Magazinrundschau

Peter Esterhazy: In Polen gibt es noch Intellektuelle

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.06.2007. Die New York Review of Books beobachtet den internationalen Dschihad im Libanon. In Elet es Irodalom staunt Peter Esterhazy über liberale Intellektuelle unter Polens Katholiken. Outlook India porträtiert die Bhuttos als shakespeareanische Königsfamilie. Einfach naiv findet der Historiker Henri Beunders in Trouw Al Gores Buch "Assault on Reason". Im Nouvel Obs erklärt Umberto Eco den Unterschied zwischen einem Piemontesen und einem Neapolitaner. Al Ahram stellt den magischen Realisten Ibrahim Farghali vor. Die New York Times widmet sich der pekuniären Ungleichheit. Vanity Fair erzählt, wie man in den USA dagegen kämpft. Der Spectator erzählt, wie man in Deutschland dagegen kämpft.

New York Review of Books (USA), 28.06.2007

Max Rodenbeck schickt eine große Reportage aus dem Libanon, der sich nicht mehr nur gegen die Hisbollah und Syrien zur Wehr setzen muss, sondern auch gegen den internationalen Dschihad, wie die Kämpfe im palästinensischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared zeigten. "Die Anführer der Fatah al-Islam sind nach ihrer Freilassung aus syrischen Gefängnissen im vergangenen Jahr in den Libanon gekommen, ausgerüstet mit sehr viel Bargeld. Die meisten ihrer Anhänger kommen nicht aus dem Lager selbst, sondern aus Saudi-Arabien, Algerien oder Syrien, oft über die Straßen des Dschihads im Irak (also eine weitere Konsequenz des Irakkriegs). Die Bewohner des Flüchtlingslager lehnten dieses Eindringen ab, mit dem rigiden Puritanismus der Neuankömmlinge können sie wenig anfangen. Aber vielen Berichten zufolge bewundern sie auch die Kämpfer für ihren Eifer und ihre Kriegserfahrung im Irak. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor das Gemisch aus internen Spannungen und dschihadistischen Einschlüssen explodiert."

Allzu optimistisch findet es Pankaj Mishra, in Indien das erfolgreiche, sympathische Gegenmodell zum chinesischen Globalisierungswunder zu sehen: "Mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren sind in Indien unterernährt; Missernten und Schulden haben in den vergangenen zehn Jahren Hunderttausende von Bauern in den Selbstmord getrieben. Ungleichmäßiges Wirtschaftswachstum und daraus folgende Ungleichheiten bringen neue gewaltige Herausforderungen für Indiens Demokratie und politische Stabilität mit sich."

Weiteres: Abgedruckt wird auch ein schon etwas älterer Artikel von Adam Michnik über die zwei Polen, die sich derzeit gegenüberstehen: "Ein Polen des Argwohns, der Furcht und der Rache liegt im Kampf mit einem Polen der Hoffnung, des Mutes und des Dialogs." (Hier die deutsche Version). Harold Bloom preist eine von Peter Cole edierte Anthologie jüdischer Poesie aus dem maurischen-christlichen Spanien, die weder im umgangsprachlich üblichen Judäo-Arabisch noch in Ladino verfasst war, sondern auf Hebräisch. Besprochen werden außerdem Don DeLillos 9/11-Roman "Falling Man" und Margaret MacMillans Studie zu "Nixon and Mao".

Elet es Irodalom (Ungarn), 08.06.2007

Die polnischen Politiker sind zwar schrecklich, aber trotzdem ist Polen besser dran als Ungarn, schreibt der Schriftsteller Peter Esterhazy nach seiner Polenreise. Denn die polnische Gesellschaft sei viel pluralistischer als die ungarische. "In Polen gibt es noch Intellektuelle im wahrsten Sinne des Wortes. Noch nie habe ich so viele kompetente Journalisten getroffen, auch sehr junge unter ihnen. Warschau entwickelt sich prächtig. Man trifft sogar liberale Intellektuelle unter den Katholiken! (Dieses Phänomen können sich die Ungarn gar nicht vorstellen.) Die wichtigsten Momente ungarisch-polnischer Geschichte sind in ihrem kollektiven Gedächtnis sehr viel lebendiger, als bei uns. Wären fünf Tage in Ungarn auch so phantastisch, wenn ich nicht aus Ungarn käme?"

