Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
05.12.2006. Folio sucht Freiheit - in China, Russland, Arabien und dem Knast. Nepszabadsag verneigt sich vor Monstern in Röcken und stolzen Feen - und Magda Szabo, die beide beschrieben hat. In der Gazeta Wyborcza erklärt Dorota Maslowska: Drama ist wie Mathe. Das TLS liest Thomas Pynchons neuen Roman als Protest gegen das Ausgelöschtsein. In du erklärt Felicitas Hoppe angesichts einer bevorstehenden Äquatortaufe: Ich kann nicht schwimmen. Wired überlegt, wie man Whiskas neben explodierenden Katzen verkauft. Reportajes warnt vor einem tropischen Beria auf Kuba. In der Weltwoche fragt Leon de Winter fassungslos, wie die satten Niederländer eine maoistische Partei zur drittstärksten politischen Kraft wählen konnten. In Elet es Irodalom feiert Laszlo Földenyi die auratischen Gemälde des Attila Szücs. Die New York Times empfiehlt allen Schlapphüten: Entwickelt Schwarmintelligenz!

Folio (Schweiz), 04.12.2006

Folio beschäftigt sich in seiner neuen Ausgabe mit dem Verständnis von Freiheit. Ulrich Schmid kritisiert die Bewunderung mancher Westeuropäer für die "neuen Freiheiten" in Russland und China. "Freiheit, wohin man schaut: Wer will, raucht im Restaurant, wer will, fährt mit dem Auto übers Trottoir, wenn die Straßen verstopft sind, und wer nachts um drei bei der Metrostation Bier und Hamburger kaufen will: bitte. Im Wohnblock im Stadtteil Otradnoje, in dem ich wohne, wenn ich in Moskau bin, kann jeder so lange und so laut Musik hören, wie er will, niemand ruft die Polizei. Als mich Moskauer Freunde in Washington besuchten, waren sie entsetzt über die vielen Verbote und über die Beflissenheit, mit der sie befolgt wurden." Man kann das aber auch ganz anders sehen: "'Ist dir aufgefallen, dass russische Polizisten und Soldaten im Dienst rauchen?' fragt Lena, eine Moskauer Freundin. 'Das ist sie, unsere neue russische Freiheit: mies, selbstsüchtig, stinkend.'"

In der arabischen Welt wächst der Freiheitsdrang der Frauen. Und sie machen Fortschritte - wenn auch nicht immer aus den feinsten Gründen, wie Anja Jardine erfahren hat. "'Kennen Sie den?' fragt der Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen; er heißt Gaffah, ist Inder und seit 30 Jahren in Kuwait. 'Ein Wissenschafter kommt vor der Invasion zum ersten Mal nach Kuwait und bemerkt, dass die Frauen auf der Straße grundsätzlich hinter ihren Männern herlaufen. Als er nach der Befreiung zurückkehrt, ist er überrascht, zu sehen, dass die Frauen nun vor ihren Männern gehen. 'Der Status der Frau hat sich in kurzer Zeit enorm verbessert', sagt er freudig zu einem Kuwaiter, 'was hat diesen Fortschritt bewirkt?' - 'Landminen', antwortet der Mann.' Und Gaffah will sich totlachen."

Weitere Artikel: Daniel Weber interviewt Wim Wenders, den "großen Regisseur der Sehnsucht nach Freiheit". David Hesse untersucht, was Freiheit von liberte, Saoirse, zi you und liberty unterscheidet. Michael Mirsch fragt sich, ob Zootiere Gefangene oder Luxusrentner sind. Eher letzteres, glaubt er: "Es ist ein Irrglaube, Wildtiere lebten stressfrei und glücklich". Und Till Rather erzählt von der "mönchischen Freiheit" eines modernen Vaters.

