Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
25.04.2006. Im Spectator besucht Boris Johnson China und scheitert an charmanten Chinesen und einem Tintenfisch. Das kanadische Walrus-Magazin steht vor verkohlten Sojamilchtüten in einem ausgebombten Gemüseladen. Outlook India feiert die Hauptstadt der Klassifizierung. Der New Yorker zerlegt eine Sau. Für New Republic ist die Mittelschicht unfähig zum Dienen. Przekroj stellt eine neue polnische Tageszeitung vor, die absolut objektiv sein will. In der Gazeta Wyborcza bedauert die Historikerin Anna Wolff-Poweska Polens Image als Ansammlung aufgeblasener Frustrierter. Die Weltwoche beschreibt die Stimmung im Iran. Eine Zugfahrt offenbart Il Foglio die Gemeinsamkeit zwischen Prodianern und Berlusconianern.

Spectator (UK), 22.04.2006

Ernüchtert kehrt Boris Johnson von einem Besuch in China wieder: "Es war gegen Ende meiner Reise, als mir die große, schöne Kommunistin die Killer-Frage stellte: 'Nun Mister Johnson, haben Sie Ihre Meinung über die Dinge geändert?' Und ich musste antworten: Oh ja. Verdammt richtig, das habe ich. Vollständig geändert hatten sich meine Ansichten über die Chancen für eine Demokratie in China... An einem Abend aß ich mit einer Gruppe charmanter junger Chinesen, die alle in England studiert hatten und von denen man erwartet hätte, dass sie einen kräftigen Schluck von unserem liberalen Zaubertrank genommen haben. Ich begann zu erklären, dass ich zu diesen exotischen britischen Phänomen der Schattenminister gehöre. Natürlich, sagte ich etwas gönnerhaft, ihr habt keine Opposition, nicht? 'Nein', lächelten sie. 'Nun', fragte ich, 'wäre das nicht eine gute Sache?' Ich deutete mit meinen Armen auf das Panorama von Schanghai, wo beleuchtete Vergnügungsboote über den Fluss tuckerten und sich die Fangzähne von ungefähr dreihundert Wolkenkratzern in die Nacht bohrten. 'Was, wenn ihr genug habt von den Leuten, die diese Show hier aufführen? Würdet Ihr die nicht gern rausschmeißen? Die Bastarde davonjagen?' Ich stach mit mit meinen Stäbchen in den flutschen Tintenfisch. 'Eigentlich nicht', sagte Oswald, ein netter Kerl mit Brille, der in Oxford studiert hatte. Er glaube nicht, dass das britische System in China funktionieren würde. Der Tintenfisch schoss von meinen linkischen Stäbchen auf die Tischdecke - ganz Metapher für westliches Nichtbegreifen."
Archiv: Spectator

Walrus Magazine (Kanada), 01.05.2006

Montreal war schon immer etwas ruppiger und aufregender als das übrige Kanada, meint Daniel Sanger, und führt das auf Auseinandersetzungen wie die Biker-Kriege oder den Bombenkrieg der Lastwagenfahrer in den frühen Neunzigern zurück. Im vergangenen November meldete sich das alte Montreal zurück, mit einem Molotowcocktail im Gemüseladen. Sanger untersucht den Fall. "Es war ein trauriger Anblick an einem frischen Dienstagmorgen: verkohlte Sojamilchtüten, geschwärzte Früchte und Gemüse, Schaufensterscherben, umgestürzte Gewürzregale und verstreute Dosen. Und Bala, der süße, schüchterne, immer lächelnde sri-lankische Inhaber - der den Laden erst einige Monate zuvor gekauft hatte und der meine Kinder vom ersten Besuch an nicht ohne Keks oder einige Smarties aus dem Geschäft ließ - sah so blass aus wie ein Tamile nur sein kann." Sanger untersucht, ob es möglicherweise der Nachbar-Gemüsehändler war.
Archiv: Walrus Magazine
Stichwörter: Kanada

Outlook India (Indien), 01.05.2006

Delhi ist toll! Delhi ist Indiens Wirtschafts-, Kultur- und Konsumhauptstadt. Doch wehe dem, der nicht Geld, eine dicke Haut oder gesellschaftliche Verbindungen hat. In der Titelstory stellt Anjali Puri klar, was dieser Moloch von Stadt auch ist: "Ein Meister der Klassifizierung seiner Einwohner nach Einkommen, Status, Stand - hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit. Die Objekte der Begierde wechseln täglich. Namensschilder und Visitenkarten mit dem Aufdruck 'ehemalig' überall, Statusverlust der ultimative Albtraum... Überheblichkeit und Arroganz in allen Gesellschaftsschichten. Eine Welt, wo jeder eifrig versucht, nicht erreichbar zu sein, und die Wagenkolonnen hoher Tiere sogar Ambulanzen von der Straße drängen."