Das Jüdische Museum Berlin zeigt gerade Peter Forgacs Multimedia-Installation "Donau-Exodus", die zwei Auswanderungsgeschichten erzählt: Im Spätsommer 1939 flüchteten 600 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Bratislavas auf dem Ausflugsdampfer "Königin Elisabeth" donauabwärts, um am Schwarzen Meer das Schiff nach Palästina zu besteigen. Im Herbst 1940 brachte dasselbe Schiff Angehörige der deutschen Minderheit aus Bessarabien, die ins Deutsche Reich umgesiedelt wurden, donauaufwärts. Der Kapitän hielt damals das Leben auf dem Schiff mit seiner Kamera fest. Im Interview spricht Forgacs von den Tücken des kollektiven Gedächtnisses: "Hunderttausende meiner Landsleute müssen heute damit leben, dass sie Mitglied der Partei des Diktators Kadar wurden, obwohl niemand sie dazu gezwungen hatte. Andere mussten Jahrzehnte lang ertragen, dass sie als Untermenschen galten, nur weil sie aus einer reichen oder bürgerlichen oder kapitalistischen oder früher: jüdischen Familie abstammten. Dieses Land ist von Segregationen, mörderischer Wut und betörendem Vergessen geplagt. Was unser liebe Kölcsey, Dichter der ungarischen Nationalhymne schrieb, stimmt nicht: Dies Volk hat nicht genug für Vergangenheit und Zukunft gebüßt."

Nepszabadsag (Ungarn), 11.06.2007

Den osteuropäischen Politikern schreibt Agnes Heller, aus Ungarn stammende Philosophin und emeritierte Professorin der New School for Social Research in New York, ins Stammbuch: "Jedes dieser Länder kämpft mit seinen spezifischen Problemen, aber eines ist ihnen gemeinsam: die Politiker in diesen Ländern haben keine Erfahrung mit Politik in der Demokratie. Politiker zu sein ist ein Beruf wie der des Arztes: neben Intuition spielt Fachkompetenz eine große Rolle. Medizinstudenten im zweiten Jahrgang vertraut man keine komplizierten Gehirnoperationen an, aber in der Politik ist genau das passiert. Die Politiker können nichts dafür, dass sie die nötigen Kompetenzen erst jetzt erwerben können. Sie sind aber schuld daran, dass sie diese Situation nicht erkennen und sich stets als Allwissende präsentieren."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Heller, Agnes

Outlook India (Indien), 18.06.2007

Neena Gopal besucht eine shakespeareanische Königsfamilie, die Bhuttos, einst allmächtig in Pakistan, die jetzt in Dubai im Exil leben. Benazir Bhutto, so erfährt man, spielt mit dem Gedanken, nach Pakistan zurückzukehren und sich zur Wahl zu stellen. Vor allem aber tritt in dem Gespräch erstmals ihr 18-jähriger Sohn Bilawal vor die Medien, dem eine große Zukunft bestimmt zu sein scheint: "Bilawal gesteht sein 'Heimweh', trotz verblichener Erinnerungen an die andauernden Morddrohungen gegen die Familie, die seine Großmutter Nusrat krank machten, eine einst unzähmbare Frau, die heute an Alzheimer leidet, was die Familie auf Stockschläge zurückgführt, die sei bei Demonstrationen gegen Zia-ul-Haq einstecken musste."

Sehr hübsch Haideep Mazumdars reich illustrierter Artikel über die legendäre Reiselust der Bengalen, die keine touristische Attraktion Indiens unbesucht lassen: "Ausgestattet mit Schals und Regenschirmen, um jedwedem Wetter zu trotzen, mit Stimmen, die sich vor Aufregung überschlagen, sieht man sie schlicht überall."

