Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.11.2006. The New Republic bedauert seine Unterstützung des Irakkriegs. Im New Yorker versucht Seymour Hersh herauszubekommen, ob eine Bombardierung des Iran ansteht. Die Weltwoche zitiert jubelnde Taliban. Wenigstens die Kolumbianer scheinen die Nase voll vom Töten zu haben, glaubt der Schriftsteller Hector Abad Faciolince in Semana. Prospect weiß, was England glücklich machen würde: die Unabhängigkeit Schottlands. Die New York Review of Books porträtiert den vielleicht nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten: Barack Obama. Im NRC Handelsblad ruft Jonathan Israel: Erinnert euch an Spinoza! Elet es Irodalom porträtiert die Ungarn als waschechte Demokraten. Die New York Times sieht das politische Ende der Babyboomer nahen.

New Republic (USA), 27.11.2006

The New Republic beugt das Knie und bekennt im Editorial: "Wir bedauern es zutiefst, den Krieg gegen den Irak unterstützt zu haben. Die letzten drei Jahre haben unseren Idealismus beschwert und uns an die Grenzen der Macht Amerikas und unserer eigenen Weisheit erinnert."

Wie aber soll es jetzt weitergehen im Irak? 14 Strategen, Historiker, Politiker, Politologen und Journalisten wurden um ihre Meinung gebeten. Einige dürfen wir online lesen. Sie sind geprägt von Bitterkeit, Zynismus und Verzweiflung.

Peter Beinart "kann sich den Irak nicht mal mehr vorstellen. Er übersteigt meine Fähigkeit, mir Horror auszumalen. In einem Interview mit Anthony Shadid von der Washington Post beschrieb eine Frau namens Fatima es so: 'Ein Drittel von uns stirbt, ein Drittel flieht und ein Drittel wird zu Witwen.' Im Leichenschauhaus von Bagdad unterscheiden sie Schiiten von Sunniten, weil erstere geköpft sind und letztere mit einer Bohrmaschine getötet wurden. Moqtada Al Sadr fürchtet sich inzwischen vor seinen eigenen Männern. Ich bin erwachsen geworden mit der Vorstellung, die Vereinigten Staaten hätten die Mission, solche Schändlichkeiten zu beenden. Und jetzt können die Vereinigten Staaten sie nicht nur nicht stoppen, sie sind der Grund dafür." Für Beinhart gibt es nur eine letzte Karte, die die USA ausspielen kann: "Die Drohung den Irak sofort zu verlassen. Ausgenommen Sadr will das kein irakischer Politiker. Wir müssen diese Drohung so dramatisch wie möglich aussprechen, und wenn die irakischen Führer darauf nicht reagieren, so schnell wie menschenmöglich abziehen."

Außerdem: Leon Wieseltier will alles, nur keinen Rückzug: "Eine Erhöhung der Truppenstärke... eine Reform des irakischen Militärs..., ein föderales Arrangement... eine internationale Konferenz... einen Versuch, Syrien auf unsere Seite zu ziehen... einfach alles." Martin Peretz, Chefredakteur des New Republic, ist so bitter, dass er überhaupt keine Lösung mehr sieht. Für Lawrence F. Kaplan gilt dasselbe. Reza Aslan heckt einen komplizierten Plan aus, der Amerikaner, nationalistische Rebellen, Syrer und Iraner miteinschließt. Niall Ferguson fordert: "Mehr Geld, alte Eliten (er erwähnt Gertrude Bell als Vorbild) plus die Vereinten Nationen. Es ist ein Rezept, dass einen Neocon zum Heulen bringt. Andererseits sollten die Neocons längst heulen."