Luca Turin stellt in der "Duftnote" so genannte "Nischenparfüms" vor, "kühne, poppige und trügerisch einfache" Parfüms, die nicht zum Mainstream passen und von kleinen Marken wie L'Artisan kreiert werden. "Man sollte nie die französische Fähigkeit zum Raffinement unterschätzen: Von Debussy bis zur Nouvelle Cuisine sind die Franzosen in Hinblick auf frische, knappe, subtile Schönheit schlicht unübertroffen. Es gibt kein Parfum, das dies besser veranschaulichte, als Duchaufours sensationelles 'Timbuktu' (2004). Es ist ein Vetiver (mehr) wie kein anderes, mit der kühlen, rosigen Ausstrahlung der Morgendämmerung."
Archiv: Folio

Nepszabadsag (Ungarn), 03.12.2006

Anlässlich einer neuen Gesamtausgabe der Werke von Magda Szabo hat Andras Cserna-Szabo ihren Familienroman "Eine altmodische Geschichte" wieder gelesen. "Sie hat ihn geschrieben, als die literarische Elite Geschichten generell als anachronistisch, unmodern oder verdächtig verurteilte, als statt der uralten Harmonie (oder Dissonanz) von Inhalt und Form die Alleinherrschaft der Form propagiert wurde, als postmoderne Ästheten den immer apathischeren Lesern erklären wollten, warum sie lieben müssen, was sie nicht verstehen. Magda Szabo kümmerte sich nicht um Trends, sie hatte wichtigeres zu tun. Sie scharrte die Reste der Vergangenheit zusammen, recherchierte vergessene Details der Geschichte ihrer Familie, fragte Verwandte aus, las Kochbücher und Heiratsregister, Briefe und Tagebücher... Wir, Männer, dürfen uns nach diesem Roman nichts vormachen: es ist kein schäbiger Feminismus, wenn Magda Szabo behauptet, die Welt sei ein ewiger Kampf zwischen Monstern in Röcken und stolzen Feen. Denn das ist die ganze Wahrheit. In diesem gigantischen Spiel können Männer nur die Nebenrollen spielen."
Archiv: Nepszabadsag

Foglio (Italien), 02.12.2006

"Ein Buch, von dem jeder Verleger träumt." Völlig zu Recht hat es Ottavio Cappellanis spaßiger Mafia-Roman "Chi e Lou Sciortino?" jetzt nach Amerika zu Farrar, Straus & Giroux geschafft, meint Mariarosa Mancuso. Auch im Roman zieht es Sizilianer gen USA. "Die Sciortino-Familie wäscht ihr schmutziges Geld im Kinogeschäft. Sie kauft oder baut Kinosäle in der amerikanischen Provinz, und es ist nicht so wichtig, dass keine Menschenseele kommt, um sich das Programm anzusehen. Jeden Montag kommt irgendjemand mit einem Köfferchen voller Geld und kauft alle Tickets der ganzen Woche. An der Kasse fragt natürlich keiner nach dem Ausweis, die Steuern werden regulär gezahlt, auf den Bruchteil der Einnahmen, die dem FBI zuliebe ausgewiesen werden." (In Deutschland ist der Roman ganz unbemerkt erschienen.)

Weiteres: Siegmund Ginzberg erzählt (hier und dann hier) drei Geschichten von ermordeten Agenten. Stefano di Michele porträtiert den Präsidenten des italienischen Abgeordnetenhauses Fausto Bertinotti.
Archiv: Foglio
Stichwörter: FBI, Geld, Mafia

Gazeta Wyborcza (Polen), 02.12.2006

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind festgefahren, viele Reformbestrebungen im Land waren aber auf eine baldige Mitgliedschaft ausgerichtet. Was wird jetzt aus der Demokratie am Bosporus?, fragt sich Adam Balcer. "Das türkische Paradox besteht darin, dass die konservativ-islamische AKP die führende proeuropäische Partei des Landes ist. Ihre Umformung in eine Art muslimische Christdemokratie und die volle Demokratisierung der Türkei sind ohne europäische Perspektive aber zweifelhaft." Die Fortschritte in Sachen Rechtsstaat, Minderheitenrechte und Meinungsrecht findet Balcer offensichtlich. Ein Hindernis stelle immer noch die Armee dar - "die Generäle glauben, sie müssen autonom neben der Regierung stehen, weil eine 'unsichere' Partei an der Macht ist. Diese Ansicht teilen viele Politiker in Europa - die Angst vor einer Islamisierung der Türkei verdeckt die tatsächlichen Erfolge in der Entwicklung der Zivilgesellschaft des Beitrittskandidaten."

