13.06.2006. Das Wikipedia-Prinzip ist digitaler Maoismus, behauptet Jaron Lanier in Edge. Im Express feiern Eric Hobsbawm und Jacques Attali Karl Marx als Denker der Globalisierung. Segolene Royal sieht das wohl etwas anders, entnehmen wir der Weltwoche. Der Economist traut keinem Roboter. Die New York Review of Books sieht die Opiumindustrie in Afghanistan wachsen und gedeihen. Der Spectator berichtet aus Darfur. DU widmet sich dem Volk der Kritischen Wälder. In Le Point feiert Bernard-Henri Levy Angela Merkel als lebenden Beweis für die Aktualität von Simone de Beauvoirs Werk.
Edge.org, 30.05.2006
Die besten Essays über die bestürzende Medienrevolution
namens Internet kommen nach wie vor aus den USA. Vor ein paar Wochen
entwarf Kevin Kelly (mehr
hier) im
New York Times Magazine die euphorische Vision eines durch das Internet geschaffenen kollektiven und
unendlichen Buchs. Fast gleichzeitig
setzt Jaron Lanier (mehr
hier), ohne direkt auf Kelly zu antworten, einen
scharfen Gegenakzent und kritisiert einen von Projekten wie Wikipedia angefachten Kollektivgeist, der glaubt, dass sich der Weltgeist schon von alleine und ohne verantwortliche Autoren im Netz aggregiert. Lanier spricht von einem "new
online Collectivism", "einer Wiederkehr der Idee von einem allwissenden Kollektiv": "Diese Idee hatte fürchterliche Konsequenzen, als sie in verschiedenen Epochen von rechts- oder linksextremen Kräften über uns gebracht wurde. Die Tatsache, dass sie nun wieder von prominenten Forschern und Futorologen aufgebracht wird - darunter Leuten, die ich kenne und mag - macht sie
nicht weniger gefährlich." Lanier glaubt nicht an eine Abschaffung der Autorenschaft: "Das schöne am Netz ist, dass es Beziehungen zwischen Leuten herstellt. Der Wert liegt in diesen anderen Leuten. Wenn wir glauben, dass das
Internet selbst als Ganzes etwas zu sagen hat, dann entwerten wir diese Leute und machen uns zu
Idioten."
Über Laniers Essay werden auf
edge.org intensive Debatten geführt. Es antwortet unter anderem Kevin Kelly.
DU, 01.06.2006

"
Du ist Deutschland" schreibt sich
du pünktlich zur WM auf die Fahnen und lässt Korrespondenten, unterstützt durch
Albrecht Tübkes Einwohnerporträts (
mehr), aus allen Ecken der Republik über das Volk der
Kritischen Wälder (Herder) berichten. Im Netz steht wie immer nur eine kleine
Auswahl.
Erhellend sind dabei nicht unbedingt die großen diskursiven Beiträge, sondern die kleinen atmosphärischen wie der von
Svenja Leiber (
mehr) über ihr Heimatdorf (der ebenfalls
online zu finden ist). "Fahr von der Autobahn ab, immer weiter durch die
versprengten Ansiedlungen, von welchen dich keine einzige überraschen wird. Durchquere sie, erhoffe dir keine Einblicke in die Panoramafenster der Bungalows, fahr weiter, die kurvigen Straßen entlang, vorbei an den Schweinehallen, vorbei an den silbernen Fähnchenketten des Autohändlers. Folge den neonfarbenen Einladungen zu
Schaumparties und Scheunenraves. Achte auf die Menschen, du wirst nicht viele zu Gesicht bekommen. Halte die roten Laternen an dem Einfamilienhaus nicht für vergessenen Weihnachtsschmuck. Fahre. Fahre die schönen Hügel hinab, vorbei an den abgesteckten Bauplätzen im Garten der alten Fasanerie, runter zur Brücke, die sich
panzerfest über einem winzigen Bach breitmacht. Die Straße läuft direkt im Ortskern auf ein kleines Häuschen hinter einem meterlangen rot-weißen Kurvenschild zu und biegt dort sehr scharf nach links. Schau jetzt nicht zu interessiert aus dem Fenster, du machst sie misstrauisch. Hier gibt es nichts mehr zu kaufen.