Außerdem: Rahul Bose hat sich von Sanjay Suris Buch "Brideless in Wembley" den Mythos britisch-asiatischen Multikultis ein bisschen entzaubern lassen. Und Pratap Bhanu Mehta findet, dass der Band "Holy Warriors" von Edna Fernandes seinem Thema, dem indischen Fundamentalismus, mangels historischer Tiefe und psychologischem Raffinement nicht gerecht wird.
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Geld, Delhi, Multikulti

New Yorker (USA), 01.05.2006

In einem wunderbaren Text erzählt Bill Buford, wie er in der Toskana auf der Suche nach dem Geheimnis der einfachen italienischen Küche von einem Metzger das Handwerk der Zerteilung einer ganzen Sau lernte und nach Rückkunft in die USA eine solche zu eben diesem Zweck kaufte. "Wir hatten viele Mahlzeiten davon - rund 450, das macht weniger als 50 Cents pro Teller -, denn wir haben vom Rüssel (der in die Saucen wanderte) bis zum Schwanz (den ich ins Ragout gab) alles gegessen. Aber die Lektion bestand nicht in der Wirtschaftlichkeit des Tiers. Dieses Schwein, das wussten wir ganz genau, war für unseren Tisch geschlachtet worden, und wir entwickelten ein Zuneigung zu ihm, die uns überraschte."

In einem Interview spricht Buford - dessen Buch "Heat: An Amateur's Adventures as Kitchen Slave, Line Cook, Pasta-Maker, and Apprentice to a Dante-Quoting Butcher in Tuscany" im Mai erscheint - außerdem über Schweine, Köche und sein nächstes kulinarisches Abenteuer: Backen lernen.

Weiteres: Hendrik Hertzberg fragt sich in einem Kommentar, ob die Regierung Donald Rumsfeld wirklich braucht. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "An Afternoon" von William Trevor.

Besprochen werden der neue Roman von Philip Roth "Everyman", ein Album der Dixie Chicks und die TV-Serie "The Unit". David Denby sah im Kino Paul Greengrass' Film "United 93" über die couragierten Passagiere, die am 11. September versuchten, die Entführer ihres Flugzeuges zu überwältigen, und der rumänische Film "The Death of Mr. Lazarescu" von Cristi Puiu.

Nur im Print: In einem Brief aus Polynesien berichtet Ian Parker, dass die zu unterschiedlichen Staaten gehörenden Inseln mit der Unabhängigkeit flirten und eine eigene Nation gründen wollen.
Archiv: New Yorker

New Republic (USA), 01.05.2006

Kelly Alexander klagt über den Starkult, durch den die Spitzenköche langsam das Dienen verlernen. "Vor ein paar Jahren traf ich für eine Geschichte über einen Kochwettbewerb in Schweden eine Gruppe von - im technischen Sinne - außerordentlich talentierten Köchen. Sie konkurrierten miteinander wie es professionelle Athleten tun, trainierten monatelang, unterwarfen sich rigorosen Körperertüchtigungen und rasierten ihre Schädel als Zeichen des Teamgeists. Sie waren die einzigen Menschen, die ich je gesehen habe, die ohne viel Gefühl, aber mit einer enormen Dynamik kochten." Der Restaurantbesitzer Marcus Samuelsson erklärt Alexander den neuen Typus des Kochs. "Sie kommen alle aus der gehobenen Mittelschicht; sie lernten in einer Umgebung, in der die Reaktion auf die Kundenwünsche nicht maßgeblich ist. Deshalb gehen sie an die Arbeit ran wie Sportler und nicht wie Handwerker. Es geht um Leistung und nicht um Service."
Archiv: New Republic
Stichwörter: Mittelschicht

