30.05.2006. Im Merkur verteidigt Christoph Türcke die Blasphemie gegen ihre Kritiker. In Outlook India weigert sich der Schauspieler Aamir Khan, zwischen ermordeten Moslems und ermordeten Hindus zu unterscheiden. Die Weltwoche reist nach Entropia. In Elet es Irodalom erklärt Laszlo Darvasi, was einen brillanten ungarischen Fußballer ausmacht. Im Nouvel Obs streiten Stephane Zagdanski und Theo Klein über Antisemitismus. Marie Antoinette war Opfer einer Medienkampagne, verkündet Il Foglio. Der New Statesman glaubt nicht an die Zukunft des afrikanischen Fußballs. Die New York Times hat was am Kochen.
Merkur, 01.06.2006
Der
Philosoph Christoph Türcke verteidigt die
Blasphemie gegen ihre erregten Kritiker, auch wenn er die
Mohammed-Karikaturen selbst als Siegerspott des Westens "eher
imperial als subversiv" findet: "Gewiss ist Blasphemie nicht einfach dasselbe wie Aufklärung. Aber Aufklärung sieht Blasphemie manchmal zum Verwechseln ähnlich. Spott dringt, wenn er ins Schwarze trifft, tiefer als jede andere Form von Kritik. Was langen Beweisgängen oft versagt bleibt, schafft bisweilen ein einziger Witz, eine Satire, eine Karikatur: das
Eitle, Aufgeblasene, Anmaßende geltender Autoritäten bloß zu stellen. Spott ist zynisch, wo er Trauriges lächerlich macht. Er ist aufklärerisch, wo immer er das, was lächerlich ist, blitzartig zum Vorschein bringt: es notfalls bis zur Kenntlichkeit entstellt. Kritik ohne Spott ist zahnlos, fasst nicht wirklich, ist nicht ganz ernst gemeint. Daher konnte aufklärerische Religionskritik gar nicht anders, wenn es ihr denn ernst war, als ab und zu religiöse Autoritäten und die von ihnen gehegten Gefühle zu beleidigen. Sporadischer Spott gehörte
zum Schwung des Angriffs."
In seiner Ästhetikkolumne
fragt sich der
Kunsthistoriker Christian Demand, woher eigentlich die Skepsis rührt, mit der Kritiker den derzeitigen Kunstboom begleiten: "Bemerkenswert ist, dass sich das Ressentiment gegen diejenigen, die da offenbar unbilligerweise Kunst in ihren Besitz bringen, ohne sich dieses Privileg zuvor durch entbehrungsvolle Arbeit in den
Weinbergen der Kultur auch moralisch verdient zu haben, in der Regel aus der Vorstellung speist, zwischen der künstlerischen Bedeutung und dem finanziellen Wert der Ware Kunst müsse eine notwendige und eindeutige Beziehung walten. Aller demonstrativ zur Schau getragenen Abgeklärtheit zum Trotz glauben Kunstweltbewohner nämlich rührenderweise noch immer mehrheitlich an das
Prinzip des gerechten Preises."
Weiteres: Karl Otto Hondrich plädiert in der Debatte um Integration für eine Stärkung der eigenen
kollektiven Identität. Paul Nolte versucht zu erklären, wie im 20. Jahrhundert zugleich
Öffentlichkeit und Privatheit expandieren konnten. Der Stettiner Historiker Jan M. Piskorski schreibt über die
Vertreibungen in Europa im 20. Jahrhundert. Außerdem geht es um das europäische Jahr 1956, um deutsche Außenpolitik und die "Dauerkrise der amerikanischen Rechten".
HVG, 25.05.2006

Die
Ungarische Akademie der Wissenschaften steht in der Kritik: Das Durchschnittsalter liegt bei 80, doch die
Greise pochen auf ihre Privilegien und wollen das Ruder nicht der
jüngeren wissenschaftlichen Elite des Landes überlassen, heißt es. Der Literaturwissenschaftler György C. Kalman
schließt sich den Kritikern an und schlägt vor: "Mit subtilen Methoden - zum Beispiel der Verleihung von Titeln wie 'emeritus' oder 'Ehrenmitglied' - kann man ausgebrannte, leistungsschwache oder faule Wissenschaftler von wichtigen Ämtern wegloben. Aber es gibt auch Mitglieder der Akademie, die nie gut waren, weil sie
aus politischen Gründen Mitglieder wurden. Die Akademie hat 1989 die Chance verpasst, mit ihnen abzurechnen. Es war damals wichtiger, dass niemand das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Inzwischen sind fünfzehn Jahre vergangen, ohne dass einer von ihnen zurückgetreten wäre. Es ist an der Zeit, über das Schicksal dieser Akademiemitglieder erneut nachzudenken."