In allen Einzelheiten aufgerollt wird ein Skandal um Bollywood-Superstar Amitabh Bachchan, der Dokumente fälschen lassen wollte um Grundbesitz erwerben zu dürfen. Die eigentliche Überraschung dabei ist, dass das aufgeflogen ist. Und der hochverehrte greise Khushwant Singh beruhigt sein Publikum in einer komischen Kolumne über die Diagnose fürs Blut im Stuhl, das ihn schon innerliche Nachrufe auf sich selbst schreiben ließ: Es ist nicht Krebs, aber es war auch nicht rote Beete.
Archiv: Outlook India

New Statesman (UK), 11.06.2007

Für ihre Titelgeschichte "Wie weit wird er gehen?" berichtet Bridget Kendall aus dem Inneren des zusehends autoritären Russland unter Präsident Putin: "In der Welt der russischen Politik haben viele Russen nicht Angst vor zu wenig Demokratie, sondern vor zu viel. Deshalb fordern manche, wie ich feststellen musste, eine dritte Amtsperiode für Putin. Nicht weil sie ihn bewundern - im Privaten sagen einem viele, dass er und seine Spießgesellen nicht weniger korrupt und arrogant sind als ihre kommunistischen Vorgänger -, sondern weil sie der Idee der Demokratie und dem Westen, der so dringlich danach verlangt, misstrauen. Deshalb fürchten sie auch den Ausgang der Wahlen im nächsten Jahr. Die Erfahrung der letzten Zeit hat sie gelehrt, dass Veränderung gewöhnlich Verschlechterung bedeutet und deshalb vermieden werden sollte."

Weitere Artikel: Christopher Bray geht anlässlich einer Ausstellung in der Tate Modern dem Verhältnis Salvador Dalis zum Kino nach. Stephen Johnson zieht zum 150. Geburtstag des Künstlers das Bild Edward Elgars als Komponist des britischen Imperialismus in Zweifel.
Archiv: New Statesman

Letras Libres (Spanien / Mexiko), 10.06.2007

"Endlich das Ende." Auch der chilenische Schriftsteller und Journalist Rafael Gumucio macht sich Gedanken zu Erderwärmung und Klimakatastrophe: "Wir Menschen sind schuld. Einzig und allein unseretwegen rast die Erde dem Untergang entgegen. Wer wie wir während des Kalten Krieges aufgewachsen ist, für den hat diese Nachricht durchaus etwas Befreiendes. Damals war die drohende Vernichtung ebenso real wie heute - was nicht heißt, dass sie nicht auch einem instinktiven Bedürfnis unserer Vorstellungswelt entspricht. Denn, geben wir es zu, noch nie schien es gerecht, dass wir sterben und die pietätlose Welt uns überleben solle. Nicht zu wissen, welchen Platz unser Leben in der Geschichte des Universums dereinst einnehmen wird, welcher Schluss daraus zu ziehen ist, wie, in welchem Tonfall, diese Geschichte erzählt werden soll, was deren Zentrum und was bloßer Anhang ist - damit waren wir doch noch nie einverstanden."
Archiv: Letras Libres

Gazeta Wyborcza (Polen), 09.06.2007

Sehr kontrovers diskutiert Witold Gadomski mit dem amerikanischen Politologen David Ost über dessen Buch "The Defeat of Solidarity", das soeben auf Polnisch erschienen ist. Die These, dass liberale Intellektuelle die Arbeiter in der "Solidarnosc" übergehen wollten, um marktwirtschaftliche Reformen durchzudrücken, missfällt Gadomski genau so wie Osts Diagnose unterschiedlicher "Klassen-Interessen", die dabei nicht berücksichtigt wurden. Dazu Ost: "Es geht hier nicht um anti-elitäre Verschwörungstheorien - die Intellektuellen waren zum Sieg verdammt. Nur haben sie nach 1989 die Aktivität der Zivilgesellschaft so klein wie möglich gehalten, um die Reformen nicht zu gefährden - sie fürchteten gesellschaftlichen Widerstand gegen die Veränderungen. Die Menschen wollten wie Partner behandelt werden, stattdessen hörten sie: 'Seid still und arbeitet, so lange ihr Arbeit habt'. Also hat sich die nationale Rechte dieser Menschen angenommen. Das war der Anfang vom Ende der Liberalen."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Trouw (Niederlande), 10.06.2007