Przekroj (Polen), 21.04.2006

Eine "Revolution" nennt das polnische Magazin das Erscheinen einer neuen Tageszeitung auf dem polnischen Markt. Die Dziennik (Tageszeitung) des Axel-Springer-Konzerns soll für die etablierten Zeitungen - die liberale Gazeta Wyborcza und die konservative Rzeczpospolita - eine ernsthafte Konkurrenz werden. Vor allem die Gazeta gilt der regierenden Rechten als zu kritisch. Dziennik möchte da ganz anders ein, wie Chefredakteur Robert Krasowski im Interview erklärt: "Der Leser mag es nicht, wenn man ihm sagt, wie er denken soll, oder wenn eine Zeitung zu aufdringlich ihre Positionen vertritt. Deswegen werden wir eine Revolution sein: absolut objektiv! Ohne Emotionen!"

Anders sieht es Helena Luczywo, die Adam Michnik, den Chefredakteur der Gazeta Wyborcza vertritt. "Jede gute Zeitung kämpft für etwas, deshalb kämpft sie oft gegen etwas und jemanden. So ist das in der ganzen Welt, wir waren immer so. Die neue Zeitung ist ein weiteres Produkt von Axel Springer, das sich gut verkaufen soll. Ich kann mir schwer vorstellen, dass es ihnen um etwas anderes geht, aber ich hoffe, eines Besseren belehrt zu werden". Angesprochen werden auch die öffentlichen Stellungnahmen der Gazeta, in denen sie ihren polnischen Ursprung gegenüber dem deutschen Konzern betont hat, und die immer offener artikulierte feindliche Haltung der regierenden Konservativen gegenüber der Gazeta.
Archiv: Przekroj

Gazeta Wyborcza (Polen), 23.04.2006

Die Historikerin und Politologin Anna Wolff-Poweska analysiert die gegenwärtige polnische Außenpolitik und stellt fest: "Das 'Ja' zur Erweiterung bei gleichzeitigem 'Nein' zur Vertiefung, die offene Freude über das Ausscheren der Wähler in Frankreich und den Niederlanden, die kompromisslose Haltung 'Nizza oder der Tod', herablassende Bemerkungen über das Weimarer Dreieck als einen 'losen Staatenverbund' - das alles verstärkt das Image unseres Landes als eine Ansammlung von aufgeblasenen Frustrierten mit einem überempfindlichen Ego, auf die man bei der Suche nach konstruktiven Lösungen nicht zählen kann." An diesem Image seien die Kaczynski-Brüder nicht ganz unschuldig, betreiben sie doch im Innern eine Politik, die auf persönlichen Phobien basiert, die auch in die Außenpolitik Eingang finden, so Wolff-Poweska.

Kaum ein Theaterregisseur ist in Polen momentan so en vouge wie Jan Klata. Neuerdings inszenierte er im Warschauer Teatr Rozmaitosci ein Stück, in dem das gegenwärtige Polen aus der Sicht der "Verlierer", der Armen und Arbeitslosen beschrieben wird. Für Kritiker Roman Pawlowski ist Klata ein "Spielverderber" - "Das Stück 'Wez, przestan' (Komm, hör auf) ist schlecht geschrieben, ohne Erzählung und jedweden literarischen Wert. Es erinnert an eine Reportage, die mit einer versteckten Kamera in einer dreckigen Unterführung aufgenommen wurde." Aber: "Klata hat den Mut, die Hauptstadt mit den Augen derer zu zeigen, die stinken. Und er zwingt die elitären Besucher des Trendtheaters dazu, sich für eineinhalb Stunden mit denen zu beschäftigen, denen sie im Alltag nicht zwei Sekunden widmen möchten."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Foglio (Italien), 22.04.2006

Edoardo Camurri berichtet in der Samstagsbeilage von einer Zugfahrt am Wahltag, die ihm tiefe Einblicke in das Italien an der Basis gewährte. "Da entdeckte ich, dass eines der innigsten Bedürfnisse der Italiener die Güter des Komforts sind. Wir waren alle jenseits der Moral, Prodianer und Berlusconianer, und in diesem Fall, mehr noch als das Schicksal Italiens, zählte unser Überleben. Das spürten wir alle. Wir waren ein Bündel gleicher Erwartungen und Hoffnungen. Und wir hatten das in diesem Moment verstanden, als sich die italienische Bahn beim Halt in Florenz, um einen kleinen Teil der 14.400 Sekunden Verspätung wieder auszubügeln, entschied, uns ein wenig Trost zu spenden. Es kamen Pizzakartons und Tüten mit Burgern von McDonalds. Und die Freude brach aus. Man aß umsonst."