James Kurth ist für einen Rückzug. Aber nicht sofort: "Bevor es den Irak verlässt, muss Amerika einen dramatischen und entscheidenden Sieg über die sunnitischen Rebellen erringen - einen Sieg, der die untragbaren Kosten und vollkommene Vergeblichkeit des islamistischen Traums von einer muslimischen Unna unter der Herrschaft eines globalen Sunni-Kaliphats demonstriert. Der Sieg muss mehr als ein militärischer sein; er muss auch politisch sein: Die Vereinigten Staaten sollten den Irak in zwei Teile spalten, den Kurden die Kontrolle über den Norden lassen und den Schiiten die Kontrolle über den Süden - und die Sunniten staatenlos dazwischen."
Archiv: New Republic

New Yorker (USA), 27.11.2006

Unter der Überschrift "Der nächste Akt" widmet sich Seymour M. Hersh der spannenden Frage, ob die geschwächte Regierung Bush den Iran bombardieren wird oder nicht. Und wenn ja, wie wollen sie es begründen? Laut einem Bericht der CIA gibt es keinerlei Beweise für ein militärisches Nuklearprogramm des Iran. Die US-Regierung lehnt diese Studie ab. Hersh schreibt: "Die Analyse der CIA, die auch in anderen Nachrichtendiensten zu einer Stellungnahme zirkulierte, basiert auf technischen Daten von Überwachungssatelliten und anderem empirischen Material wie Radioaktivitätsmessungen von Wasserproben und der Emissionen von Fabriken und Kraftwerken. Zusätzliche Daten wurden, wie mir Geheimdienstquellen berichteten, von High-Tech-Geräten zur Ermittlung der Radioaktivität gesammelt, die amerikanische und israelische Geheimagenten im letzten Jahr in der Nähe verdächtiger Nuklearwaffeneinrichtungen im Iran installiert hatten. Es wurde keinerlei signifikante Erhöhung von Radioaktivität gefunden."

Weiteres: "Unvollkommen nicht im Sinne von 'ambitioniert, aber fehlerhaft', sondern unvollkommen im Sinne von 'Was hat er sich dabei gedacht?'" findet Louis Menand den neuen Roman von Thomas Pynchon "Against the Day". Peter Schjeldahl führt durch eine Ausstellung mit Arbeiten der Künstlerin Kiki Smith im Whitney Museum. Und David Denby sah im Kino "Bobby" von Emilio Estevez und "Fast Food Nation" von Richard Linklater, über die er meint, es sei ja schön, dass "die Liberalen mal ab und zu eine Wahl gewinnen, aber ich bin nicht sicher, ob man ihnen erlauben sollte, Filme zu machen"; etwas unglaubwürdig findet er die Verfilmung von Alan Bennets Theaterstücks "The History Boys" durch Nicholas Hytner. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Confidence Decoy" von Ann Beattie.

Nur im Print: ein Porträt des amerikanischen Journalisten und Herausgebers eines bekannten politischen Newsletters I.F. Stone und Lyrik.
Archiv: New Yorker

Weltwoche (Schweiz), 16.11.2006

Die Taliban sind dabei, Afghanistan zurückzuerobern. Sami Yousafzai und Urs Gehriger haben sich mit dem Kader Mullah Sabir getroffen, der im Interview frohlockt: "Schauen Sie sich die Nachrichten an. Halb Afghanistan ist wieder unter unserer Macht. Wir sind bis vor die Tore Kabuls vorgedrungen. Präsident Hamid Karzai ist gefangen in seinem Palast. Zwar fliegt er dauernd in der Welt herum und hausiert bei den Mächtigen des Westens. Doch in seinem eigenen Land traut er sich nicht einmal auf Kondolenztour. Sie können sich vorstellen, dass bei unserem Treffen der 33 Taliban-Chefs alles andere als Grabesstimmung herrschte."