Dorota Maslowska hat ein Theaterstück geschrieben. Im Interview mit dem Publizisten Slawomir Sierakowski spricht sie über soziale Schichten, vergeblichen Aufstieg und gewollten Abstieg, über Rollen und Kostüme und ihr erstes Drama. "Drama ist wie Mathe, denn das, was die Helden sagen, beinhaltet das, was sie tun, und das, was sie denken, und das, was passiert ist, und das, was passieren wird und noch das Etwas, das es etwas verkompliziert, damit alles nicht zu offensichtlich ist."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Times Literary Supplement (UK), 01.12.2006

Sophie Ratcliffe hat sich durch Thomas Pynchons neuen 1085 Seiten starken Roman "Against the Day" geackert. Es scheint sich aber gelohnt zu haben. Neu sei in "Against the Day", schwärmt Ratcliffe, "dass die Abwesenheit auf struktureller Ebene klarer wird. Ein Vorwurf an das Buch lautete bereits, dass es unmöglich sei, mit all den vielen Charakteren mitzuhalten. Das liegt zum einen an der schieren Masse des Erzählten, aber auch daran, dass so viele Personen einfach aus der Geschichte herausfallen. Es gibt keine Dickens'schen 'Momente unbedingter Freundlichkeit', bei denen Figuren nach 400 Seiten Abwesenheit wieder auf die Bühne zurückkehren. Pynchon spielt auf textueller Ebene eben diese Erfahrung des Ausgelöschtseins aus, über die er schreibt. Es ist dieser Verlust, gegen den der Roman protestiert - der Verlust des Lebens, der Verlust der Geschichte, aber in besonderem der Verlust des Individuums in der Masse kapitalistischer Gier."

Weiteres: Malcolm Bowie feiert das von Richard Stokes herausgegebene "Book of Lieder", das die Texte von mehr als tausend deutschen und österreichischen Liedern auch auf Englisch bereithält, und mit Hugo Wolf preist Bowie die kleine Form: "Auch kleine Dinge können uns entzücken / Auch kleine Dinge können teuer sein." Harold James konstatiert anlässlich von Joseph Stiglitz' "Making Globalization Work", dass die Globalisierungskritik an Radikalität verliert, aber an Intelligenz gewinnt. Und schließlich stellen Autoren ihre Lieblingsbücher des vergangenen Jahres vor.

Figaro (Frankreich), 01.12.2006

In Cicero online war uns dieses interessante Gespräch zwischen dem deutschen Bestsellerautor Daniel Kehlmann und Alexander Solschenizyn gar nicht aufgefallen - es war wohl nicht freigestellt. Darum verlinken wir auf die Übersetzung im Figaro. Solschenizyn spricht hier unter anderem über die beunruhigende Frage, ob die Katastrophen des 20. Jahrhunderts unausweichlich waren. Er meint, ja: "Die bolschewistische Revolution von Oktober 1917 war eine direkte und absolut unvermeidliche Folge aus der Februar-Revolution. Wollte Gott, dass sich die Dinge so abspielen? Gott hat uns die Freiheit der Wahl nie abgenommen. Wir schaffen uns unsere Geschichte selbst. Wir stoßen uns selbst ins Grab. Und die Notwendigkeit oder Absurdität der Leiden hängt von der Fähigkeit der Leute ab, aus der Geschichte Lehren zu ziehen. Um über die Weltgeschichte im allgemeinen zu sprechen, glaube ich, dass ohne die russische Revolution eine andere, ähnliche, Revolution stattgefunden hätte, als Verlängerung der französischen Revolution. Denn die Menschen müssen für den Verlust des Gefühls der Begrenzung in ihren Begierden und Ansprüchen (...) bezahlen."
Archiv: Figaro

Economist (UK), 01.12.2006

Mit unerwarteter Intensität fiebert Washington dem Bericht der ISG (Iraq Study Group) entgegen, an dem Ex-US-Außenminister James Baker maßgeblich beteiligt ist. Warum nur?, fragt sich der Economist. "Der eigentliche Grund für die Aufregung um die ISG hat weniger mit der Irak-Politik als mit der amerikanischen Politik zu tun: Viele sehen in der ISG den Vorboten einer neuen politischen Ära. Die Leute um Baker und Hamilton haben sich die größte Mühe gegeben, sich so stark wie möglich von der Bush-Cheney-Bande abzugrenzen. Die ISG hat den Rat hochrangiger Mitglieder der Regierungen Clinton und Bush sen. eingeholt. Sie hat so viele Experten wie nur möglich herangezogen - und Hunderte von Menschen innerhalb und außerhalb der Regierung konsultiert. Und vor allem hat sie die Neocons links liegen lassen - sie sind überhaupt nicht vertreten."

