpana Swaminathan, einer lang ersehnten indischen Agatha Christie, "besser als alles Vergleichbare aus Indien".
Archiv: Outlook India

Express (Frankreich), 03.04.2006

In einem Gespräch diskutieren der Psychoanalytiker und Anthropologe Malek Chebel ("L'Islam et la Raison", Perrin) und der Philosoph und Islamwissenschaftler Jean-Paul Charney die Frage, ob und inwiefern der Islam kompatibel mit der Moderne ist. Charney hat seine Zweifel. Der Haupthinderungsgrund ist für ihn "die Bedeutung, welche die Muslime ihren Dogmen beimessen. In Europa und andernorts, bedeutet der Koran für eine überwältigende Mehrheit von ihnen das Wort Gottes selbst, das von den Menschen zu ihrem Heil verbreitet wird. Im Gegensatz zur Bibel, die von Menschen geschrieben wurde, ist der Koran unantastbar, unaufhebbar und nichts kann sich ihm widersetzen." Chebel dagegen hält den Islam für reformierbar, er müsse nur "Ballast" abwerfen, der problematisch sei, wie die Prügelstrafe oder die Unterdrückung der Frau. "Das ist heute nicht mehr tolerierbar."
Archiv: Express
Stichwörter: Paul, Jean

Folio (Schweiz), 03.04.2006

Sind alte Menschen weise? Folio macht die Probe aufs Exempel und hat 14 alten Menschen Fragen gestellt. In einem langen, sehr schönen Interview über das Altern erklärt der Ethnopsychoanalytiker Paul Parin (Jahrgang 1916), warum er in seinem Aufsatz "Weise Pharmagreise" eine Drogenfreigabe für alte Menschen gefordert hat. "Oft ist man da zurückhaltend aus Furcht, ein Patient könnte zum Beispiel morphiumsüchtig werden. Das ist doch egal, wenn er dafür ein besseres Alter hat! Man sollte alles einsetzen, was die Beschwerden des Alters erleichtert... Einer meiner Lehrer, der Medizin-Nobelpreisträger Otto Loewi, nahm im Alter morgens Speed, abends Morphium, daneben die übliche Droge Alkohol - er wurde fast 90 und war ein sehr jugendlicher, leistungsfähiger Greis. Ich selber trinke Alkohol, nehme viele Medikamente, auch Schmerz- und Schlafmittel. Und ich rauche, seit ich 16 bin. Ich habe nie versucht, es aufzugeben."

Über die verfahrene Lage im Irak befragt, hofft der Journalist Klaus Harpprecht (Jahrgang 1927) auf die Selbstheilungskräfte Amerikas: "Bisher hat Amerika immer zu sich zurückgefunden. Das, was die Aufklärung gebracht hat, lässt sich auf ein Wort reduzieren: Zweifel. In diesem Sinne ist es möglich, mehrere Wahrheiten nebeneinander stehenzulassen. Amerika wird sich von Herrn Bush erholen, und auch die Welt wird sich von Herrn Bush erholen."

Weitere Artikel: Friederike Mayröcker (Jahrgang 1916) blickt auf ihre große Liebe zu Ernst Jandl zurück. Die Psychologin Phyllis Krystal (Jahrgang 1914) spricht über Ängste und wie man sie überwindet. Wenig altersmilde zeigt sich der Ökonom Milton Friedman (Jahrgang 1916), der unbeirrt an die Idee des selbstregulierenden Marktes glaubt und auch sonst keine Sentimentalitäten im Lebensrückblick zulässt: "Verlorene Kosten sind verlorene Kosten! Deswegen grüble ich nicht!"