Weiteres: Ugo Bertone weist darauf hin, dass nicht nur das Öl, sondern auch die Schokolade knapp werden wird. Und Giorgio Israel warnt vor der Erschaffung eines künstlichen Verstands.
Archiv: Foglio
Stichwörter: Bertone, Florenz

Weltwoche (Schweiz), 20.04.2006

Urs Gehriger ist überrascht, dass die meisten Teheraner seit Amtsantritt Achmadinedschads angegurtet fahren. Für Abolqasem Khoshrow, früher Presseberater von Ex-Präsident Chatami, wird dies bereits zum Beleg dafür, dass "die Zeit des Martyriums vorbei ist" - niemand will einen sinnlosen Tod sterben. Ohnehin plädiert Gehriger dafür, genauer hinzuschauen: "Die kriegerische Sprache Achmadinedschads gegen den Westen ist selbst im eigenen Land vielen suspekt. Die meisten seiner Wähler sind weder Islamisten noch radikale Weltveränderer. Sie gehören mehrheitlich der unteren Mittelschicht an. Sie fühlen sich von Achmadinedschad angezogen, der sich wie sie kleidet und wie sie spricht. Den korrupten Wirtschaftseliten sagt er den Kampf an. Den Armen verspricht er das Blaue vom Himmel. Noch applaudieren sie ihm; das könnte sich ändern, wenn er nicht liefert, was er verspricht."

Beatrice Schlag und Walter De Gregorio suchen nach Gründen, warum immerhin eine knappe Hälfte der italienischen Wähler ein zweites Mal für Berlusconi stimmte. Einer davon, so die Autoren, ist in der tief im Alltag verwurzelten "l'arte di arrangiarsi, der Kunst, sich zu arrangieren" zu suchen: "Italiener sprechen das Wort 'Staat' mit derselben Miene aus, mit der wir 'Furunkel' sagen. Staat bedeutet Abzocker, Erschwerer, Verhinderer. Man muss schlauer sein als der Staat. Um zu verstehen, warum praktisch die Hälfte der Stimmbürger den Mann wiederwählte, der sie in eine wirtschaftliche Misere ritt, ist es hilfreich, die Gründe nicht in seiner Politik zu suchen. Silvio Berlusconis größter Trumpf in den Augen seiner Wähler ist der, der Gerissenste von allen zu sein."

Der Fußballkolumnist des Guardian, Simon Kuper, erklärt Jose Mourinho vom FC Chelsea zum schönsten Fußballtrainer der Welt: "Wenn der gegnerische Coach neben ihm am Spielfeldrand steht, für gewöhnlich ein Senior mit Hängebacken, sieht es meistens aus wie Oliver Hardy gegen Errol Flynn." Eine Katastrophe sei er mit seiner Paranoia dennoch.
Archiv: Weltwoche

Espresso (Italien), 27.04.2006

Silvio Berlusconi hatte große Hoffnung auf die Stimmen der als konservativ geltenden Auslandsitaliener gesetzt. Dass sie enttäuscht wurde, schreibt Umberto Eco in seiner Bustina di Minerva dem klareren Blick der Auswärtigen zu. "Die Auslandswähler lesen zum größten Teil eben nicht Il Giornale, Il Foglio oder Libero und verfolgen nicht die Sendungen von Vespa (mehr), die Magazine auf Rai oder Mediaset. Deshalb kamen sie nie in die Versuchung zu glauben, wie es das berlusconische Propaganda-Trommelfeuer suggerierte, dass Italien wirklich großes Ansehen in der Welt genießt und dass unser Ministerpräsident wirklich ernst genommen wird von den Großen der Erde, mit denen er jeden Abend in die Pizzeria ging, um ihnen Ratschläge zur Verwaltung der Welt zu geben."

In einem langen Gespräch umkreisen sich der Arzt und Abgeordnete Ignazio Marino und der Kardinal Carlo Maria Martini vorsichtig und diplomatisch, signalisieren aber Kompromissbereitschaft, wenn es um Fragen wie künstliche Befruchtung, Abtreibung und die Grenzen der Wissenschaft geht.