Mitfühlend und anerkennend legt der Economist dar, wie behutsam sich Papst Benedikt XVI. bei seinem Türkei-Besuch durch das hochkomplexe religiöse und politische Minenfeld hindurchbewegt hat. Dennoch ist dem Economist unwohl, wenn ausgerechnet der Papst die muslimische Welt auffordert, mehr Toleranz im Umgang mit christlichen Minderheiten zu zeigen. Nach Ansicht des Economist sind die im Westen ansässigen Muslime die einzigen, die sich auf glaubwürdige Weise für die Rechte religiöser Minderheiten in der muslimischen Welt starkmachen könnten.

Weitere Artikel: Begrüßt wird Sean O'Briens klare und komplexe Neuübersetzung von Dantes "Göttlicher Komödie". Und im Technology Quarterly gibt der Economist die Gewinner des von ihm verliehenen "Innovation Awards" bekannt und prophezeit dem Mobiltelefon eine Zukunft als Universalfernbedienung fürs Leben.
Archiv: Economist

DU (Schweiz), 01.12.2006

Dieses Heft ist den Inseln im Pazifik gewidmet. Schöne Idee, auch wenn das Meer für manche beängstigend war. Für die Schriftstellerin und Nichtschwimmerin Felicitas Hoppe zum Beispiel. "Niemand ruft an. Das Wasser bleibt still. Dabei sehne ich mich nach Stimmen der Heimat in der Hitze unterwegs zum Äquator. Denn dort, die Matrosen flüstern es leise, wird man mich taufen. Äquatortaufe! Damit ich endlich einer von ihnen werde, die düsteren Vorzeichen mehren sich schon: dicke Luft, geschwollene Füße, schweißnasse Hände. Aufgeriebene Fersen vom nervösen Hin-und-her-Laufen an Deck. Aber unterm Strich bin ich das, was ich bleibe: eine Landfrau aus der Provinz, aus der auch getauft kein Seemann wird. Ich komme aus Hameln, das liegt an der Weser, ich bin an freundliche Ufer gewöhnt, an greifbare Hügel, an menschliche Horizonte. Die Meere sind einfach zu groß für mich."

Abgedruckt ist auch ein wunderbarer Auszug aus einem Klassiker des tongaischen Autors Epeli Hau'ofa, "Tales of the Tikongs" ("Rückkehr durch die Hintertür"). Es geht um den Pfad der Wahrheit, der zum Himmel führt. "Wie unsere Vorfahren, so haben auch wir großes Geschick im Erzählen von Halbwahrheiten, Viertelwahrheiten und Ein-Prozent-Wahrheiten. Als Tevita Alanoa seinem Nachbarn ein Schwein stahl und nach seiner Überführung meinte, er habe nur ein Bein gegessen, da war das eine Viertelwahrheit. Und als er erklärte, der bestohlene Nachbar sei der Bruder seiner Mutter und er deshalb kein Dieb, da war das eine Halbwahrheit. Als er sich schließlich zu der Behauptung hinreißen ließ, er dürfe die Schweine seines Mutterbruders nehmen, ohne ihn zu fragen, wofür sein Onkel ihm eins auf die Nase gab, da war das eine Ein-Prozent-Wahrheit."

Online lesen dürfen wir (untereinander gestellt auf einer Seite): Andreas Langenbachers Bericht über seine Reise nach Tasmanien, von der er 20 Jahre geträumt hatte. Und James Hamilton-Paterson erzählt, wie das Töten eines Kugelfischs ihm das Fischen verleidete. Schließlich zwei Gedichte, eins von Selina Tusitala Marsh über "Typen wie Gauguin" und eins von Tusiata Avia, "Nafanuas Schwester denkt an Nafanua in London".
Archiv: DU