Und die Duftnote: Für Luca Turin bestätigen Naturparfums einmal mehr, dass "Parfumerie eher als virtuelle Cuisine zu betrachten ist denn als Pornografie für die Nase".
Archiv: Folio

New Yorker (USA), 10.04.2006

David Owen berichtet über Muzak - die so genannte "Aufzugsmusik", also eigens zur Dauerberieselung von Geschäften und des öffentlichen Raums rearrangierte Versionen bekannter Songs und Musikstücke - und darüber, wie die Branche heute arbeitet. Am Anfang hätten sich viele Menschen darüber beschwert, öffentliche Hintergrundmusik stelle einen Eingriff in die Privatsphäre dar. "Das ärgert auch heute noch einige, obwohl viele von uns, wenn wir plötzlich alleine mit unseren Gedanken sind, sofort nach den bequemsten Mitteln greifen, um sie zu übertönen: etwa indem wir Kopfhörer aufsetzen oder eine CD in den Player schieben. Audio-Architektur ist eine spannende Aufgabe, weil die menschliche Reaktion auf Musikbegleitung stark und unfreiwillig ist. 'Unser größter Konkurrent', so ein Marketingmitarbeiter von Muzak, 'ist die Stille.'"

Weiteres: In einer Glosse schwelgt George Saunders in TV-Nostalgie und beschließt ein Anti-Prüderie-Programm, um auch weiterhin fernsehen zu können. Zu lesen ist die außerdem die Erzählung "In the Reign of Harad IV" von Steven Millhauser.

John Updike rezensiert ein Porträt der Zigeunergemeinde von Perpignan "Little Money Street: In Search of Gypsies and Their Music in the South of France" von Fernanda Eberstadt, und Malcolm Gladwell stellt eine Studie des Soziologen Charles Tilly über die Anatomie der alltäglichen Erklärungen und Begründungen vor ("Why?"). Nancy Franklin führt in die neuen TV-Serien "The New Adventures of Old Christine" und "Sons & Daughters" ein. Anthony Lane sah im Rahmen einer Kieslowski-Retrospektive noch einmal "Die zwei Leben der Veronika" und den verworrenen Thriller "Lucky Number Slevin" von Paul McGuigan mit dem Staraufgebot von Morgan Freeman, Ben Kingsley und Bruce Willis.

Nur in der Printausgabe: eine große Reportage darüber, was amerikanische Generäle im Irak über die Aufruhrbekämpfung gelernt haben und ob diese Lektionen nicht zu spät gekommen sind (hier ein Interview mit dem Autor George Packer zum Thema sowie einige Fotos von Samantha Appleton), Berichte über die Qualität von Austern und die kurze Regentschaft eines terroristischen Babysitters, außerdem Lyrik von John Ashbery und Meghan O?Rourke.
Archiv: New Yorker

Espresso (Italien), 06.04.2006

An diesem Wochenende wird in Italien eine neue Regierung gewählt. Marco Damilano berichtet im Titel vom Kampf der Kandidaten Berlusconi und Prodi um die Unentschiedenen, vor allem Frauen. "Der Führer der linken Mitte fühlt sich genötigt, als Italiens Vorzeige-Ehemann aufzutreten: seriös, vertrauenswürdig, eifrig. Für ihn bürgt Lady Flavia, die in den Kampf geworfen wurde, um die Zustimmung der Frauen für ihren Romano zu bekommen. Der Cavaliere hingegen ist ins Fettnäpfchen getreten. Vor 16 Millionen Fernsehzuschauern hat er die Frauen als 'Kategorie' definiert, als würde es sich um Fernfahrer im Streik handeln. Um das wieder auszubügeln, hat er eiligst versichert, dass in seiner neuen Regierung mindestens 30 Prozent der Posten für Frauen reserviert sind."