Im Kulturteil stellt Cesare Balbo fünf Filme vor, die sich mit dem Krieg im Irak beschäftigen. Und auf den internationalen Seiten erkundet Margherita Belgiojoso die Geschäftsmöglichkeiten, die die zu erneuernde Betonhülle um den Reaktor von Tschernobyl italienischen Firmen bietet.
Archiv: Espresso

Babelia (Spanien), 22.04.2006

Die altgediente spanische Verlegerin und Autorin Esther Tusquets schreibt über das in ihren Augen wenig erfreuliche Phänomen literarischer Moden: "Ständig höre und lese ich, die Leute kauften keine Bücher mehr, läsen nicht mehr, und die Schuld daran trage das Fernsehen beziehungsweise das Internet. Früher hieß es, das Kino sei schuld. Stimmt nicht, die wahren Feinde der guten Bücher sind weder das Kino, noch das Fernsehen, noch die neuen Medien: die Bestseller sind schuld, Bücher mit geringem oder gar keinem Anspruch, gefördert durch Literaturpreise und millionenschwere Werbekampagnen (oder auch, was ich schon besser und ermutigender finde, durch spontane Mund-zu-Mund-Propaganda) - Bücher, auf die das grauenvolle Adjektiv 'medientauglich' zutrifft: Sie sorgen für die absolute Herrschaft der Mode über die Kultur."

Fietta Jarque stellt ein Buch und ein nicht unumstrittenes internationales Kunstprojekt zur "Schandmauer" zwischen den USA und Mexico vor: "Tijuana. La tercera nacion". "Was ins Auge fällt, ist nicht so sehr die Verbitterung auf mexikanischer Seite als vielmehr die Angst auf Seiten der US-Amerikaner", zitiert sie den Leiter des Projektes Antonio Navalon.
Archiv: Babelia

Guardian (UK), 22.04.2006

Eine bewegende Geschichte erzählt John Osbornes (mehr hier) Biograf John Heilpern. Er hat Osbornes Tochter Nolan Parker besucht, die als Siebzehnjährige von ihrem Vater mit folgenden Worten aus dem Haus geworfen wurde: "Ich habe zwei Dinge entschieden: 1. dass Du Dir einen anderen Ort zum Leben suchen solltest. 2. dass es keinen Sinn ergibt, dass Du weiter in Oxford studierst." Danach sprach er nie wieder ein Wort mit ihr.

Julian Evans spricht mit Nobelpreisträger Imre Kertesz über das Leben und Schreiben nach Auschwitz: "'Was Schriftsteller in dieser symbolischen Eiszeit tun können, ist, individuelle Identitäten zu bewahren und darzustellen, individuelle Existenzen, die sich aus dem Fluss und der Gegenwart herauspicken lassen, etwas, um die Menschen zu bewegen oder zu schockieren.' Leben wir jetzt in einem solchen Komfort, dass wir Gefahr laufen, diese Existenzen zu vergessen? 'Genau.'"

Der Schriftsteller Hanif Kureishi versucht, das politische Theater wachzuküssen: "In dieser Zeit der Täuschung und der Gewalt ist eine öffentliche Debatte über aktuelle Probleme notwendig. Politisches Theater kann schnell sein, und sich - anders als die meisten Filme - unmittelbar an veränderte Umstände anpassen."

Weiteres: Der Kurator des Victoria and Albert Museum, William Feaver, rechtfertigt seine Entscheidung, Bilder von Lucian Freud und Frank Auerbach in einen Raum mit Constable und Turner zu hängen. Besprochen werden unter anderem Tamar Yellins "düstere und sehr subtile" Erzählungen "Kafka in Bronteland", Studien zum Vichy-Frankreich und Jason Elliots Berichte aus dem Iran "Mirrors of the Unseen".
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 21.04.2006

Um illegale Einwanderer zurückzuhalten, werden die Grenzzäune zu den von Marokko umschlossenen Exklaven Melilla und Ceuta erhöht. Sie sind dann höher, als die Berliner Mauer, bemerkt Gabor Fränkl und vergleicht sie mit den Grenzzäunen um Israels besetzte Gebiete: "Es ist irrational, Israel wegen der 'illegalen' Grenzzäunen (an manchen Stellen: Mauern) zu kritisieren. Diese Zäune retteten Menschenleben, weil sie verhinderten, dass die Terroranschläge zivile Opfer haben. Aber gerade die Europäische Union und Spanien als EU-Mitgliedsstaat äußerten Kritik wegen vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen, obwohl auch sie Grenzzäune im Interesse des Gemeinwohls errichten. Nun, in Ceuta und Melilla geht es nicht um den Schutz vor Selbstmordattentäter. Bis es endlich einen europäischen Konsens gibt, sind das nichts als eilige Maßnahmen, um Einwanderer zurückzuhalten, die auf ein besseres Leben hoffen."