Lass sie in Ruhe. Lass sie an ihren Gärten feilen, nimm das ernst."
Point, 12.06.2006

In dieser Woche ärgert sich
Bernard-Henri Levy maßlos darüber, dass weder die Medien noch die Öffentlichkeit in Frankreich auch nur ein Wort zu
Simone de Beauvoir verlieren, die vor 20 Jahren starb. In seinen
Bloc-notes singt er daher ein
Hohelied auf sieben Frauen, die ihm allesamt als "Belege für die Aktualität von Beauvoirs großartigem Werk" gelten: Hillary Clinton, Condoleezza Rice, die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet, die französische Politikerin Segolene Royal, die Frauenrechtlerin Fadela Amara, die burmesische Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi - und
Angela Merkel. Über sie schreibt er: "Angela Merkel; 'diese Frau', wie der Putinist und Weltrekordhalter in Sachen Korruption in der Demokratie
Gerhard Schröder sagt; dieses 'Weib', über das er sich im Moment seiner Niederlage schwarz ärgerte...; sie, diese Spezialistin für Quantenphysik (die echten Elementarteilchen sind nicht Houellebecqs Terrain sondern ihres) genießt eine
Popularität, die nicht nur ihren Vorgänger vor Neid erblassen lässt, sondern alle europäischen Regierungschefs. Noch dazu saniert sie die Konten einer Wirtschaft, die dank ihrer die Rolle der
treibenden Kraft innerhalb der europäischen Physik wiederfindet, die sie immer gehabt hat und unbedingt haben soll."
Zu lesen ist außerdem ein
Interview mit dem Direktor des Archäologischen Instituts der Universität Tel Aviv,
Israel Finkelstein, über dessen neues Buch "Les rois sacres de la Bible" (Bayard) und die Frage, ob die
Bibel nur eine Fabel sei.
Elsevier, 10.06.2006

In seinem Weblog
ärgert sich Leon de Winter (
mehr) über
Königin Beatrix. Grund: Das niederländische Staatsoberhaupt hatte bei einem Moscheebesuch in Den Haag aus Respekt vor dem Islam gebilligt, dass ihr als potenziell unreiner Frau zur Begrüßung nicht die Hand gab. "Bizarr", nennt de Winter diese bei Moslems ebenso wie orthodoxen Juden übliche Regel und erzählt von Besuch eines jüdischen Freundes, "der aus Glaubensgründen keinen Fernseher hat, aber als Fußballverrückter gern
Oranje spielen sehen wollte. Er brachte seine eigene Limonade und Kekse mit, weil bei mir
nichts koscher ist. Auch meiner Frau gab er nicht die Hand. Ein netter, unschuldiger Mann, aber er folgt kruden Ideen. Ich glaube nicht, dass Gott von den Männern ein derartiges Verhalten einfordert. Und täte er es, - wer kann das sagen? - würde ich diese Anweisung nicht befolgen. Das weiß mein lieber orthodoxer Fußballfan. Er duldet mich, und ich dulde ihn. Ich würde mich ihm niemals in einem öffentlichen Ritual
unterwerfen. Genau das aber hat unser Staatsoberhaupt letzte Woche getan."
Glaubensfragen erörtert auch Simon Rozendaal in seiner Wissenschaftskolumne: Er
amüsiert sich über einen modernen Daniel in der Löwengrube, der in einem Kiewer Zoo ins
Raubtiergehege kletterte um die
Existenz Gottes zu beweisen. Als ungefährlicher empfiehlt Rozendaal die Beweismethode des
Schriftstellers Maarten t?Hart: "Der säte in seinem Garten zwei gleich große Felder mit Schnitt- oder Prinzessbohnen ein und betete für eines der Felder, für das andere nicht. Nach einiger Zeit stellte er fest, dass sich die beiden Gemüsebeete in nichts von einander unterschieden. Ergo: Gott existiert nicht."