Open Democracy (UK), 01.12.2006

In einer langen Recherche setzt sich Phil Gunson mit dem linken "Solidaritätsjournalismus" über Hugo Chavez auseinander und demontiert einige Mythen um den gerade wiedergewählten Präsidenten von Venezuela. Unter anderem ist der Putschversuch gegen Chavez im Jahr 2002 entgegen anderslautenden Gerüchten wohl nicht auf amerikanische Machinationen zurückzuführen. Gunson beklagt die scharfen Angriffe der "Solidaritätsjournalisten" auf alle Kritiker Chavez' und schließt: "Diese intolerante Haltung erstickt jede Debatte darüber, ob der Chavismo tatsächlich der beste Weg ist, den die Linke für Lateinamerika und den Rest der Welt angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bieten hat. Diese Debatte lässt sich nicht durch den Austausch von Beleidigungen führen, sondern nur durch das kühle Abwägen von Fakten und den Austausch von Ideen in einer zivilisierten Diskussion."
Archiv: Open Democracy

Elet es Irodalom (Ungarn), 01.12.2006

Absolut hingerissen ist Laszlo Földenyi von der Budapester Ausstellung des ungarischen Künstlers Attila Szücs: Aura, wohin das Auge blickt! "Seltsame, an Rauchwolken oder Trugbilder erinnernde Visionen, die vor einem neutralen, weder mit Zeit noch mit Raum assoziierbaren Hintergrund - wie im gedämpften Licht des Meeresgrunds oder im Weltall ohne Graviation - erscheinen... Sie wirken wie Schatten, die nicht von einer Lichtquelle hervorgebracht wurden. Bilder, die sich vom Licht unabhängig gemacht und sich von der Materie losgelöst haben. Diese Schatten mit eigenem Dasein schlendern vor fast monochromen Farben herum. Sie sind weder der Zeit noch dem Raum ausgeliefert. Raumkapseln, die man ins Universum schickte. Sie zeigen eine kleine Welt, die sie umhüllen, die ihnen anvertraut wurde: eine einsame Frau, ein wartendes Kind, ein Möbelstück, ein Tier, eine Landschaft, mehrere Frauen und so weiter. Diese Blasen oder Schatten können alles umhüllen - auf den Gemälden von Attila Szücs ist die ganze Welt in einen schattenartigen Ort verwandelt."

Im Aufmacher macht sich Gusztav Megyesi über die Initative eines ungarischen Abgeordneten lustig, "eine jede Straße, deren Name nach dem Ende des Sozialismus nicht umbenannt wurde, nach dem verstorbenen ungarischen Fußballspieler Ferenc Puskas zu nennen. Er rechnete zusammen, dass es noch mindestens zweitausend Orte in Ungarn gibt, die immer noch eine Lenin- oder Dimitrovstraße haben. Der Abgeordnete machte bekannt, dass mehrere Künstler, Bürgermeister und Kommunalpolitiker hinter seiner Initiative stehen. Die ganze Bewegung wurde erst zwei Tage nach dem Tod von Puskas ins Leben gerufen. In einem Land, wo die Zivilen es in den sechzehn Jahren seit der Wende nicht geschafft haben, den Hundekot oder Straßenlöcher zu bekämpfen, den wichtigsten Auslöser von Heuschnupfen in Gärten und Hinterhöfen einzusammeln, von politischen Fragen gar nicht zu sprechen, ist das eine beachtenswerte Leistung."

Wired (USA), 01.12.2006

Könnte YouTube die nächste Evolutionsstufe des Fernsehens und damit der Fernsehwerbung sein, fragt Bob Garfield. 100 Millionen Streams am Tag hört sich schon mal sehr gut an, doch wo soll die Werbung hin?. "Sie sind beispielsweise Whiskas und haben Anzeigen neben Videos gekauft, die mit Katzen zu tun haben. Sie wären sehr überrascht und enttäuscht, wenn sie mitbekommen würden, dass Sie ein YouTube-Video unterstützen, das von einem gewissen mrwheatley hochgeladen wurde und mit 'Explodierende Katze' betitelt ist. Oder dieses: 'ma907h isst eine tote Katze', das einen Typ zeigt, der ... egal. Beim Sichten der Metadaten ist Cory Treffiletti, Vizepräsident der 'Media Services for interactive agency Real Branding', noch nicht sehr optimistisch. 'Noch sind die Metadaten nicht viel mehr als ein paar Schlüsselwörter, die der Nutzer auswählen kann. Es gibt kein freies Eingabefeld, um 'Vivisektion einer Katze' einzugeben."
Archiv: Wired
Stichwörter: Metadaten, Branding