Fast
alle Bischöfe der Reformierten Kirche waren
Stasi-Spitzel, verkündete kürzlich die Zeitschrift
Mozgo Vilag. Der Artikel steht leider noch nicht im Internet, aber er löste eine Debatte aus: Publizist Norbert Izsak ist
überrascht, dass die Kirche immer noch "unsicher ist, wie sie über ehemalige Stasi-Spitzel in ihren Reihen urteilen soll: Sollen sie für diese Kompromisse
anerkannt oder verurteilt werden? ? Auch die Gläubigen sind ratlos, was sie aus der Zeit vor 1989 für akzeptabel halten sollen. Für einige sind die damaligen Bischöfe
Helden, weil sie eine glanzvolle kirchliche Karriere machten und dabei 'vieles hinnehmen mussten'. Andere werfen ihnen vor,
gesinnungslose Kompromisse gemacht zu haben."
New Statesman, 29.05.2006
Afrika wird die
Fußballweltmeisterschaft nie gewinnen,
unkt David Runciman. Dass derzeit drei afrikanische Mannschaften mit dabei sind, ist ein Resultat der global agierenden
Talentehändler, die trotz der katastrophalen politischen Situation in Togo, Ghana oder der Elfenbeinküste Fußballer finden. "Einige Spieler des Teams der Elfenbeinküste (
Didier Drogba von
Chelsea eingeschlossen) haben ihre Ausbildung in Frankreich erhalten, und von denjenigen, die zu Hause geblieben sind, stammen viele aus der Jugendakademie des früheren Profis Jean-Marc Guillou, die eigens eingerichtet wurde, um die Elfenbeinküste nach
ungeschliffenen Talenten abzusuchen, sie in hochmodernen Instituten zu trainieren und sie dann in Clubs in Frankreich und anderswo zu exportieren. Die Glücklichen, besonders diejenigen, die die Aufmerksamkeit von Trainern wie Arsene Wenger und Jose Mourinho wecken, kann das
aus dem Nichts in das Zentrum der Sportwelt katapultieren, wo sie Zugang zu unvorstellbarem Reichtum haben (Ghanas
Michael Essien verdient mehr als 55.000 Pfund in der Woche und repräsentiert ein Land mit einem jährlichen
Durchschnitsslohn von 300 Pfund).
New York Times, 28.05.2006
Lecker! Die
Book Review widmet sich Büchern
rund ums Kochen und Verspeisen. Köche, Gastronome und Gourmets schreiben über antiquarische Lieblingskochbücher (
hier). Und Jay Jennings
entdeckt in "Eat this Book" von Ryan Nerz und in Jason Fagones "Horsemen of the Esophagus", zwei Büchern zum viel zu wenig beachteten Thema "
Wettessen", die Quintessenz dieses schönen Sports: "Je mehr wir über die Wettesser erfahren, desto größer wird unser Respekt. Sie trainieren, sie nehmen es ernst." Der Leser lerne, "wie die Übertreibung der eigenen Schwächen diese in Stärke verwandeln" könne.
Weitere Artikel: Liesl Schillinger gefällt die Verbindung von
Sex und Küche in
Gael Greenes glamourösem
Erinnerungsbuch "Insatiable". Adam Platt
findet die Memoiren des Weinpapstes
Hugh Johnson ("A Life Uncorked") passenderweise "lieblich". Und Dorothy Kalins empfiehlt
zwei Bücher, die uns die Augen öffnen möchten, nicht den Mund: "The Way We Eat" von Peter Singer/Jim Mason sowie Marion Nestles "What to Eat".
Im
Magazine beleuchtet Rob Walker das von Firmen wie
Mozilla und
General Motors genutzte "consumer-generated advertising", bei dem keine sakrosankte PR-Maschine den Spot produziert, sondern der Verbraucher: "Für die Firmen ist es entweder ein Segen (das Marketing wird an eine loyale Kundschaft delegiert) oder eine Bedrohung (es gerät in die Hände von unkontrollierbaren Amateuren)."