Weiteres: Auf den Kulturseiten befragt Edmondo Berselli den Musiker und Entertainer Rosario Fiorello über die Arbeit, die Liebe und die Kinder. Monica Maggi empfiehlt das auf Melodramen spezialisierte Filmfestival "Schermi d'amore" in Verona. Offensichtlich in Anspielung auf die französische Arbeitsmarktreform plädiert Moises Naim im Meinungsteil für einen offenen Arbeitsmarkt mit lockerem Kündigungsschutz nach Vorbild der USA.
Archiv: Espresso
Stichwörter: Melodram, Verona

Polityka (Polen), 01.04.2006

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Jaroslaw Klejnocki sorgt sich um die Poesie in Polen. "Die Leser haben kein Interesse mehr an junger Poesie, die Dichter interessieren sich nicht für die Leser. Alle reden nur von Prosa". Besonders in einem Land, das wie Polen immer für seine Dichter berühmt war, sei die Stille um diese Literaturgattung auffallend. "Die junge polnische Poesie braucht Autoren, die für Popularität sorgen. Nach Aussterben der großen Meister (Szymborska, Rozewicz etc.) droht unseren Lyrikern andererseits die Vereinsamung abseits vom Leser".

"127 Millionen Europäer leiden an der einen oder anderen psychischen Krankheit. Wir sind ein Kontinent der Neurastheniker", so beginnt Publizist Adam Krzeminski seinen Beitrag über die Berliner Ausstellung "Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst". "Die dunkle Seite der Seele zieht immer noch Publikum an. Auch wenn die Melancholie in unseren Zeiten nicht mehr Gemütszustand, sondern medizinisch und technisch erfassbare 'Depression' ist, hat man sie noch nicht entzaubern können. Eine bravuröse Ausstellung!"
Archiv: Polityka
Stichwörter: Krzeminski, Adam

Guardian (UK), 01.04.2006

Literatur wird nicht besser, sie wird nur anders. Wissenschaft dagegen verbessert ihr Verständnis von den Dingen ständig. Sie zieht es daher vor, viel von ihrer Vergangenheit zu vergessen, schreibt der Autor Ian McEwan in einem Essay, in dem er den Poeten der Wissenschaft ein Denkmal setzt: "Die Schriften von Thomas Browne oder Francis Bacon enthalten viele schöne Passagen, von denen wir wissen, dass sie faktisch falsch sind - doch würden wir sie niemals ausschließen wollen. Die Tradition muss Platz für Aristoteles und Galen lassen, einfach weil sie über Jahrhunderte das Denken der Menschen prägten. Wir müssen uns vor einer Wissenschaftsgeschichte hüten, die diese Geschichte als einen einzigen in die Gegenwart führenden Weg versteht. Wir müssen die vielfältigen verlassenen Spielwiesen der Wissenschaft in Erinnerung behalten - die Temperamente, die vier Elemente, Phlogiston, Äther und zuletzt Protoplasma. Die moderne Chemie wurde aus den vergeblichen Mühen der Alchemie geboren. Wissenschaftler, die sich in Sackgassen stürzen, erfüllen einen wichtigen Dienst - sie bewahren jeden vor einer ganzen Menge Ärger."

Maya Jaggi stellt den Musiker Nitin Sawhney vor, der in seinen Stücken Bach mit Bollywood verbindet, elektronische Musik mit Sitar-Klängen und Enoch Powell mit Nelson Mandela. Nur mit dem Label Weltmusik sollte man ihn besser nicht belegen: "Das ist ein verrückter Ausdruck. Es ist ein Weg, Musik aus anderen Kulturen zu marginalisieren und generalisieren, Musik, der die Leute keine gleichberechtigte Plattform geben wollen. Es ist eine Ausrede für Apartheid im Plattenladen."

Weiteres: Als Buch der Woche wird Seamus Heaneys neuer Gedichtband "District and Circle" empfohlen. Besprochen werden unter anderem auch Moazzam Beggs Bericht über seine Zeit als Gefangener in Guantanamo "Enemy Combatant", die Erlebnisse Norah Vincents, die eineinhalb Jahre als Mann lebte, und eine Monografie des vergessenen Romantik-Genies Joseph Gandy.
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 31.03.2006