al-Sharq al-Awsat (Saudi Arabien / Vereinigtes Königreich), 29.11.2006

"Ist das Schreiben von freizügigen Romanen heute der einfachste Weg, um berühmt zu werden?" Mit dieser Frage machen sich Ayman al-Qadi und Saad Jurus auf die Suche nach den Hintergründen eines aus ihrer Sicht bedenklichen Phänomens: Sex als Gegenstand neuerer arabischer Literatur. Die ägyptische Schriftstellerin Salwa Bakr, die die Autoren zitieren, sieht die Ursachen woanders. Schuld ist für sie die sexuelle Verdrängung, "unter der die Mehrheit leidet und die durch die Satellitensender und durch andere Medien noch verstärkt wird. Dies ist der Grund, weshalb die Jugend sich so für Sex interessiert, für freizügige Literatur, für Schundfilme und für andere Dinge, die das Verdrängte herausfordern und befriedigen. Hinzu kommt, dass über Emotionen und Sexualität bei uns nicht laut geredet wird, dass man diese Themen versteckt und unterdrückt - mit der verlogenen Behauptung, dass das Reden über diese Themen gegen die Frömmigkeit verstoße. Das ist falsch. Die Religion gestattet uns, noch über die kleinsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens zu diskutieren. In dem repressiven Klima, in dem wir heuten leben, ist das anders. Dieses Klima machte die Flut von Satellitensendern und von anderen freizügigen Medien - wie zum Beispiel der billigen Literatur - erst möglich. Es ist völlig natürlich, dass sich die Jugend zu diesen Medien flüchtet."

Über ein ungewöhnliches Projekt der Harvard University berichtet Osama Alaysa aus Jerusalem: Einen Wanderweg entlang des Lebensweges von Abraham, dem Urvater von Judentum, Christentum und Islam. Als Hindernis erweist sich dabei nicht nur, dass viele Orte, an denen Abraham wirkte, auch unter Experten umstritten sind. Probleme bereitet auch die Situation in der Region. Der Weg führt schließlich durch Syrien, die Türkei, Jordanien, Israel und Palästina. So stößt das Projekt nicht sofort auf Zustimmung. Skeptisch zeigte sich beispielsweise Khaled Tafish, ein Mitglied der Hamas im palästinensischen Parlament: "Ich hoffe, dass sich die Initiative nicht auf Oberflächliches beschränkt, dass man den Weg Abrahams nicht einfach nur abläuft. Die Initiative muss eine Botschaft haben, eine Botschaft gegen die Tyrannei und gegen die amerikanische Politik, die jüngst erst eine Verurteilung des Blutbades von Beit Hanun durch ein Veto (im UN-Sicherheitsrat) verhinderte."

Reportajes (Chile), 03.12.2006

Pedro Schwarze stellt Ramiro Valdes vor, den neben Fidel Castro und seinem Bruder Raul "dritten Mann" im aktuellen kubanischen Machtgefüge: "Dass Valdes, langjähriger Geheimdienstchef und 1985 auf Betreiben Raul Castros als Innenminister abgesetzt, vor kurzem wieder in die Regierung berufen wurde, sehen die einen als Geste, die Einheit symbolisieren soll, während er für andere der Aufpasser ist, den Fidel in einer Demonstration seiner fortwährenden Macht seinem Bruder Raul an die Seite stellt. Der 'Zerberus der Revolution', wie ihn Raul Castro vor wenigen Tagen selbst bezeichnete, ist nach Ansicht von Alcibiades Hidalgo, dem ehemaligen Büroleiter wiederum Raul Castros, 'ein Unterdrücker wie er im Buche steht, ein tropischer Beria'."

Norberto Fuentes, Ex-Castro-Kombattant und Castro-Biograf, bestätigt "die große, ja allergrößte Bedeutung, die dieser politische Schachzug besitzt: einundzwanzig Jahre nach seinem Fenstersturz ist Ramiro Valdes wieder da!"