Trouw widmet seinen Kulturteil der "Macht des Bildes". Darin ein Auszug aus Al Gores neuem Buch "Assault on Reason" (ab August auf Deutsch) sowie eine scharfe Kritik an eben diesem Buch durch den Rotterdamer Geschichtsprofessor Henri Beunders. "Ein amerikanisches Buch muss natürlich alarmistisch beginnen und optimistisch enden, sonst verkauft es sich nicht. Doch so einseitig Gore 'die alten Medien' sieht, so naiv ist seine Haltung gegenüber dem Internet. Er schreibt 'Die Netzwerkdemokratie rüstet sich. spürbar. Wir, das Volk, sind immer noch der Schlüssel zum Überleben der Demokratie in Amerika.' Was für eine Naivität! Als ob 'das Volk' immer das Beste wolle. 1914, 1982 (Falkland) und 1991 (Golfkrieg) zog 'das Volk' jubelnd in den Krieg. In den dreißiger Jahren baten die Deutschen Hitler: 'Befreie uns von der Freiheit.'"
(Die NZZ hat das Buch kürzlich unter der schönen Überschrift "Das Gorakel" besprochen.)
Archiv: Trouw
Stichwörter: Golfkrieg, Rotterdam, Gore, al

Nouvel Observateur (Frankreich), 07.06.2007

Umberto Eco bespricht den "Dictionnaire amoureux de Naples" von Jean-Noel Schifano (Plon). Er bekennt: "Das Schwierige bei meiner Lektüre war, dass Schifano mein französischer Übersetzer ist, und ich ihn und seinen Stil uneingeschränkt bewundere. Aber ich bin ein im Piemont geborener Italiener (eine Region, die seit Jahrhunderten kulturell eher französisch als italienisch ist), und zwischen einem Piemontesen und einem Neapolitaner besteht eine viel ausgeprägtere Verschiedenheit als zwischen einem Schweden und einem Brasilaner aus Bahia. Mich mit einem Franzosen auseinander zu setzen (und habe er auch einen italienischen Vater), der neapolitanischer ist als sonst jemand, hat mir einige Not bereitet. Natürlich erliege auch ich der Faszination Neapels (obwohl ich nicht wie einer dieser Antisemiten erscheinen möchte, der jede Unterhaltung mit dem Satz 'einige meiner besten Freunde sind Juden' beginnt). Aber ich kann nicht vergessen, dass der 'Dictionnaire amoureux' von Schifano in Frankreich fast zeitgleich mit 'Gomorra' von Roberto Saviano erscheint, einem derart heftigen Buch über Neapel als Hauptstadt der Camorra und als Territorium zügelloser Kriminalität, dass der Autor gezwungen war, der Rache dieser gnadenlos angeprangerten Welt unter Polizeischutz zu entfliehen. Wem soll man glauben? Saviano, der von der Hölle erzählt, oder Schifano, der mit nostalgisch verklärtem Blick von einem Paradies spricht?"

Times Literary Supplement (UK), 08.06.2007

Mit Freude beobachtet Bee Wilson eine "Rückkehr des Baguettes", die die Franzosen vor allem den Retro-Bäckern Eric Kayser and Dominique Saibron verdanken, die den Teig bei minimaler Geschwindigkeit kneten. Mit seiner Geschichte des Baguettes "Good Bread is Back" liegt Steven Laurence Kaplan also im Trend, konstatiert Wilson und erzählt selbst: "Um 1789 tauschten die Italiener die Knusprigkeit des Brots gegen die Schlabberigkeit der Pasta. Jenseits des Kanals gaben die Briten Brot zugunsten des Zuckers auf. Während des 18. Jahrhunderts stieg der britische Zuckerkonsum um das Achtfache, auf 16 Pfund pro Person und Jahr. Mit all diesen süßen Kalorien war Brot nicht länger so bedeutend, vor allem das britisches Brot mit Alaun gepanscht wurde, einem Bindemittel, mit dem sich auch aus schlechtem Mehl weiße poröse Brotlaiber herstellen ließen. Doch in Frankreich blieb das Brot relativ rein und essentiell. Leben ohne Brot blieb undenkbar. Den 'Geschmack fürs Brot verloren' zu haben, war ein Synonym für den Verlust des Lebenswillen."