Wie haben Intellektuelle, Künstler und Journalisten die Welt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs gesehen? In einem langen Essay, der vor allem Leni Riefenstahl und Victor Klemperer umfasst, kommt Peter Nadas auch auf die Berichte des amerikanischen Journalisten William L. Shirer aus dieser Zeit zu sprechen. Nadas beschreibt, wie der Journalist Wege fand, durch doppelbödige Sätze an der NS-Zensur vorbei die Wahrheit zu sagen. Aber er fragt sich, ob verantwortungsvolle Berichterstattung über eine Diktatur überhaupt möglich ist: "Ein jeder doppelbödige Satz ist ein Triumph, es ist eine Freude für den menschlichen Geist, den Polizeistaat ganz alleine ausgetrickst zu haben? Es bleibt jedoch immer fraglich, wie weit man als Auslandskorrespondent in den Winkelzügen gehen darf, bis wann es noch sinnvoll ist, sich im Erfindergeist zu üben, und wo verantwortungsloses Handeln beginnt. Wenn beispielsweise jemand in Boston in seiner Küche sitzt und über die brutzelnden Speckstücke seines Rühreis gerade den schön süßen Ahornsirup gießt, versteht der dann aus solchen doppelbödigen Sätzen, wie deformiert das Denken und Verhalten jener Menschen ist, die ihre Muttersprache seit Jahren nicht zum Ausdruck, sondern gerade zum Verbergen von Gedanken benutzen? Wie sie im Schatten der Wörter herumschleichen, einander etwas durch die Lücken in den Definitionen zuzischeln?"

Die ungarische Initiative "Digitale Akademie der Literatur" hat ein Porträt des Schriftstellers Peter Esterhazy in Auftrag gegeben. Esterhazy analysiert die Absurdität dieses Unterfangens: "Heute kann man von niemandem ein Porträt malen, weil man von allen ein Porträt malen kann. Der Auftraggeber eines Porträts war eigentlich die Gesellschaft selbst, und das ist heute nicht mehr der Fall. Heute gilt die allgemeine Formlosigkeit. Die Porträtmalerei bedingt kulturelle, gesellschaftliche, politische Konsense, die heute nicht mehr existieren. ... Aber wir tun so, als es diese Konsense noch gäbe. Wir tun so, als ob es eine Akademie und Akademiemitglieder - wie mich! - gäbe, als ob es einen Gang in einem Gebäude geben sollte, wo Porträts der Akademiemitglieder hängen. Nun soll auch ich dort oben befestigt werden? Und, fragte der Maler post festa, wie wäre es gewesen, wenn ich ein Dreieck gemalt hätte und behauptet hätte, das seist Du?"

Economist (UK), 30.03.2006

Fast mit ein wenig Mitleid schaut der Economist im Titel auf Frankreich, wo der Mythos vom lebenslangen Job immer noch Hunderttausende auf die Straße bringt. "Schuld daran sind die Politiker, die es 20 Jahre lang versäumt haben, gerade heraus zu sagen, dass Frankreich sich anpassen muss und Veränderung nicht nur Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Dieser Fehler hat eine politische Kultur der heimlichen Reform gezeitigt, in der auf der einen Seite mit Verweis auf äußere Kräfte reformiert wird - üblicherweise die Globalisierung, die Europäische Union und Amerika - andererseits aber mit beruhigenden Worten der Erhalt des französischen Sonderwegs beschworen wird. Nach einer Weile reißt die Glaubwürdigkeitskluft so ein System auseinander."

Die Biologen und Programmierer einer kalifornischen Firma wollen mit einer Simulation der Evolution lebende Drachen züchten, meldet der Economist. "Jeder Computer startet mit einem Zielbild (Drache, Einhorn, Greif, usw.) und dem Genom des ähnlichsten wirklichen Tiers (eine Eidechse für den Drachen, ein Pferd für das Einhorn, und als größte Herausforderung die halben Genome von Löwe und Adler für den Greif). Die virtuellen Genome dieser echten Tiere werden dann mit Zufallsmutationen verändert. Wenn sie erwachsen sind, werden die virtuellen Exemplare ausgesucht, die den Zielbildern am ähnlichsten sind, und weitergekreuzt, während die anderen ausgemustert werden." Nun soll die mythologische DNA in echte Eizellen eingepflanzt werden. Zu denken gibt einem nur, dass dies das Heft zum 1. April ist.