Dazu veröffentlicht die Weltwoche den neuen Kodex für die Taliban, der offenbar den allzu lockeren Sitten unter den Gotteskrieger Einhalt gebieten soll: "...17) Mudschaheddin haben kein Recht, Geld oder persönlichen Besitz von Zivilisten zu konfiszieren. 18) Mudschaheddin sollten das Rauchen von Zigaretten unterlassen. 19) Mudschaheddin ist es nicht erlaubt, Jünglinge ohne Bartwuchs auf das Schlachtfeld oder in ihre Privatgemächer mitzunehmen."

Weiteres: Hanspeter Born rekapituliert, wie Donald Rumsfeld im Irak scheiterte. Philipp Gut bezweifelt, dass mehr Kinderkrippen zu mehr Nachwuchs führen und die Erwerbsquote von Müttern steigern würden. Markus Somm stellt den Schweizer Politiker und "neoliberalen Sanguiniker" Pascal Couchepin vor. Und Daniela Niederberger unterhält sich mit der Blick-Sexkolumnistin Eliane Schweitzer.
Archiv: Weltwoche

Semana (Kolumbien), 18.11.2006

Hoffnung für Kolumbien? Aussicht auf Besserung der seit Jahrzehnten ausweglos verfahrenen Verhältnisse in seinem Heimatland glaubt der kolumbianische Schriftsteller Hector Abad Faciolince (mehr hier und hier) zu erkennen: "Im Moment gibt es weniger Tote in Kolumbien. Die Zeit der schlimmsten Massaker scheint fürs erste vorbei. Sollten wir für einige Monate, vielleicht Jahre die Gewohnheit, uns gegenseitig abzuschlachten, verlieren, wird es nicht so einfach sein, damit einfach wieder anzufangen. Die Demobilisierung der paramilitärischen Gruppen entfaltet eine positive Dynamik, die wir unbedingt nutzen sollten."

Einen wichtigen Beitrag dazu hat Abad mit der Biografie seines vor 19 Jahren in Medellin ermordeten Vaters, eines bekannten Arztes und Sozialpolitikers, selbst geleistet. "Darin wollte ich etwas von großer Schönheit erzählen: die Geschichte der Opfer." Von entscheidender Bedeutung ist dabei für Abad nicht, "dass die Paramilitärs für 25 Jahre hinter Gittern verschwinden oder dass man sie allesamt laufen lässt: Wichtig ist, dass die Wahrheit erzählt wird. Sie allein verspricht Gerechtigkeit: Ich möchte, dass man weiß, wer geschossen hat, wer den Befehl dazu gab, wer die Täter waren, ob sie noch leben, wie sie es gemacht haben und warum."

Endlich wieder zu Hause in Kolumbien angekommen ist Shakira mit ihrer neuen CD "Fijacion oral".
Archiv: Semana
Stichwörter: Abad, Hector, Kolumbien, Shakira

Prospect (UK), 01.12.2006

Der ehemalige Tory-Abgeordnete Michael Fry sieht für Schottland nur noch einen Ausweg: die Unabhängigkeit. "Ich bin mir sicher, dass Unabhängigkeit die Schotten glücklicher machen würde. Es ist nämlich eine Schande, dass so viele Schotten aufgrund ihrer untergeordneten Stellung innerhalb der Union meinen, sie müssten die Engländer hassen, und dass dieses Gefühl demzufolge südlich der Grenze erwidert wird. Doch ich glaube, dass die schottische Unabhängigkeit auch für die Briten eine Befreiung darstellen könnte - indem sie es England ermöglicht, seine wirkliche Größe zu ermessen, anstatt in einen Vergrößerungspiegel zu schauen, der seine letzten imperialen Fantasien wiederspiegelt." Die meisten Engländer machten bereit das beste aus ihrem Status als erfolgreiche Mittelmacht.