Erschüttert liest Kate Brown Nicolas Werth's Buch "Cannibal Island", das die Geschichte einer Gefängnis-Insel erzählt, mit der Stalin den Gulag reformieren wollte: Wachen und Kosten sollten eingespart werden: "Die 'Bewohner' der Insel Nazino konnten vom kargen Komfort oder der spärlichsten Ordnung eines Arbeitslagers nur träumen angesichts des grausigen Szenarios, das sich von ihnen im Frühjahr 1933 in Westsibirien abspielte. Mitten in der Nacht wurden sie auf einer kleinen, öden Insel inmitten eines tosenden eisigen Flusses ausgesetzt, Hunderte von Meilen entfernt von jeglicher Zivilisation. Ohne Nahrung, ohne Obdach, ohne warme Kleidung."

Plus - Minus (Polen), 09.06.2007

Ein interessantes, wenn auch wenig wohlwollendes Porträt von Daniel Cohn-Bendit zeichnen Aleksandra Rybinska und Piotr Zychowicz im Magazin der konservativen Rzeczpospolita. Europaabgeordnete, frühere Weggefährten, Journalisten und Politiker lassen in ihren Aussagen das Bild eines Exzentrikers entstehen, der sich im Establishment eingenistet hat, trotz unklarer Kapitel in seiner Biografie. "Ich höre ihm gern zu. Durch seine exzentrischen Auftritte haucht er dem verschlafenen Europaparlament etwas Leben ein. Ich glaube, Cohn-Bendits Welt besteht aus Farben wie bei Andy Warhol - er sieht nur die grellen; Rot, Grün und Gelb, aber keine Schattierungen. Pop-Art ist interessant, aber auf die Dauer ermüdet es und lenkt von der Wirklichkeit ab", äußert sich ein konservativer polnischer MEP.

Monika Malkowska hat die Ausstellung "Schmerz" im Hamburger Bahnhof in Berlin gesehen und findet: "Das ist mehr als ein künstlerisches Ereignis. Das ist der Höhepunkt des jahrelangen Prozesses, Kunst und Leben zusammen zu bringen. Das ist der Beweis dafür, dass die Kunst im vorigen Jahrhundert einen Salto Mortale vollbracht hat: einst im Dienste der Schönheit, heute der Hässlichkeit".
Archiv: Plus - Minus

ResetDoc (Italien), 04.06.2007

Reset.doc widmet ein Dossier der Islamkonferenz in Deutschland, die - spät, aber immerhin - sich der Tatsache stellt, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland ist. Matteo Landricina berichtet über die Hintergründe der Konferenz. Im Interview erklären Navid Kermani und Ezhar Cezairli übereinstimmend, dass die Probleme der Integration nur wenig mit dem Islam selbst zu tun haben.

"Viele Muslime", so Navid Kermani, "spüren in Folge der Anschläge islamistischer Terroristen, dass das Misstrauen in der Gesellschaft wächst und die Berichterstattung in den Medien immer alarmistischer wird. Allerdings: Es ist die deutsche Öffentlichkeit, die die Menschen seit einigen Jahren zu Muslimen 'macht'. Tatsächlich sehen sich die Iraner, Türken oder Libanesen gar nicht so sehr als zugehörig zu einer Gruppe, sondern sind eben Iraner, Türken oder Libanesen, zumal die sozialen Verhältnisse und der Bildungsgrad unter den muslimischen Einwanderern ganz unterschiedlich ist. Die Menschen sind Muslime, aber ihr erster Bezugspunkt ist nicht der Islam, sondern ihre kulturelle Herkunft und die deutsche Gegenwart."