New York Times, 11.06.2006

Das
Magazin der
New York Times widmet sich dem Geld. Dem der anderen vor allem, denn es geht um's Schulden machen, eine Disziplin, in der die USA Weltklasse sind. Als beliebte Unterdisziplin gilt
Online-Poker. Mattathias Schwartz erzählt
die Geschichte eines 19-Jährigen, der eine
Bank überfiel, um seine Schulden zu bezahlen, und erklärt die Faszination: "Ein Hochgefühl vergleichbar mit der Wirkung von Kokain. Blut steigt zu Kopf, die Hände werden
feucht, der Mund
trocken. Zeit wird zu reiner Gegenwart ... Gewinn und Verlust ununterscheidbar ... Überwiegt das Verlangen nach dem Kick des Setzens das Bewusstsein für den eigenen Besitz, 'kippt' der Spieler - er setzt zu viel, ist die Gewinnchance auch noch so gering."
Außerdem: In der zahlengesättigten
Titelgeschichte über die
amerikanische Staatsverschuldung prognostiziert der Historiker
Niall Ferguson eine Finanzlücke von
66 Billionen Dollar. Im
Interview mit Deborah Solomon wünscht sich der Multimilliardär
George Soros mehr Geld. Und Jackson Lears
sieht's historisch easy: Schulden gehören zu Amerika wie cherry pie.
Anders Reisen war gestern. Was Tom Bissell in Sachen Reiseliteratur in der
Book Review empfiehlt, lässt noch die furchtlosesten Abenteuerurlauber wie Clubtouristen aussehen. Für "The Places in Between" (
Leseprobe) durchquerte
Rory Stewart 2002
zu Fuß Afghanistan und legt, wie Bissell
findet, ein journalistisches Meisterstück vor, das zugleich höchsten Ansprüchen literarischen Schreibens genügt: Der Autor verfüge über "ein geradezu mystisches Naturverständnis, einen ausgeprägten Sinn für Figuren und das Timing eines
Komikers". Bissell gefällt die Zurückhaltung des Schreibenden und seine Sympathie für die Menschen, denen er begegnet, "ohne etwas zu verklären". Und er schätzt seine praktischen Tipps, wie: "Eine
Freifläche ohne Schafskot ist höchstwahrscheinlich ein Minenfeld."
Weitere Artikel: Anlässlich von
John Updikes neuem Roman "Terrorist"
fragt Rachel Donadio, was es braucht, den
islamischen Terrorismus zu literarisieren. In "The Possibility of an Island" (
Leseprobe) von
Michel Houellebecq erscheint Stephen Metcalf der Autor als langweiliger "Proselyt der Unzucht". Und Peter Dizikes
erinnert an die erkaltete
Darwinismus-Debatte und bespricht Bücher zum Thema von Nicholas Wade (pro) und David Stove (contra).
Express, 09.06.2006

Muss Karl Marx angesichts der Globalisierung als "Pionier des
modernen Denkens" gelten? Diese Frage
diskutieren zwei, die davon überzeugt sind: Der englische Historiker
Eric Hobsbawm, "unerschütterlicher Kommunist" und Experte des 20. Jahrhunderts, sowie der Ökonom und ehemalige Mitterand-Berater
Jacques Attali, der im vergangene Jahr das Buch
"Karl Marx ou l'esprit du monde" (Fayard) veröffentlicht hat. Hobsbawm diagnostiziert ein neues "überraschendes Interesse" an Marx, das er ganz natürlich findet: "Wir sind heute mit einer globalisierten Ökonomie konfrontiert, die
Marx vorweggenommen hat. Allerdings hat er einige ihrer Auswirkungen nicht vorhergesehen. Beispielsweise ist die marxistische Prophezeiung, wonach in den Industrieländern ein immer zahlreicher werdendes Proletariat den
Kapitalismus kippen werde, nicht eingetreten." Und Attali meint: "Mit der Sozialistischen Internationalen hat Karl Marx einen bemerkenswerten Versuch gestartet, die
Welt in ihrer
Gesamtheit zu denken. Er ist ein außerordentlich moderner Denker, weil seine Schriften nicht die Umrisse eines sozialistisch organisierten Staates zeichnen, sondern des
Kapitalismus der Zukunft."