Ferner: Matt Bai
untersucht die Bedeutung der
Blogosphäre für die politische Kultur am Beispiel des megaerfolgreichen Politikblogs
Dailykos.com. John Wray
berichtet über neueste Verwandlungsformen des
Heavy Metal im Klangkreis des kalifornischen Labels
Southern Lord. Und Randy Kennedy
sieht die
Zukunft des Fernsehens winzig klein - demnächst auf Ihrem Mobiltelefon.
Outlook India, 05.06.2006

R. K. Mishra
dokumentiert den Fall des
Schauspielers Aamir Khan, dessen neuester Film
"Fanaa" im nordwestindischen Gujarat von offizieller Seite wie von Filmverleihen und Kinobesitzern vom
Spielplan gestrichen wurde, nachdem der Schauspieler sich kritisch über die hindunationale Partei
BJP geäußert hatte. In einem
Interview zeigt sich Khan unbeeindruckt: "Wenn der Grund der ist, dass ich die Opfer des Genozids in Gujarat (2002) nicht in
Hindus und
Moslems einteile, meinetwegen ... Aber hier geht es um Demokratie. Niemand in Gujarat braucht sich meinen Film anzusehen, doch die Leute zu zwingen es nicht zu tun, ist falsch."
Weitere Artikel: Seema Sirohi
erklärt, wie
italienische Modemarken den indischen Markt erobern wollen. Pavan K. Varma
bespricht eine "unakademische" Studie über die
indische Familie (Gitanjali Prasad:
"The Great Indian Family"). Und Khushwant Singh
wünscht sich
Pradip Krishens Botaniker-Buch
"Trees of Delhi" in jedes Bücherregal.
Weltwoche, 25.05.2006

Christof Moser
begibt sich nach
Entropia, ein virtuelles
Online-Universum mit 300.000 Mitspielern und einem Umsatz von sehr realen 165 Millionen Dollar im Jahr. In einer Galerie in New Oxford trifft er den Filmemacher
Jon Jacobs, der sich hier
Neverdie nennt und gerade für 100.000 Dollar auf einem Asteroiden einen Nachtclub eröffnet hat. "An die hundert Gäste aus aller Welt sind inzwischen anwesend, die Vernissage ist gut besucht. Die Bilder, meist
abstrakte Kunst in der Art, wie die Amerikaner sie lieben, lassen sich hier für
1.000 bis 5.000 PED als virtuelles Objekt erwerben, können aber auch als reale Werke bestellt werden. Während ich mich setze und mit einem Künstler über das spielinterne Chatsystem unterhalte - er kommt aus Budapest, und Entropia ist inzwischen sein
wichtigster Absatzkanal -, kauft sich Neverdie kurzerhand für 40.000 PED, 4.000 reale Dollar also, virtuelle Pixelkunst, die er in die VIP-Lounge seines Clubs hängen will. Jacobs sieht das als Investment. Wie die anderen virtuellen Gegenstände können auch die Bilder an der
Warenbörse gehandelt werden. Steigt die Nachfrage nach einem Künstler, hat es sich gelohnt, zu seinen ersten Sammlern in der virtuellen Realität zu gehören."
Weiteres: Urs Gehriger
warnt vor der gefährlichen Situation in
Afghanistan und der ebenso gefährlichen europäischen Unentschlossenheit. Franziska K. Müller
berichtet von
Ian Mucklejohn, der als erster Familienvater bewusst auf eine Mutter verzichtet und seine drei Kinder von einer
Leihmutter hat austragen lassen. Im Interview mit Roland Mischke
erklärt Volker Weidermann die Ein- und Auslassungen in seiner
Literaturgeschichte.
New Yorker, 05.06.2006
Sasha Frere-Jones
erklärt, was es braucht, damit
britische Popmusiker auch in
Amerika erfolgreich sind: "Ihre Lyrik sollte erhebend sein, sie sollten keinen erkennbaren englischen Akzent haben und jeden britischen Slang vermeiden." Die wahren, nicht-amerikanischen Helden der Popmusik
stellt er im Online-Interview mit Ben Greenman vor: "
Schweden haben keinen Akzent. Sie sind
alle Genies. Sie sind blond. Sie singen auf Englisch."