Prospect (UK), 01.05.2006

"Wann fand die erste russische Wahl statt? - Als Gott mit Eva vor Adam trat und sagte: 'Los, such' dir deine Frau aus.'" Ben Lewis weiht uns ein in die bunte Welt des Kommunistenwitzes und versucht zu ergründen, warum es so viele davon im Ostblock gab. "Der Kommunismus war eine Humor produzierende Maschine. Denn seine wirtschaftlichen Theorien und sein System der Unterdrückung schufen Situation, die schon an sich komisch waren. Zwar wurden auch unter Faschismus und Nationalsozialismus Witze erzählt, doch diese Systeme brachten keine so absurde und urkomische Wirklichkeit hervor wie der Kommunismus."

Weitere Artikel: "Teilen und heilen" - Sowohl der Westen als auch die irakischen Nationalisten werden einsehen müssen, findet Gareth Stansfield, dass nur radikaler Föderalismus einen Bürgerkrieg im Irak verhindern kann. Englisch ist nur eine von elf gleichberechtigten Landessprachen in Südafrika, weiß RW Johnson, und doch, ist er überzeugt, wird es alle anderen verdrängen. Alex Renton versucht sich an der Ehrenrettung des Glutamats. Fred Pearce erklärt, warum die Meerwasserentsalzung keine ideale Antwort auf die welweit sinkenden Trinkwasserbestände darstellt. Mit einem Porträt gratuliert Richard Reeves John Stuart Mill zum 200. Geburtstag und ernennt ihn prompt zum größten öffentlichen Intellektuellen in der Geschichte Großbritanniens.

Steve Crawshaw erklärt, in Reaktion auf Michael Ignatieffs Beitrag in der April-Ausgabe, warum Folter nicht funktioniert. Nicht die Emanzipation der Frau, entgegnet Rosemary Crompton, sondern der Neoliberalismus ist schuld am Rückgang der Geburtenraten und dem von Alison Wolf in der April-Ausgabe diagnostizierten Niedergang des Altruismus
Archiv: Prospect

Point (Frankreich), 20.04.2006

In einem Interview spricht der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel über seinen neuen Roman "Un desir fou de danser" (Seuil), sein Interesse am Wahnsinn und seinen Lebensweg als Holocaust-Überlebender. Auf die Frage, wo er in der gegenwärtigen Debatte über den Multikulturalismus stehe, antwortet er: "Ich finde, dass der Multikulturalismus eine Wohltat ist. Jede menschliche Gruppe hat das Recht zu sein, was sie ist, ihr Recht auf Kultur, Erinnerung und Respekt geltend zu machen. Ich bin Jude, aber ich meine, dass keine Religion, keine Tradition, kein Volk den anderen überlegen ist. Es ist mein Ziel, mich dafür einzusetzen, als Jude dazu beizutragen, die Anderen mehr zu respektieren - natürlich unter der Bedingung, dass sie mich respektieren."

In seinen Bloc-notes schwärmt Bernard-Henri Levy von Zeitgenossenschaft im Allgemeinen und seinem Zeitgenossen Andre Glucksmann im Besonderen. Levy definiert "wahre Zeitgenossenschaft" als das "Teilen von Gesten und Reflexen, die dazu führen, dass man im gleichen Moment in gleicher Weise auf die gleichen Situationen und Ereignisse reagiert". Er würdigt die politischen Einsprüche und Stationen von Glucksmanns intellektuellem Leben und empfiehlt dessen "Anti-Memoiren" "Une rage d?enfant" (Plon) der dringenden Lektüre. "Und ich wiederhole es noch einmal: dass es wenige Intellektuelle gegeben hat, mit denen ich mich so wunderbar und stets in Übereinstimmung befunden habe."
Archiv: Point