Weitere Artikel: John Keegan und Bartle Bull bewegt eine formale Frage: Handelt es sich bei den Gefechten im Irak tatsächlich um einen Bürgerkrieg? Denis Macshane vergleicht zwei Bücher zum Irakkrieg: Während er Bob Woodwards "State of Denial: Bush at War, Part III" als provinziell und aufgeblasen abtut, räumt Patrick Cockburns "The Occupation: War and Resistance in Iraq" alle Lorbeeren ab. Andrew Billen gerät völlig aus dem Häuschen über Peter Morgans Dokudramen (zuletzt "The Queen") über die aktuelle britische Politik, in denen Großbritanniens politische Führung sehr menschlich dargestellt werde und dem Zuschauer buchstäblich ans Herz wachse. Und schließlich erinnert Lara Feigel uns Geruchsmuffel an die Lust am Riechen.
Archiv: Prospect

New York Review of Books (USA), 30.11.2006

Michael Tomasky hat "The Audacity of Hope", das neue Buch von Barack Obama gelesen. Obama ist demokratischer Senator von Illinois und der erste schwarze Politiker, dem zugetraut wird, dass er Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte. Obama passt weder in ein Links- noch in ein Rechtsschema. Ob das nun eine Stärke oder Schwäche ist, muss sich noch zeigen, schreibt Tomasky. "Als einziger zeitgenössischer Politiker hat Obama ein großes Potential bewiesen, das gegenwärtige rot-blaue Patt aufzubrechen und eine neue Politik zu konstruieren, die fortschrittlich ist, aber auf bürgerlichen Tugenden gründet, die einen viel größeren Teil der amerikanischen Gesellschaft ansprechen als das jetzige Amalgam demokratischer Wähler. Er muss mehr Mut zeigen. Nicht nur seine Hoffnungen, auch seine Taten brauchen mehr Verwegenheit. Er muss seine bürgerlichen Überzeugungen an handfeste Vorschläge heften - darüber, was im Irak zu tun sei, wie die Energiepolitik neu formuliert werden könnte, wie Freiheit und Sicherheit ausbalanciert werden könnte - um uns ganz konkret zu zeigen, wie das Amerika, das er sich vorstellt, aussehen könnte. Wenn Barack Obama das kann, dann ist 'Phänomen' das richtige Wort für ihn."

Weiteres: John Updike preist Robert Polidoris New-Orleans-Fotoband "After the Flood". Besprochen werden neueste Bücher zum Kampf gegen den Terror, Gore Vidals Erinnerungen "Point to Point Navigation", zwei Essay-Bände von Doris Lessing und Sofia Coppolas Film "Marie Antoinette".

Gazeta Wyborcza (Polen), 18.11.2006

In der Wochenendausgabe drehte sich (fast) alles um Wirtschaft und Globalisierung. Im Interview erklärt der in den USA lehrende französische Soziologe Loic Wacquant, warum "Law & Order"-Strategien so viel Zuspruch finden (auch in Polen): "Programme wie 'Null Toleranz' in Amerika führen zur Kriminalisierung von sozialen Problemen. Man hat der linken, helfenden Hand des Staates die Instrumente aus der Hand genommen, und sie der rechten gegeben, der strafenden. Durch 'Null Toleranz' wird Sicherheit auf Kriminalitätsbekämpfung reduziert. So werden die wahren Probleme verdeckt: die soziale Degradierung in Folge der neoliberalen Revolution. Im übrigen waren es der Wirtschaftsboom und der geringere Anteil der jungen Bevölkerung, die Anfang der 90-er die Kriminalitätsrate reduzieren halfen, und nicht repressive Massnahmen a la Rudolfo Giuliani."