Weiter lesen wir einen Bericht über die Bedrohung von Microsofts Windows- und Office-Geschäft durch Online-Software, die als Abo bestellt werden kann, einen Artikel über die Korruption und ihre fragwürdige Bekämpfung in Venezuela, eine Meldung zu Rupert Murdochs nun wieder florierender Kennenlernsite MySpace.com sowie die Besprechung einer Ausstellung afrikanischer Kulturschätze in Nairobi, die durch Leihgaben des British Museums möglich wurde und sogar den Besuch der gefährlichen Innenstadt Nairobis lohnenswert macht.
Archiv: Economist

Gazeta Wyborcza (Polen), 01.04.2006

Der Literaturhistoriker Jerzy Jarzebski schreibt im Nachruf auf Stanislaw Lem: "Lem beginnt sein Schaffen am 'Tag danach' - nach einem Krieg, in dem die Totalitarismen alle Regeln der Ethik brachen und dabei von Intellektuellen unterstützt wurden. Deshalb war für den jungen Autor das Denken einerseits etwas Faszinierendes, andererseits barg es das Risiko, eine Grenze zu überschreiten. Es gibt also zwei Lems: der eine, der atemberaubende Visionen von technischem Fortschritt entwirft, und der andere, der dem eigenen Wissenschaftsglauben aus humanistischer Sicht widerspricht."
Archiv: Gazeta Wyborcza

London Review of Books (UK), 06.04.2006

In seinem "wunderbar packenden, lebhaften und oft bahnbrechenden" Buch "The Conquest of Nature" beschäftigt sich David Blackbourn mit den Deutschen und ihrem Verhältnis zur Natur von Friedrich II. bis zum Oderbruch der Gegenwart. Der begeisterte Rezensent Neal Ascherson sieht hier nicht nur teutonische, sondern universelle Themen behandelt. "Das Buch ist ein bedeutsamer Beitrag zu einer neuen Art der Geschichtsschreibung. Die Umwelthistorie kann nicht mehr länger nur die Geschichte der Umwelt sein. Stattdessen, so Blackbourn, sollten wir begreifen, dass sich die wandelnde Natur von Gesellschaften am deutlichsten darin offenbart, wie sie sich zur 'natürlichen' Welt verhalten."

Wenn es nach dem Philosophen Slavoj Zizek geht, sind alle CEOs und Finanzmagnaten "liberale Kommunisten" und müssen damit als Hauptfeinde jeglichen "wahren" Forschritts erkannt und gebrandmarkt werden. "Alle anderen Feinde - religiöse Fundamentalisten, Terroristen, korrupte und ineffiziente Bürokratien - hängen von kontingenten lokalen Bedingungen ab. Eben weil sie all diese sekundären Störungen des globalen Systems auflösen wollen, sind liberale Kommunisten die direkte Verkörperung dessen, was nicht stimmt mit diesem System."

Weiteres: In seinem Tagebuch hält Patrick Cockburn eine Teilung des Irak in einen kurdischen, schiitischen und sunnitischen Teil für wohl unvermeidlich. Frank Kermode kann sich nicht entscheiden, ob er Christine Brooke-Roses "Life, End of" nun einen Roman, eine Auotbiografie oder eine Übung in ars moriendi nennen soll, empfehlen aber kann er das Buch auf jeden Fall.