Und die Frankfurter Zahnärztin Ezhar Cezairli meint, dass Integration nicht in erster Linie durch die Religion behindert wird. Es seien eher "soziale und kulturelle Probleme, dass Kindern aus Immigrantenfamilien nicht die gleichen Chancen haben, weil sie keine Hilfen von ihren Familien und Müttern bekommen, wenn sie Schwierigkeiten in der Schule haben. Deshalb müssen der deutsche Staat und die ganze Gesellschaft zusammenarbeiten, damit sie die deutsche Sprache lernen, bessere Noten bekommen und dem Unterricht besser folgen können."
Archiv: ResetDoc

Economist (UK), 08.06.2007

Die Schweiz hat, wie es scheint, ausgetanzt als der Inder liebster Bollywood-Exotismus. Großbritannien ist, wie der Economist berichtet, schwer im Kommen: "Cannes, Sundance, Venice - und jetzt Castleford. An diesem Wochenende ist die frühere Bergarbeiterstadt Gastgeber der Oscar-ähnlichen Preisverleihungszeremonie der Bollywood-Industrie... Einer der größten Stars in Bollywood ist inzwischen nämlich Großbritannien. Rund zwanzig Filme werden im Jahr auf britischem Boden gefilmt, meist irgendwo in London, manchmal aber auch so weit draußen wie im schottischen Hochland, das gelegentlich auch Kaschmir doubelt, wenn die politische Lage dort zu heikel ist. Das hat zu einem Zustrom indischer Touristen geführt, deren Zahl inzwischen die der japanischen Besucher übertrifft. Die Tourismusbüros verteilen Karten mit Filmdrehorten und auch Madame Tussaud Wachsfigurenkabinett hat sich inzwischen einige Bollywood-Berühmtheiten zugelegt."

Weitere Artikel: Besprochen wird unter anderem das Buch "Shakespeare the Thinker" des im Januar diesen Jahres verstorbenen renommierten Shakespeare-Forschers A.D. Nuttall, das der Rezensent überaus charmant, nur leider nicht argumentativ überzeugend findet. Rezensionen gibt es daneben zu Murat Kurnaz' Guantanamo-Autobiografie, zwei neuen Büchern über Hillary Clinton und vier Thrillern sowie zur Ankor-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau. In der Titelgeschichte begibt sich der Economist auf die Suche nach dem Erfolgsgeheimnis von Apple. In einem weiteren Artikel geht es um die Aussichten des iPhone.
Archiv: Economist

Al Ahram Weekly (Ägypten), 07.06.2007

Rania Khallaf empfiehlt in einer schlecht übersetzten und darum schwer verständlichen Kritik einen neuen Roman Ibrahim Farghalis (mehr hier), den sie als den "magischen Realisten seiner Generation" vorstellt. Die Fabel klingt nicht gerade so, als wäre der Roman bei der Al-Azhar-Universität für ein Gutachten eingereicht worden: "Haneen, die Heldin - Tochter einer christlichen Mutter und eines muslimischen Vaters - stellt eine Art Maß für religiöse Toleranz dar. In 'Jinniyah fi Qarora' steht eher Haneens persönliches Leben im Vordergrund, es geht um Identität. 'Eine Hure', so beginnt der Roman, 'nein, ich bin keine Hure'. Als Tochter ägyptischer Eltern wächst Haneen in Frankreich auf, und ihr Selbstbild ist widersprüchlich. Sex ist aber immer da und taucht zum ersten Mal mit dem zentralen Bild eines (weiblichen) Flaschengeists auf."
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Mutter