Margaret Talbot
porträtiert die italienische Journalistin und Autorin
Oriana Fallaci, deren streitbare, emanzipatorische Haltung sie früher bewunderte. Das ist heute anders. "Die herrlich rebellische Oriana Fallaci kultiviert wie es scheint heutzutage die
Ressentiments des Kleinbürgertums. Sie ist gegen Abtreibung, es sei denn, sie 'wäre von Bin Laden oder Zarqawi vergewaltigt und schwanger geworden'. Sie ist entschieden gegen die Homo-Ehe ('Genau wie die Muslime gerne hätten, dass wir alle Muslime werden, hätten sie gerne, dass wir alle homosexuell werden') und misstrauisch gegenüber jeder Form der Immigration."
Weiteres: Adam Gopnik
stellt zwei Studien vor, die einen neuen Blick auf die
Französische Revolution und die damit verbundene
Schreckensherrschaft werfen: "The Terror: The Merciless War for Freedom in Revolutionary France" (Farrar, Straus & Giroux) und "Fatal Purity: Robespierre and the French Revolution" (Metropolitan). Die
Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem dem wunderbaren
Porträt eines "obdachlosen Psychopathen" von Alexander Masters (deutsch:
"Das kurze Leben des Stuart Shorter", Kunstmann). Und David Denby
sah im Kino die dritte
X-Men-Folge
"X-Men: The Last Stand" von Brett Ratner und den Dokumentarfilm
"The Cult of the Suicide Bomber" des
CIA-Offiziers Robert Baer, dessen Erlebnisse im Mittleren Osten als Vorlage für George Clooneys Rolle in "Syriana" dienten. Zu
lesen ist außerdem die
Erzählung "Dimension" von Alice Munro.
Nur im
Print: ein Porträt des Vorstandsvorsitzenden von Sony
Howard Stringer und
Lyrik von Rosanna Warren und Landis Everson.
Elet es Irodalom, 26.05.2006

Der überwältigende Enthusiasmus von Peter Esterhazy als Fußballfan trug sicherlich dazu bei, dass die
ungarische literarische Nationalelf im Berlin beim Spiel gegen Deutschland am 20. Mai ein zweites
Wunder von Bern verhindern konnte. Das Ergebnis endete 0:0, aber die Ungarn waren viel besser als die Deutschen,
findet der
Schriftsteller Laszlo Darvasi, der selbst mitgespielt hatte: "Die Deutschen spielten in der zweiten Hälfte gar nicht mehr aufs Tor, während unsere Mannschaft mehrere herzzerreißende Torchancen an den Himmel verschenkte. Wir können mehrere Zeugen benennen, die aussagen, dass unsere Mannschaft
wirklich besser spielte, als die im Durchschnitt zehn Jahre jüngeren deutschen Schriftsteller." Denn die literarische Nationalelf Ungarns bestand aus Männern "mit gemeinen, immer hartnäckigeren Polstern um die Hüften, traurigen Füllungen in den Zähnen, immer tieferen Falten,
Jammerromane, Schnupfenfeuilletons und Trauerspiele schreibend."
Imre Kertesz feiert eine große Budapester Konzertreihe für zeitgenössische Musik, die mit Werken des ungarischen
Komponisten György Ligeti eröffnet wurde: "Dieser Name war für mich lange nur ein Wort, das durch die
Dunkelheit von Verboten schimmerte. György Ligeti: die unerreichbare Quelle wunderschöner, geheimer Töne. Seine Musik war Jahrzehnte lang aus allen Konzertsälen, Musikhochschulen, Radiosendungen Ungarns
verbannt. Die Nachwelt wird bestimmt die Frage stellen: Wie ist es denn nur möglich, dass dieses Land so verschwenderisch mit seinen Talenten umging?" Die Konzertreihe ist das erste große Projekt des Vereins Neue Ungarische Musik (UMZE), der 2005 unter anderem von György Kurtag, Peter Eötvös und Andras Szöllösy mit dem Ziel begründet wurde, die zeitgenössische ungarische Musik
in Ungarn bekannt zu machen.