Alvaro Vargas Llosa resümiert die zehn Wahlen, die dieses Jahr in Lateinamerika stattgefunden haben, und konstatiert "ein momentanes Gleichgewicht zwischen Fleischfressern a la Chavez, Morales oder Ortega und Vegetariern wie Lula, Bachelet oder dem Peruaner Alan Garcia".
Archiv: Reportajes

Weltwoche (Schweiz), 30.11.2006

Bei den Wahlen in den Niederlanden haben die beiden großen Volksparteien schwere Einbußen erlitten, die Parteien der Ränder dagegen zugelegt. Der Autor Leon de Winter versucht sich zu erklären, was in dem Land gerade vor sich geht: "Wie ist es möglich, dass es bei derartigem Wohlstand zu diesem Resultat kam? Ich möchte den Schock der politischen Morde, die wir 2002 und 2004 miterlebten, nicht herunterspielen - es waren Ereignisse, wie sie in den letzten 400 Jahren nie geschehen sind. Aber die gegenwärtige Rastlosigkeit eines Teils der Wählerschaft hat nichts damit zu tun. Es besteht ein allgemeines Missbehagen, die Leute fühlen sich unwohl, entfremdet; sie glauben, das politische Establishment habe den Kontakt zur Wirklichkeit verloren." Gar nicht verstehen kann er den Erfolg der linkspopulistischen Sozialisten: "Wie in aller Welt ist es möglich, dass ein so gut organisiertes Land - gut organisiert wie die Schweiz -, in dem die Leute sich im Allgemeinen anständig aufführen, wo die Leute höflich sind, wo wir alle zweimal im Jahr in die Ferien reisen, ein Land mit niedriger Arbeitslosigkeit und einer ausgezeichneten Gesundheitsversorgung - wie ist es möglich, dass ein großer Anteil der Wähler für eine maoistische Partei stimmt?"

Weiteres: Bei aller Liebe zum Eigensinn zeigt Signer Enervierungserscheinungen gegen die Appenzeller, die wieder einmal gegen eine sinnvolle Erneuerung gestimmt haben (der Erhöhung der Kinderzulage von 185 auf 200 Franken): "Dauernd gegen nationale Vereinheitlichung und Bevormundung zu schimpfen und auf Föderalismus zu pochen, während die Subventionen fließen, ist widersprüchlich." Nigel Lawson konstatiert in einem vom Spectator übernommenen Text, dass der Klimawandel zu wenig wissenschaftlich gesichert sei, um teure Gegenmaßnahme zu treffen. Und Julian Schütt singt eine Ode auf das Kaffeehaus.
Archiv: Weltwoche

New York Times (USA), 03.12.2006

Die 9/11-Kommission hat in ihrem Bericht festgestellt, dass die Anschläge vom 11. September deshalb nicht verhindert wurden, weil die amerikanischen Geheimdienste nicht in der Lage waren, ihre Erkenntnisse zu vernetzen. In einem spannenden Report berichtet Clive Thompson, wie die Dienste nun versuchen, in Sachen Informationsfluss auf den Stand gewöhnlicher Teenager zu kommen. So hat die CIA den Galileo Award ausgeschrieben, der erste Preis ging an den Essay von Calvin Andrus, Cheftechnologe beim Center for Mission Innovation der CIA. Spione könnten durchaus einen Nutzen ziehen aus der Schwarmintelligenz, die sich in Blogs und Wikis manifestiert. "In der traditionellen Spionagebürokratie des Kalten Kriegs entschieden Launen der Hierarchie über Leben und Sterben einer Analyse. Befand sich der Analytiker am richtigen Ort in der Hierarchie, konnte sein Bericht über sowjetische Raketen nach oben geschickt werden. Ignorierte ihn sein Vorgesetzter, verschwand er. Blogs und Wikis dagegen arbeiten demokratisch. Erkenntnisse erregen einfach deshalb Aufmerksamkeit, weil jemand sie interessant findet...- egal, was der Vorgesetzte darüber denkt."

Weiteres: Rachel Donadio hat sich in der südafrikanischen Literaturszene umgetan, die ihr ungeheuer lebendig, aber auch sehr fragmentiert erscheint. Deborah Solomon unterhält sich mit dem chinesischen Komponisten Tan Dun über die Arbeiten in den Reisfeldern und die Lieder der Bauern. Und Negar Azimi erforscht die Lage der Homosexuellen in Ägypten.

Die New York Times Book Review hat die zehn besten Bücher des Jahres 2006 erkoren: Angeführt wird die Liste von Gary Shteyngarts "Absurdistan". William F. Buckley jr. findet Martin Gecks Bach-Biografie außerordentlich informativ (wenn auch etwas trocken), allein auch sie kann die Frage nicht beantworten, "was ein halbes Jahrhundert lang den Fluss der Magie aus diesem Mann strömen ließ".
Archiv: New York Times