The Nation (USA), 25.06.2007

Die "neuen Atheisten" und ihre Bestsellererfolge in den USA schaffen es nun auch auf den Titel der Nation. Diese Bücher seien zwar nicht Ausdruck einer allgemeinen Abkehr von der Religion, meint Ronald Aronson. Aber die große nichtreligiöse Minderheit in den USA sei bisher ohne Stimme gewesen: "Ein bedeutender Ausschnitt aus der Bevölkerung wurde marginalisiert, ignoriert und beleidigt. Und schließlich gehören nichtgläubige Personen häufig höheren Bildungsgraden an... Der große Erfolg der Neuen Atheisten besteht darin, sie erreicht zu haben, um zu ihnen und für sie zu sprechen."
Archiv: The Nation

Point (Frankreich), 07.06.2007

In seinen Bloc-notes stellt Bernard-Henri Levy klar, dass er das Wort Krieg im Zusammenhang mit Darfur unerträglich findet und nicht mehr hören könne. "Weil es sich nicht um einen Krieg handelt. Hier kämpfen keine rivalisierenden Gruppen, wie man überall liest, um die Kontrolle über die Reichtümer des Landes. Noch weniger gibt es 'darfurianische' Kräfte, die sich der sudanesischen Armee entgegenstellten und versuchten, diese zurückzudrängen. Die Wahrheit - die ich gesehen habe - sind arme Menschen, die von Antonows bombardiert werden. Es sind arme Dörfer, die komplett vom Erdboden ausgelöscht werden. Es sind Frauen, Alte, Kinder, die aus ihren Häusern gejagt werden, und denen diese schrecklichen Todesschwadronen namens Janjawids die Bäuche aufschlitzen, sie köpfen oder bei lebendigem Leib verbrennen. All das auf Initiative der islamistischen Regierung von Khartum und im Augenblick mit dem Segen der internationalen Gemeinschaft."
Archiv: Point
Stichwörter: Levy, Bernard-Henri, Darfur

New York Times (USA), 10.06.2007

Das New York Times Magazine hat in dieser Woche einen großen Schwerpunkt zum Thema pekuniärer Ungleichheit. Auf dem Titel ist John Edwards zu sehen, der die Bekämpfung der Armut in den USA zum Schwerpunkt seines Präsidentschaftswahlkampfs gemacht hat. Matt Bai hat ihn unter anderem nach New Orleans begleitet, hält aber wenig von einer Dramatisierung der Lage: "Es ist wahr, dass die offizielle Armutsrate bei manchem Auf und Ab heute ungefähr da liegt, wo sie vor vierzig Jahren schon lag (14,2 Prozent waren es 1967, bei der letzten Zählung knapp unter 13), es ist aber auch wahr, dass sich das, was wir Armut nennen, dramatisch verändert hat. Unter Johnson gab es in ländlichen Gebieten noch Bedürftige, die keine Elektritzität, kein fließendes Wasser, keine Grundschulausbildung hatten. Heute haben die meisten Städte auch in ländlichen Gegenden Satelliten-Fernsehen und selbst die schlimmsten der in den Sechzigern entstandenen Sozialbauten haben, auch wenn das Leben dort furchtbar ist, dichte Dächer und funktionierende Leitungen."

Die präzisen statistischen Daten für die USA, die Roger Lowenstein vorstellt, zeigen freilich das eigentliche Problem: stagnierende Einkommen am unteren Ende - und explodierende am oberen. Oder, wie es David Leonhardt im Porträt des ein wenig wirtschaftsskeptisch gewordenen einstigen Clinton-Beraters Lawrence H. Summers formuliert: "Es ist, als schickte jeder Haushalt aus den unteren 80 Prozent der Einkommensstatistik einmal im Jahr einen Scheck über 7000 Dollar an das eine Prozent an der Spitze." Mimi Swartz hat die von Millionären bewohnte, vor Miami gelegene Luxussiedlung "Fisher Island" besucht, die nur per Fähre, Hubschrauber und Privatflugzeug erreichbar ist. Jason DeParle fragt, wem eine mögliche Globalisierung der Arbeit zugute kommt.