Gewohnt skeptisch gibt sich in seinem neuen Buch der Soziologe Zygmunt Bauman, schreibt Adam Leszczynski. "Das Buch 'Arbeit, Konsumdenken und die neuen Armen' liest sich wie eine lange Antwort auf die Frage: Ist soziale Gerechtigkeit in Zeiten des postmodernen Spätkapitalismus möglich? Bauman beantwortet sie klar mit 'Nein'!". Für Bauman habe die Linke ideologisch kapituliert, ein Gegenentwurf zum Konsumdenken zeichne sich nicht ab, jedenfalls nicht im Westen. "Man kann die Arbeit auch religiös lesen", meint Leszczynski, "wie die Geschichte des Sündenfalls, beschrieben in der Sprache der Soziologie".
Archiv: Gazeta Wyborcza

Guardian (UK), 18.11.2006

Panisch nimmt der Krimiautor Ian Rankin das Erscheinen von Thomas Pynchons neuem Roman "Against the Day" auf: "Das ist ein Grund zur Verzweiflung. Es bedeutet, dass ich einmal mehr in das schattenhafte, verschwörerische Theater des Absurden von Pynchons Imagination zu versinken drohe. Es ist ein Ort, der schon den normalen Leser fesselt und hypnotisiert, den wahren Fan aber noch viel stärker in den Bann zieht. Meine Frau und meine Kinder würden mich aus den Augen verlieren, solange ich das Buch läse. Danach wäre ich traumatisiert und würde mit aufgerissenen Augen überall Zeichen einer anderen Welt sehen, die unserer Welt ähnelt, aber doch viel dunkler, sonderbarer ist - und lustiger."

Der Komponist Christopher Fox preist sein Idol Morton Feldman, dessen Musik völlig zu Recht das derzeitige Huddersfield Contemporary Music Festival dominiere. Aida Edemariam stellt die Autorin Claire Tomalin vor, die sich mit ihren bahnbrechenden Biografien von Samuel Pepys, Jane Austen und Thomas Hardy selbst zur beachtlichen Schriftstellerin entwickelt hat. Zum Buch der Woche kürt Andrew Motion Zachary Leaders Biografie "The Life of Kingsley Amis".
Archiv: Guardian

NRC Handelsblad (Niederlande), 15.11.2006

Erinnert Euch an Spinoza! In dem Essay "Glaubensfreiheit versus Gedankenfreiheit" (englische Version) rät der britische Historiker Jonathan Israel den Niederländern im allgemeinen und Ian Buruma im besonderen, sich auf ihr philosophisches Erbe zu besinnen. Weil in Politik und Medien Begriffe wie "Aufklärung", "Werte der Aufklärung" und "Aufklärungsfundamentalisten" immer gedankenloser benutzt würden, solle man genau hinsehen. Denn: "Wir müssen heute noch strikter als bisher die Idee ablehnen, dass Glaubensführer gleich welcher Art Einfluss auf den Kurs von Gesellschaft, Gesetzgebung oder Politik nehmen können. Aus Sicherheitsgründen müssen theologische Kriterien und Dogmen auf allen Ebenen von juristischen und konstitutionellen Prozessen und Institutionen getrennt werden. Gleichgültig wie frei es Individuen auch stehen mag - und frei stehen muss - zu glauben was sie wollen, dürfen niemandes religiöse Gefühle oder theologische Kriterien eine bedeutende Rolle in der heutigen Politik und Kultur spielen. Vorstellungen nachzugeben, die in religiösen Empfindlichkeiten das höchste Gut im Zusammenleben sehen, ist der direkte Weg in eine politische und soziale Katastrophe."
Archiv: NRC Handelsblad
Stichwörter: Buruma, Ian, Israel, Jonathan