Die
Stasi-Unterlagen sollten in Ungarn endlich frei zugänglich werden, wie in der ehemaligen DDR,
fordert der Historiker Laszlo Varga:
Der erste Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen der DDR, "
Joachim Gauck und seine Mitstreiter haben der Staatsmacht ihr Informationsmonopol entzogen. Dies war in Ungarn nicht möglich, weil sich die Stasi hierzulande hinter der 'Polizei' versteckte, mit der sich eng verflochten war. In Deutschland wusste jeder, wo die Stasi 'wohnt', aber wir hatten keine Ahnung. ... In den letzten zehn Jahren bekamen die Bespitzelten in Ungarn immer mehr Rechte, die Historiker dürfen immer freier recherchieren. Aber das Wichtigste, der Zugang zu den Stasi-Unterlagen und die oft beschworene Bewältigung der Vergangenheit bleibt weiterhin aus."
Nouvel Observateur, 29.05.2006

Aus Anlass eines neuen Buchs des Essayisten
Stephane Zagdanski ("De l'antisemitisme", Climats) bringt der
Nouvel Obs ein
Gespräch zwischen dem Autor und dem Anwalt und führenden jüdischen Resistance-Mitglied
Theo Klein. Zagdanski sieht den Antisemitismus als eine
Grundströmung über die Zeiten und Zivilisationen hinweg: "Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit illustriert dies: Der Mord an dem jungen Juden
Ilan Halimi durch eine Bande von Pariser Vorstadtgangstern geschah aus dem Motiv, dass Juden angeblich viel Geld haben und immer zusammenhalten. Für mich gibt es zwischen dieser Überlegung und dem Satz aus
Marx' "Über die Judenfrage", wonach das Geld der eifersüchtige Gott der Judenheit sei, nicht den geringsten Unterschied. Selbst wenn der Mörder Youssouf Fofana niemals Marx gelesen hat, so hat sich der selbe Wahn in ihm unterirdisch fortgepflanzt." Klein rät demgegenüber zu
gelassenem Selbstbewusstsein: "Ein Jude, der sich nur durch die Schoah definiert, die er nicht erlebt hat, und durch Israel, wo er nicht wohnt, verfehlt für mich das Wesen der jüdischen Identität. Und gerade diese Leute sind am empfindlichsten. Wenn das Judentum etwas
wirklich Spirituelles für jemand ist, dann explodiert er nicht gleich bei jeder antisemitischen Dummheit."
Literaturen, 01.06.2006
Literaturen steht diesmal ganz im Zeichen der
Kinderlosigkeitsdebatte. Während Jan Engelmann die weitgehend alarmistischen Neuerscheinungen zum Thema
Demografie gesichtet hat, und Martina Meister in der Flut von
Mütter-Ratgebern das spezifisch deutsche Kind-Beruf-Dilemma gespiegelt sieht, wird sich im
Literaturen-Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin
Barbara Vinken, dem Soziologen
Hans Bertram, dem Medientheoretiker
Norbert Bolz und dem Demografen
Reiner Klingholz munter gestritten: über Kinderlosigkeit, Geschichte der Erziehung, Rollenverteilung, Familienpolitik und immer wieder - über die
Figur der Mutter. Passend dazu
stellt Aram Lintzel in der Netzkarte die Webseite
nokidding vor, die auf erfrischend politisch unkorrekte Weise das
kinderlose Dasein verherrlicht.
Weitere Artikel:
Feridun Zaimoglu, der mit dieser Ausgabe die Beiseite-Kolumne von Sybille Berg übernimmt,
steht in der Hamburger Kunsthalle zwischen
buchfixierten Kompetenzbestien, sucht Rettung und findet sie - in einem Buch: "Das merkwürdige Leben der Literaten" von
Jürgen Neckam. Im Kriminal
erliegt Franz Schuh dem Charme des Heruntergekommenen, der von
Max Bronskis "Sister Sox" und seinem
verfremdeten, trashigen München ausgeht. Und Sigrid Löffler
labt sich an zwei
aberwitzigen Pionierfahrten aus der Zeit des britischen Empire: einmal
Mirko Bonnes Pseudo-Sachbuch
"Der eiskalte Himmel", das die "Imperial Trans-Antarctic Expedition" von 1914-1916 (Ernest Shackeltons Versuch, den antarktischen Kontinent zu Fuß zu überqueren), heldenepisch nachzeichnet, und einmal
Ursula Naumanns historische Reportage
"Euphrat Queen", die Francis Rawdon Chesneys Versuch dokumentiert, zwecks kürzeren Postwegs zwischen der Kolonie Indien und dem Mutterland einen Euphratdampfer in Betrieb zu nehmen.