Foreign Affairs (USA), 01.05.2006

Zwei Jahre lang hat eine Untersuchungskommission des amerikanischen Militärs das Regime Saddam Husseins analysiert. Dutzende Schlüsselfiguren wurden befragt, Hunderttausende Dokumente durchforstet. Der Bericht, der im Februar freigegeben wurde, umfasst 230 Seiten (hier als 7,2 MB große pdf-Datei). Die Herausgeber Kevin Woods, James Lacey, und Williamson Murray fassen die Ergebnisse in der Mai/Juni-Ausgabe von Foreign Affairs in einem immer noch stattlichen Artikel zusammen.
Archiv: Foreign Affairs

Al Ahram Weekly (Ägypten), 20.04.2006

Ismail Serageldin, Direktor der Bibliotheca Alexandrina, ist der Meinung, der Westen hätte die Mohammed-Karikaturen gar nicht verbieten müssen, um den Zorn im Zaum zu halten, Missbilligung hätte genügt. So aber habe man den "Extremisten auf beiden Seiten" den Weg bereitet, negative Stereotype über den Islam zu verbreiten beziehungsweise die Redefreiheit infrage zu stellen. Gegen die "Brandstifter" empfiehlt Serageldin die Worte Mohammeds an seine ungläubigen Peiniger, dieselben, die Jesus am Kreuz gesprochen habe: "Möge Gott sie führen, denn sie wissen nicht, was sie tun."

Weitere Artikel: David Tresilian hält Dane Kennedys Biografie des britischen Orientalisten und Entdeckers Richard Burton ("The Highly Civilized Man") für eine elegante Neubeurteilung. Mohamed El-Assyouti berichtet vom 12. Nationalen Filmfest in Kairo. Und Magdi Youssef trifft den französischen Autor Eric-Emmanuel Schmitt ("Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran") und wundert sich, wie der Aufklärung und Sufismus unter einen Hut bringt.
Archiv: Al Ahram Weekly

New York Times (USA), 23.04.2006

David Kamp verschlingt in der Book Review Michael Pollans "The Omnivore's Dilemma" (Das Dilemma des Allesfressers), ein Buch, für das der Autor sich viermal todesmutig den Bauch vollschlägt: "Ein McDonald's-Takeaway, eine organische Mahlzeit mit Zutaten der Luxus-Kette Whole Foods, ein mehr als organisches Hühner-Schlachtfest von einer Farm in Virginia, wo man keine Pestizide, Antibiotika usw. verwendet, und ein Mahl aus selbst Erlegtem." Wird gegessen, verdaut und nach Maßgabe einer "nationalen Essstörung" analysiert.

Apropos: In einem Essay trauert Rachel Donadio den Zeiten nach, als Verleger noch Geld für Lachsschnitten ausgaben. Dekodiert läsen sich Einladungen zu Buch-Partys heute so: "4 Freunde des Autors laden ein, dieses tolle neue Buch zu feiern. Ort: Bei demjenigen mit dem geräumigsten Wohnzimmer."

Ferner: Jonathan Alter sieht in Anthony DePalmas Buch über den Times-Reporter Herbert L. Matthews und dessen "Engagement" für Fidel Castro ein Lehrstück für angehende Journalisten. Und Regisseur Peter Bogdanovich ist einverstanden mit dem hagiografischen Ansatz von Lee Servers Lebensgeschichte der Ava Gardner ("Love is Nothing"). (Wir auch, darum)

Wer auf google.cn "Falun Gong" eingibt, guckt dank eines fragwürdigen Arrangements, das Google mit der chinesischen Regierung hat, in die Röhre. In einem langen Artikel für das Magazin der Times erörtert Clive Thompson die Lauterkeit der Mittel, um in einen gigantischen Markt einzusteigen, und erklärt, wie die "Great Firewall of China" funktioniert: "Chinas Regierung zwingt private Telekommunikationsfirmen, dort im Netzwerk, wo Signale ins Ausland abgehen, Router-Schalter einzubauen. Diese Router - einige stammen von der US-Firma Cisco Systems - dienen als Chinas neue Zensoren ... Wählst du eine Website, die auf der Schwarzen Liste steht, kommst du nicht durch."

Weitere Artikel: Jaime Wolf schreibt über Dov Charney und sein 100-Millionen-Dollar-Fashion-Label "American Apparel". Und im Interview sagt Madeleine Albright, was sie vom Irak-Krieg hält: "'Demokratie erzwingen' ist ein Oxymoron."
Archiv: New York Times