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.11.2006

Der Medienexperte Janos Szeky meint, die Unruhen und die Demonstrationswelle zeigen, dass der Systemwechsel abgeschlossen und Ungarn endgültig in Westeuropa angekommen ist. "Nach siebzehn Jahren schüttelt sich das Land und stellt verwundert fest, dass die ungarische Gesellschaft nicht mehr hauptsächlich aus Kleinbürgern besteht, die Samstag nachmittags pingelig ihren sauerkirschroten Lada waschen und danach riesige Mengen von Wiener Schnitzeln verschlingen, sondern dass wir inzwischen den normalen Ländern der westlichen Welt gleichen: Auch bei uns randaliert manchmal der aufmüpfigere Teil der Jugend auf der Straße, auch bei uns ist ein Teil der Bevölkerung stillschweigend damit einverstanden, während der andere Teil schockiert reagiert. Auch in unserer Gesellschaft gibt es Gegensätze zwischen Ethnien, Rassen und Religionen, und auch bei uns ist die Verfassung nicht dazu da, diese Gegensätze totzuschweigen, sondern sie zu regeln. Auch bei uns kommt es zu Ausschreitungen der Polizei, wenn sie glaubt, es guckt gerade keiner. Auch bei uns weiß jeder, dass Politiker nicht fehlerlos sind. Auch unsere Politiker versuchen deshalb, die Details der Details in einen möglichst dichten Nebel zu hüllen." Kurz: die Ungarn sind jetzt waschechte Demokraten.

al-Sharq al-Awsat (Saudi Arabien / Vereinigtes Königreich), 15.11.2006

"Eine Kultur in zwei Sprachen" - so charakterisiert der irakisch-kurdische Minister für Kultur im Irak, Falak-Addin Kakayee, das kulturelle Verhältnis von Kurden und Arabern. Im Gespräch mit Ali Mandalawi, selbst ein irakisch-kurdischer Künstler, beschreibt Kakayee die Herausforderungen, vor denen das Land steht: "Unser Land ist zerstört, wir stehen erst am Beginn einer Renaissance der kurdischen Kultur... In der Vergangenheit haben unsere Künstler und Autoren so gewirkt, wie es ihnen unter den schwierigen Bedingungen und der strengen Zensur des damaligen Regimes gerade möglich war. Heute handeln sie in aller Freiheit." Der Föderalismus ist für Kakayee ein Weg, diese Freiheit für alle durchzusetzen: "Ich denke, dass viele von unseren irakischen Brüdern, die den Föderalismus heute ablehnen, ihn morgen verteidigen werden, dann nämlich, wenn ein demokratischer Föderalismus auf der Grundlage eines nationalen Kompromisses verwirklicht ist."

Eine kürzlich im Damaszener Qadmus-Verlag erschienene Studie des Berliner Nahosthistorikers Gerhard Höpp ist Gegenstand einer Rezension von Samir Shams. Es geht um die arabischen Opfer der Nazis. Höpp, der bis zu seinem Tod im Dezember 2003 am Berliner Zentrum Moderner Orient tätig war, leitete ein Forschungsprojekt, welches sich im weiteren Sinne mit arabischen Begegnungen mit dem Nationalsozialismus beschäftigte. Seine Erkenntnis, dass Araber und Muslime keiner systematischen Verfolgung ausgesetzt waren, sondern aus Gründen, die nicht unmittelbar mit ihrer arabischen Herkunft oder ihrem islamischen Glauben zu tun hatten, inhaftiert wurden, fällt in dieser Rezension unter den Tisch: "Die Araber waren genauso wie die anderen Internierten in den nationalsozialistischen Lagern Folter, Repressionen, Hunger und Tod ausgesetzt, wurden aber - trotz ihrer nicht geringen Zahl, die man mit denen anderer Nationen vergleichen kann - vergessen", schreibt Shams. Alle Opfer, so der Tenor seiner Besprechung, waren gleich.

Economist (UK), 17.11.2006

Welchen Platz in der Welt nimmt Deutschland sechzehn Jahre nach der Wiedervereinigung ein, fragt der Economist. "Deutschland, so Volker Perthes, der Leiter des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit (SWP), steht jetzt ziemlich genau da, wo es hingehört: in der Mitte. Ob es will oder nicht, das Land ist eine Mittelmacht. Es ist keine Supermacht, die ihren Einfluss geltend machen kann, aber es ist sehr wohl in der Lage, in jenen Fällen Verantwortung zu übernehmen, bei denen es etwas beitragen kann." Diese Einschätzung hält der Economist allerdings für ein wenig vorschnell: "Seit der Wiedervereinigung ist Deutschland seinem Ziel, seinen Platz in der Welt zu finden, einen großen Schritt näher gekommen, die Hürde der Geschichte aber hat es noch nicht überwunden."