Foglio, 27.05.2006
Amy Rosenthal
trifft den nun neunzigjährigen
Orientalisten Bernard Lewis, der erklärt, wie man es hätte machen müssen im Irak. "Als allererstes hätte man eine
irakische Autorität aufbauen müssen, an die man die Macht übergeben kann. Die Invasion des Iraks wäre gar nicht nötig gewesen. In den Neunzigern gab es die sogenannte "
freie Zone" im Norden. Etwa ein Fünftel des Landes und der Bevölkerung gehörten nicht mehr Saddam Hussein, , sondern wurden von kurdischen Führern und dem
Nationalkongress kontrolliert. Da hätte man was machen können, aber es ist nichts passiert. So wurde eine großartige Möglichkeit vergeben. Nach der Invasion ist dieser Widerstand völlig zusammengebrochen."
Marie Antoinette wurde Opfer einer
Medienkampagne,
meint Siegmund Ginzberg. Angefangen hatte es als von Neidern lancierter Hofklatsch, dann "vervielfältigten sich die
Pamphlete und Karikaturen. Die Tatsache dass der junge König seit sieben Jahren nicht imstande war, die Ehe zu vollziehen, wurde zum Objekt von Spekulationen und Schmähungen. Man diskutierte wild und erging sich in sämtlichen
intimen Einzelheiten. Wenn der Ehemann irgendein Problem hatte, war es nur logisch, dass sich die junge und brillante Ehefrau nach einer sexuellen Alternative umsehen musste. Man dichtete ihr Haufen an Liebhabern
beiderlei Geschlechts an. Man sagte, dass ihre Kinder, die designierten Thornerben, von jemandem anderen stammen müssen (immer wieder gingen die Vermutungen in Richtung des
jüngeren Bruders von Ludwig XVI.). " Ihren Höhepunkt fand die öffentliche Antipathie direkt nach der Hinrichtung, schreibt Ginzberg, als ein Revolutionsblatt titelte: "Das Flittchen Marie Antoinette hat den Tod gefunden, den sie verdiente, wie eine
Sau im Schlachthof."
Economist, 26.05.2006

Ein Jahr, nachdem sich Franzosen und Niederländer per Referendum gegen die
EU-Verfassung ausgesprochen haben,
fragt sich der Economist, wozu ein weiteres Jahr Denkpause, wie es jetzt erwogen wird, gut sein soll. "Sinnvoll wäre, sich beim Gipfeltreffen kommenden Monat darauf zu einigen, den jetzigen Verfassungstext zu vergessen. Das würde es den Verhandlungspartnern ermöglichen, sich den
grundlegenderen Fragen zuzuwenden, die die Verfassung beantworten sollte, aber nicht konnte: Wie kann man die
Zielsetzung der EU (und, was gleichermaßen wünschenswert wäre, ihre Beliebtheit) wiederbeleben und welche institutionellen Veränderungen könnten dazu erforderlich sein?"
Weitere Artikel: "Treten Sie hierher, Sir, zu Ihrer
Umprogrammierung. Wenn wir erst Ihre Waffen beschlagnahmt haben, können wir Ihre aggressiven Instinkte abbauen und Sie in die Zivilgesellschaft zurückintegrieren" - Amüsiert
berichtet der Economist, wie alarmiert die
National Rifle Association (NRA) auf Bestrebungen der UNO reagiert, ihr weltweites
Entwaffnungsprogramm auch auf die USA und ihre zahlreichen Waffenbesitzer auzudehnen. Sehr angetan
ist der Economist von Hans-Guck-in-die-Luft
Gavin Pretor-Pinney, der in seinem Buch "
The Cloudspotter's Guide: The Science, History and Culture of Clouds" so über
Wolken schreibt, als seien sie alte Freunde von ihm. Zufrieden hat der Economist das Urteil des höchsten britischen Gerichts
vernommen, das sich entschieden gegen eine Wiedereinführung des
Schuld-Begriffs in Scheidungsprozessen ausgesprochen hat. Und schließlich
nimmt der Economist Abschied vom amerikanischen
Dichter Stanley Kunitz, der sich kaum vom Fleck rührte, seine Verse aber in unendliche Weiten flirren ließ.