Economist, 09.06.2006

Das
Technology Quarterly ist allen Arten künstlicher Intelligenz gewidmet. Im Aufmacher
fragt sich der - von
Isaac Asimovs Zukunftsvision "I, Robot" inspirierte - Economist, wie sicher unsere
Zukunft mit Robotern aussieht. Gelten in der heutigen Robotik die
drei Gesetze, die Asimov zum Schutz der Menschen aufgestellt hat? "In Zukunft wird es immer schwieriger werden, das Verhalten von Robotern zu regulieren, zumal sie zunehmend über
Selbstlernmechanismen verfügen werden, sagt der Robotiker
Gianmarco Veruggio vom Institut für Intelligente Automatensysteme in Genua. Dadurch wird es unmöglich, ihr Verhalten mit hundertprozentiger Zuverlässigkeit vorherzusehen, so Veruggio weiter, da sie sich nicht auf vorgegebene Art und Weise verhalten, sondern sich fortwährend
neue Verhaltensweisen aneignen werden."
Weitere Artikel dazu sind leider nicht online. Aber es geht unter anderem um neue
Brennstoffzellen,
künstliche neurale Netze in Automotoren und den Siegeszug von
Bluetooth (drahtlose Funkvernetzung). In diesem Zusammenhang sei noch auf den
Robocup hingewiesen, die
Fußballweltmeisterschaft der Roboter, die diese Woche in
Bremen ausgetragen wird. (Mehr Infos
hier)
Außerdem wird berichtet
vom unaufhaltsamen Aufstieg der ehemaligen Kultus- und Familienministerin
Segolene Royal zur
Präsidentschaftskandidatin der französischen Sozialisten (die sich jedoch mit Händen und Füßen dagegen wehren),
dass der abschließende Bericht des Europarates über die geheimen
CIA-Aktivitäten in Europa zu dem Schluss kommt, dass mindestens sieben Staaten, darunter auch Deutschland, Kenntnis davon hatten, und
welche Konsequenzen
Kanada aus den vereitelten Terroranschlägen
zieht, die auf die Börse in Toronto, das staatliche Fernsehen, das Parlament und den
Kopf des Premierministers zielten.
In Lausanne schließlich
gerät der Economist völlig aus dem Häuschen über
Peter Brooks extrem sparsame, aber ungeheuer lebendige Inszenierung von
Athol Fugards Stück "Sizwe Banzi".
Weltwoche, 08.06.2006

Daniel Binswanger
porträtiert Segolene Royal, die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatin der französischen Sozialisten, die ihre Partei mit unerhört rechten Positionen in eine Identitätskrise treibt. "Von der Armee geführte
Umerziehungslager für kriminelle Jugendliche, behördliche Bevormundung von Eltern mit Autoritätsproblemen, Sozialgeldkürzung für Erziehungsberechtigte mit straffälligen Kindern: In Frankreich wird seit einer Woche über einen happigen Katalog von Maßnahmen diskutiert, um die Ursachen von Jugendgewalt und
Banlieue-Problemen an der Wurzel zu packen. Für einmal ist die Debatte aber nicht vom hyperaktiven Innenminister Nicolas Sarkozy ausgelöst worden. Ungläubig reiben sich die Franzosen die Augen: Wie in einer
Polit-Fata-Morgana hat der Law-and-Order-Diskurs das Lager gewechselt." Hier der
Artikel über Royal in der französischen Wikipedia.
Weiteres:
Babys kann man bis zu einer halben Stunde durchschreien lassen,
erfährt Franziska K. Müller von
Gina Ford, deren autoritäre Erziehungsratschläge in den USA sehr gefragt sind (hier die
Seite der harmlos dreinblickenden Dame). Daniel Ammann
betont, dass der Bundesanwalt
Valentin Roschacher entgegen seiner Beteuerungen sehr wohl die Schlüsselfigur im Skandal um den als V-Mann eingeschleusten
Drogenbaron Jose Manuel Ramos ist.