Weitere Artikel: Zuversichtlich stimmt den Economist die Lektüre einiger Bücher zum Thema Innovation und Unternehmergeist. Anlässlich der Ankündigung, die muslimische Ismaili-Sekte werde in Ottawa ein Forschungszentrum für Multikulturalismus gründen, fragt der Economist, wie weit es noch her ist mit der kanadischen Aufgeschlossenheit gegenüber fremden Kulturen. "Sorry seems to be the hardest word" - Algerien muss weiterhin auf eine Entschuldigung seiner ehemaligen Kolonialmacht Frankreich warten, berichtet der Economist anlässlich des Amtsbesuchs von Innenminister Nicolas Sarkozy. Und im Nachruf auf den mit allen Wassern gewaschenen ehemaligen DDR-Spionagechef Markus Wolf will der Economist nicht so recht an das Schaf im Wolfspelz glauben.
Archiv: Economist

Journal Culinaire (Deutschland), 20.11.2006

Band 3 der Halbjahresschrift des Stuttgarter Stern- und Fernsehkochs Vincent Klink hat diesmal den kleinen Themenschwerpunkt "Globalisierung des Essens". Online ist allerdings ein Beitrag aus der Rubrik Forum. Darin macht sich die Schriftstellerin und Kulturjournalistin Elke Schmitter in einem Essay auf die Suche nach dem "Ur-Meter des Geschmacks" und denkt über das "Gedächtnis des Magens" nach. "Memory makes it all. Bei dem, was wir essen und wie es schmeckt, ist das Gedächtnis ein wesentlicher Faktor. Wir wollen immer wieder an das erinnert werden, was wir ursprünglich aßen. Und wir wollen uns immer wieder fühlen wie damals. Beim Geschmack wirkt wie beim Gehör die Erinnerung als Gütesiegel schlechthin. Die alten Lieder sind eben die alten Lieder, und selbst wer sie damals scheiße fand, wird doch sentimental, wenn sie im Autoradio laufen."

Nur im Print: unter anderem eine gründliche wissenschaftliche Abrechnung mit esoterischem Unfug rund ums Wasser, ein Plädoyer für die Revision der Restaurantkritik und eine Besprechung des genialen Buchs "Heat. An Amateur?s Adventures as Kitchen Slave, Line Cook, Pasta-Maker and Apprentice to a Dante quoting Butcher in Tuscany" von Bill Buford, das nächstes Jahr auch auf Deutsch erscheinen wird. (Hier ein Auszug aus dem New Yorker.)

Times Literary Supplement (UK), 17.11.2006

Ausgesprochen lehrreich findet Ferdinand Mount Lawrence James' Geschichte der Mittelklasse in England "The Middle Class", die sich schon unter Heinrich VIII. durch die besondere Herablassung auszeichnete, mit der sie auf "Emporkömmlinge" blickte. Außerdem hat Mount erfahren, dass die psychischen Folgen des sozialen Aufstiegs sehr früh erkannt wurden: "Ein Priester aus dem späten 14. Jahrhundert etwa beklagte das häufige Auftreten des Burn-outs unter Yuppies. 'Diese jungen Männer exponieren sich im Abenteuer ihres Lebens, erleiden viele Unbill, viele gefahren an Land und auf See. Am Tage sind sie so gequält, dass sie in der Nacht keine Ruhe finden, sie haben Träume im Übermaß und wachen häufig auf.' Viele Schuldner wählten eher den Selbstmord als die Demütigung, ruinierte Bauern brachten sich bei einer Missernte in den 1880er Jahren ebenso um wie während der Maul-und-Klauen-Seuche am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Beobachter vom Kontinent machten für die hohe Selbstmordrate in Großbritannien schon im 19. Jahrhundert eine übertriebene Freiheit und Erwartung an das Leben verantwortlich - in anderen Worten: das angelsächsische Modell."