In der New York Times Book Review liefert Irvine Welsh eine begeisterte Besprechung von Andrzej Stasiuks ins Englisch übersetztem Roman "Neun": "Ein Merkmal eines genuinen Autors ist seine oder ihre Fähigkeit, einen Ort zu beschwören, der uns sofort vertraut erscheint, obwohl wir damit keinerlei persönliche Erfahrung verbinden... Andrzej Stasiuk ist so ein Autor." Und Tom Bissell würdigt den kürzlich verstorbenen polnischen Reporter Ryszard Kapuscinski und sein Buch "Meine Reisen mit Herodot".
Archiv: New York Times

Spectator (UK), 08.06.2007

Ross Clark hat offenkundig wenig Verständnis für Proteste gegen nationale und internationale Einkommensungleichheiten. Vielmehr zeigt er sich anlässlich der G 8-Demonstrationen empört, dass der Hass auf die Reichen wieder in Mode kommt und warnt davor, vor allem die in Deutschland aktiven militanten Strömungen zu unterschätzen: "Es ist kein Zufall, dass die Wiedergeburt der Anti-Globalisierungs-Proteste mit dem G 8-Gipfel in Deutschland zusammenfiel. Denn die Anti-Globalisierungsbewegung hat ihre Ursprünge bei den deutschen Autonomen - anarchistischen Gruppen der sechziger und siebziger Jahre... Mit dem Unterschied allerdings, dass die Autonomen Untergrund-Organisationen waren, während die Anarchisten von heute zunehmend ganz offen operieren. Man musste nicht gerade Spionagemethoden anwenden, um herauszufinden, was die Protestgruppen für den G 8-Gipfel planten: Jeder, der eine Internetverbindung besitzt, konnte die detaillierten Pläne zu Ort und Vorgehen der Protestaktionen nachlesen."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Globalisierung, Autonome

Vanity Fair (USA), 01.07.2007

Nach einer "Grünen Ausgabe" gibt es jetzt ein Afrika-Heft. Für die verschiedenen Cover haben sich Prominente aller Couleur von Annie Leibovitz fotografieren lassen. Alex Shoumatoff berichtet vom großen Wunder in Afrika: Noch 2002 konnten sich nur ein Prozent aller HIV-infizierte Afrikaner Aids-Medikamente leisten. Seit Bill Clinton die Pharmaindustrie überzeugt hat, die Preise für Entwicklungsländer von 10.000 auf 140 Dollar pro Jahr zu senken, werden 28 Prozent der afrikanischen Aidskranken behandelt. Das Geld wurde zum großen Teil vom Global Fund aufgebracht, der sich auch über Bonos Konzept (Red) finanziert. Shoumatoff ist überzeugt: "Die Idee hinter (Red) ist einfach: die beteiligten Firmen - unter anderem American Express, Apple, Armani, Gap, Motorola und Converse - verkaufen (Red)-Label-Produkte. Vierzig Prozent dieses Gewinns werden dafür verwandt, kostenlos Aids-Medikamente an afrikanische Patienten zu verteilen. Die Website Joinred.com gibt es unumwunden zu: ' Bei(Red) geht es nicht um Wohltätigkeit. Es ist ein Geschäftsmodell. Sie kaufen (Red)-Zeug. Wir kriegen das Geld, kaufen Pillen und verteilen sie...' Für die Unternehmen selbst, ist es ein Geschäft. 'Sie profitieren von neuen Kunden, Leuten, die den Kram kaufen, wenn garantiert ist, dass ein gewisser Prozentsatz an den Global Fund geht, sagt Bonos (Red)-Partner Bobby Shriver."

Außerdem gibt es Youssou N'Dours persönliche Playlist, die man sich bei iTunes runterladen kann, um mit 9,99 Dollar den Global Fund zu unterstützen (im deutschen MusicStore gibt es das Album natürlich nicht - die Idee ist wohl zu gut). Und Nina Munk porträtiert den Makro-Ökonom Jeffrey Sachs, der einst als "Dr. Shock" die Radikalkuren zur Transformation der osteuropäischen Ökonomien lieferte und nun mit 200 Milliarden Dollar ein für alle Mal die Armut auslöschen möchte.
Archiv: Vanity Fair