New York Review of Books, 22.06.2006
Elizabeth Drew
beschreibt in einem Report aus Washington, wie sich das
Weiße Haus unter George W. Bush eine ungeahnte Machtfülle verschafft hat. "Es versucht systematisch, die Institutionen herauszufordern, zu kontrollieren oder zu bedrohen, die ihm gefährlich werden könnten: den Kongress, die Gerichte und die Presse... Doch sein aggressivster und nachhaltigster Angriff ist gegen die
Legislative gerichtet. Bush hat immer wieder deutlich gemacht, dass er die Gesetze auszulegen gedenkt, wie es ihm passt und nicht, wie der Kongress sie verfasst hat."
Fünf Jahre nach dem Sieg der Amerikaner über die Taliban
sieht Ahmed Rashid
Afghanistan wieder am Rande des Kollaps stehen: "Die wiederbelebte Taliban-Bewegung hat ein Drittel des Landes unregierbar gemacht. Zusammen mit Al-Qaida versuchen Talibanführer neue Basen im Grenzgebiet zu Pakistan zu errichten. Unterstützt werden sie dabei von Afghanistans wiedererstarkter
Opiumindustrie, die besonders im Süden ihren Teil zur Verbreitung von Korruption und Gesetzlosigkeit beigetragen hat. Der im Land angebaute Mohn, zu Opium verarbeitet und Heroin verfeinert, macht inzwischen
90 Prozent des globalen Marktes aus."
Weiteres: Alan Ryan
stellt gleich drei Bücher vor, in denen sich hochkarätige Philosophen -
Kwame Anthony Appiah,
Amartya Sen und
Martha Nussbaum - mit Konzepten kultureller Vielfalt und des
Kosmopolitismus beschäftigen. Freeman J. Dyson
bespricht Daniel C. Dennetts philosophisches Traktat "Breaking the Spell" über Religion, in dem Dennett den "
Glauben an den Glauben" als das eigentliche Problem identifiziert. "Er liefert einige Hinweise darauf, dass die meisten Menschen, die sich selbst als gläubig bezeichnen, nicht wirklich an die Doktrinen ihrer Religion glauben, sondern an den Glauben als ein wünschenswertes Ziel." Neal Ascherson
preist Wole Soyinkas neues Buch
"You Must Set Forth at Dawn", in dem der Titan und Nobelpreisträger von seiner Heimkehr nach Nigeria im Jahr 1998 erzählt. Amos Elon
analysiert die Möglichkeiten eines
einseitigen Abzugs Israels aus den besetzten palästinensischen Gebieten unter Ehud Olmert.
Spectator, 12.06.2006
Peter Oborne
berichtet aus
Darfur. "Als wir das Schlachtfeld erreichten, sahen wir, dass die Leichen hastig in Massengräbern verscharrt worden waren. Ein Arm reckte sich unter einem Busch hervor, das Fleisch war von wilden Tieren abgenagt worden. Ein menschlicher Fuß wuchs aus einem anderen Grab empor.
Ausgetrocknete Blutpfützen bedeckten den Boden. Der Gestank von verwesenden Menschen durchdrang die Luft. Stücke und Fetzen von Kleidung, Patronenhülsen und die
Schutzamulette afrikanischer Kämpfer waren über den Boden verstreut. Ein Körper war noch nicht vergraben. Der tote Mann war offenbar auf einen Baum geklettert, um seinen Angreifern zu entkommen, war aber aus seinem Versteck
heruntergeschossen worden."
Foglio, 10.06.2006
Der
Golf GTI war zumindest soziologisch der Vorläufer der heute umstrittenen SUVs,
behauptet Maurizio Crippa, und nebenbei ein perfektes
Abbild der Achtziger. "Wenn die Autos einen Geist haben, dann ist er wohl böse, dämonisch. Es steckt ein Feind in ihnen, ein Mann, wie in '
Christine' von Stephen King 1983. Christine war vielleicht ein
Plymouth Fury von 1958, sein verfluchter Geist aber deckte die Abgründe unter dem Jahrzehnt des GT und all den aufgemotzten, turbogeladenen und
aufgebohrten Motoren auf. Das hörte 1989 auf, bekanntermaßen das Jahr des Heils. Der Golf, besonders der
GTI, der schwarze - und wir sprechen nicht von jenen mit der
Hasenpfote hinten drin - war agressiv, fordernd, laut."