Weltwoche (Schweiz), 30.03.2006

Sehr unterhaltsam berichtet David Signer von seinem Aufenthalt im indischen Pune, das sich vom zwielichten Ashram des umstrittenen Gurus Bhagwan zum florierenden Osho International Meditation Resort mit 200.000 Gästen im Jahr gewandelt hat. "Es mangelt nicht an originellen Angeboten: 'Lach-Meditation', 'Alchemie des 3. Chakra', 'Im Dunkeln sitzen', 'The Power of Love', 'Wer bin ich ohne meine Geschichte?', 'Zennis' (Zen-Tennis), 'Lachende-Trommeln-Meditation', 'Indischer Tempeltanz', 'Neutral Mask', 'Hip-Hop-Class', 'Fusion Fitness', 'Gurdjieff Bewegungen', 'Opening to Intimacy', 'Die Before You Die', 'Neo-Reichianische Körperarbeit', 'Chi Gong', 'Bauchtanz', 'Reiki', 'Yoga', 'Familienaufstellung', 'Intuitives Tarot'. Es gibt auch diverse Tantra-Gruppen. Aber es ist nicht, was sich viele vorstellen. Gleich am Anfang wird als Hauptregel mitgeteilt: keine sexuelle Aktivität während der nächsten fünf Tage. Es geht um Sublimation und Atemtechniken. Viele kommen dann nicht mehr am zweiten Tag."

Außerdem wird ein Beitrag aus Spektrum der Wissenschaft übernommen, in dem der Physiker und Astrobiologe Paul Davies lückenlos beweist, dass das Verstreichen der Zeit nur eine allzu menschliche Täuschung ist. Und Nina Streeck porträtiert den Schweizer Discounter-Fürsten Philippe Gaydoul, der Aldi erfolgreich die Stirn geboten hat.
Archiv: Weltwoche

New York Times (USA), 02.04.2006

Die Welt ist ein Quanten-Computer, einer, der nicht bloß "ja" und "nein" sagen kann, sondern auch "vielleicht". Corey S. Powell stellt uns in der Book Review ein Buch vor (Leseprobe "Programming The World"), das uns die Komplexität des Universums mit diesem Theorem erklären möchte. "Das Quanten-Computer-Universum gebiert unaufhörlich neue Informationen ... Gib Big Bang ein und heraus kommt schließlich DNA, Sex und Bewusstsein." Eine dermaßen irre Idee von Entropie, meint Powell, fordere sehr viel Illustrationsgeschick. Der Autor Seth Lloyd sei zwar mit Witz bei der Sache, "aber nicht immer überzeugend".

David Orr ist beglückt angesichts eines Bandes mit unveröffentlichten Gedichten, Entwürfen und Fragmenten von Elizabeth Bishop (Autorenfeature). Außerdem bespricht Darrin M. McMahon "Rousseau's Dog" von David Edmonds und John Eidinow - über die turbulente Bekanntschaft von Jean-Jacques Rousseau und David Hume. Und Mark Lilla findet, dass aus einem Buch wie Michael Burleighs "Earthly Powers" (Leseprobe), das den europäischen Säkularisierungsprozess seit der Französischen Revolution nachzeichnet, auch fürs Heute was zu lernen ist.

Fürs Magazin der New York Times berichtet Elizabeth Rubin, wie das Internationale Kriegsverbrechergericht in Den Haag versucht, den Genozid im sudanesischen Darfur strafrechtlich zu verfolgen und wie es dabei von den USA sabotiert wird: "Die Bush-Regierung nennt die Verbrechen in Darfur nicht mehr Genozid. Man will den ausgehandelten Frieden zwischen Nord- und Südsudan nicht gefährden. Und einige von Den Haag verdächtigte sudanesische Anführer dürften für die USA eine wichtige Rolle spielen bei der Jagd nach islamistischen Terroristen."

Paul Scott trifft die Wiggles, eine australische Multi-Million-Dollar-Combo aus ehemaligen Musiklehrern, die Heerscharen von Kleinkindern begeistert. Aber sind die auch echt? Schon, aber ... "Inzwischen gibt es ein weltweites Wiggles-Franchising mit Mandarin- und Spanischsprechenden Wiggles-Klonen. Die Klone werden ausgewählt nach ihrer Vorschul-Qualifikation und ihrer Fähigkeit, die Musik zu verkörpern, nicht nach dem Aussehen der original Wiggles."
Archiv: New York Times