Weiteres: In seiner Besprechung von Clive James' tragikomischen Erinnerungen "North Face of Soho" konstatiert Christopher Hitchens, dass die siebziger Jahre in London weitaus weniger komisch gewesen wären, wenn James sich nicht so bereitwillig lächerlich gemacht hätte, etwa durch Projekte, "mit denen er doppelt so viel Wirkung entfalten könnte wie die italienische Renaissance und dabei gleichzeitig Robbenbabies im Regenwald retten". Zu lesen ist auch Alan Hollinghursts Vorlesung über Ronald Firbank, einen der "brillantesten" Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts.

Monde des livres (Frankreich), 16.11.2006

In einem Exklusivinterview erklärt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Littell, der mit seinem Roman "Les Bienveillantes" in Frankreich einen Sensationserfolg landete und dafür mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, dass es Zeit brauche, dieses Phänomen zu erklären. Der zuständige Programmdirektor von Gallimard, Pierre Nora, habe gemeint, dass dies derzeit weder der Verleger noch der Autor könnten, sondern allenfalls ein Historiker. Littell selbst sagt: "Wir haben viel diskutiert und keine Antwort gefunden. Es haben sich allerdings zwei Hypothesen ergeben. Die erste bezieht sich auf den Nazismus und das Verhältnis der Franzosen zu dieser Epoche. Die zweite hat mehr etwas mit der Literatur zu tun. Gallimard konstatiert schon seit einigen Jahren eine Nachfrage nach dicken, romanhafteren und sehr konstruierten Büchern. Es braucht auf jeden Fall Zeit und ein bisschen Abstand, um diesen Erfolg zu erklären. Warten wir beispielsweise einmal ab, wie das Buch in Israel, den Vereinigten Staaten und Deutschland aufgenommen wird. Das wird uns vielleicht erklären, was da in Frankreich passiert ist."

New York Times (USA), 19.11.2006

Die Ära der Babyboomer - mit ihren Kulturkämpfen und ihren Extremen zwischen starkem Staat und keinem Staat - nähert sich ihrem Ende, meint Matt Bai im Magazin der New York Times. "Die Meinungsführer in Washington beschreiben die Wahlen immer noch als eine Reihe von Wellen, die abwechselnd die Befürworter des Roten Teams und des Blauen Teams an die Macht schwemmen; nach dieser Theorie kam erst die Woge der Republikaner vor 12 Jahren und jetzt kommt die demokratische Gegenwelle. Tatsächlich aber könnten die Wellen Teil derselben seismografischen Störung sein: der wachsenden Frustration der Wähler mit der Washingtoner Meute beider Parteien, die in den ideologischen Debatten des Jahres 1975 festzustecken scheinen, während der Rest des Landes mächtig mit den Wirtschaftskrisen und politischen Bedrohungen des Jahres 2006 kämpft." Das, so Bai, könnte einen jüngeren Kandidaten an die Macht bringen, der Distanz zum Establishment beider Parteien hält - jemanden wie Barack Obama.

Weitere Artikel: James Traub beschreibt das chinesische Abenteuer in Afrika. Charles McGrath porträtiert den irischen Lyriker Paul Muldoon, der nebenberuflich für eine Rockband textet: "I?m through with hitting the sake / With Kenzo and Miyake / I?m done with Valpol and polenta / With Oscar de la Renta..." John Bowe zeigt im Aufmacher, wie homosexuelle Männer und Frauen die Familie neu definieren. Und Chandler Burr besucht den Parfümeur Christophe Laudamiel, der Süskinds "Das Parfum" "beduftet" hat..
Archiv: New York Times