Nepszabadsag, 10.06.2006

Nach umfangreicher Renovierung wurde in Budapest das legendäre
Kaffeehaus New York, eines der wichtigsten literarischen Kaffeehäuser der
Donaumonarchie wiedereröffnet. Die neuen italienischen Eigentümer haben den literarischen
Geist tot saniert,
stellt der Schriftsteller
Ivan Bächer enttäuscht fest: "An der Wand steht eine Kiste aus Panzerglas, in der einige Dutzend schöne alte Bücher hermetisch verschlossen sind. Ein Buchtresor. Bei der Eröffnungsfeier von 1895 warf der Bühnenautor Ferenc Molnar den
Schlüssel in die Donau, damit diese glanzvolle Institution nie wieder geschlossen wird. Nach der Wiedereröffnung sollte man vielleicht den Schlüssel der Panzerglaskiste vorsichtshalber in die Donau werfen, damit niemand auf die Idee kommt, in diesen Räumen in einem Buch zu blättern." (
Hier und
hier zwei historische Aufnahmen.
Hier,
hier und
hier Fotos vom frisch renovierten Kaffeehaus.)
IWIW, das größte ungarische Online-Netzwerk hat bereits
750.000 Nutzer, die Nutzerzahlen haben sich in einem halben Jahr verdreifacht. Viktor Kiss hat eine
Theorie , warum das so ist. "IWIW ist ein virtueller Raum, in dem sich die nebeneinander, jedoch
isoliert lebenden Menschen zufällig begegnen, um sich
schnell eine Geschichte zu erzählen."
Folio, 06.06.2006

Was ist nur aus dem
Mittagessen geworden? Ein Sandwich, dass im Gehen verzehrt wird, stellt Folio betrübt in dieser Ausgabe fest. Aber es gibt Ausnahmen:
Stephan Israel
besuchte den Koch der EU-Kommission:
Michel Addons. "Heute gibt es Hummerschwänze auf Frühlingsrolle mit Ingwer und Austernsauce. Als Hauptspeise ist
Kalbsbries mit grünem Spargel aus der Provence und neuen Kartoffeln vorgesehen. Zum Dessert werden Erdbeeren auf Creme brulee serviert. Zu Gast sind wie immer einmal im Jahr die gefürchteten
Rechnungsprüfer aus Luxemburg."
Der italienische Schriftsteller
Andrea Camilleri bedauert jeden, der einen Hamburger auf der Straße verzehren muss. Er erinnert sich, wie seine Großmutter mittags kochte. "Als
Primo gab es meistens Pasta, gratiniert oder mit Fleischsauce, manchmal auch Melanzane alla parmigiana. Als
Secondo Geflügel, Lamm oder Fisch, dann Käse und Wurstwaren. So ein Mittagessen dauerte natürlich seine Zeit.
Vor vier Uhr ging keiner zur Arbeit."
Weitere Artikel: Der
Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber
beschreibt die
Veränderungen, die das Mittagessen im Laufe der Jahrhunderte erfuhr. Gudrun Sachse
untersucht Knastkost. Philippe Stern, Direktor der Uhrenfirma Patek Philippe,
trauert dem Niedergang des mehrstündigen
Businesslunch nicht hinterher. Stephan Sigrist
beschreibt die Auswirkungen der
Bio- und Nanotechnologie auf unser Essen. Hanspeter Künzler hat den
11. Earl of Sandwich getroffen, dessen Vorfahr das Sandwich erfand. Norbert Wild
widmet sich Fast-Food-Verpackungen. Und Franz Hohler
feiert die anregende Wirkung eines
Mittagsschläfchens.
In der Duftnote
staunt Luca Turin über neue Sommerparfums: "so erbärmlich, dass sie fast schon
neue Maßstäbe setzen".