Magazinrundschau

Elisabeth Sledziewski: Die Franzosen wissen nichts über Polen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
14.08.2007. In Le Monde diplomatique überlegt Neal Ascherson, ob es Großbritannien wie der Tschechoslowakei ergehen wird. Das TLS blickt schaudernd auf die Doomsday-Maschinen der realen Welt. Outlook India feiert 60 Jahre Freiheit vom Kolonialismus. Im Figaro beklagt die Historikerin Elisabeth G. Sledziewski das Unwissen der Franzosen über den Warschauer Aufstand. Il Foglio liebt sogar die 1000 Fehler des Garibaldi. Magyar Narancs fürchtet sich vor nordirischen Zuständen in Ungarn. Der Economist stellt eine Studie über Lenin, Stalin und Hitler vor. In der Weltwoche erinnert sich Andre Müller an seine Begegnung mit Ingmar Bergman 1976.

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 10.08.2007

Werden England und Schottland bald getrennte Wege gehen? Neal Ascherson hält das durchaus für möglich. Er verweist auf die Tschechoslowakei, die sich unter Vaclav Klaus in Tschechien und die Slowakei aufspaltete. Was Großbritannien angeht, ist das erste Stadium "schon absolviert, mit dem Versuch von Politikern und Journalisten, eine allgemeine Scotophobie zu entfachen. Der ging zwar schief, stärkte aber bei den Engländern das ethnische Identitätsgefühl und lenkte ihren Blick auf gewisse Konstruktionsfehler der Union. Im zweiten Stadium entstand beiderseits der Grenze eine Unzufriedenheit mit dem Dezentralisierungsabkommen von 1997. Seitdem sieht man in England die Union von 1707 nicht mehr als tragenden Pfeiler der parlamentarischen Demokratie. Jetzt scheint ein drittes Stadium erreicht, in dem sich die Bindungskraft der Begriffe 'Großbritannien' und 'britisch' in dem Maße abschwächt, in dem sich auch in England eine Identitätspolitik entwickelt, die in Schottland und Wales bereits fest verwurzelt ist. Das 'Britische' als gemeinsame Kultur einer gesellschaftlichen und politischen Führungsgruppe ist heute kaum noch greifbar."

Weitere Artikel: Wendy Kristianasen prophezeit bei den Wahlen in Marokko einen Sieg der gemäßigten Islamisten. Guy Scarpetta schreibt über Jean-Luc Godards "Histoire(s) du cinema", die jetzt auf DVD erschienen ist. Dazu gibt es ein Interview des Filmwissenschaftlers Youssef Ishaghpour mit Godard.

Figaro (Frankreich), 09.08.2007

Die Historikerin Elisabeth G. Sledziewski beklagt auf den Meinungsseiten des Figaro, dass die Franzosen über den Warschauer Aufstand, dessen 63. Jahrestag gerade begangen wird, so gut wie gar nichts wissen - meistens verwechseln sie ihn mit dem Aufstand des Warschauer Ghettos 16 Monate zuvor: "Diese Verwechslung ist Teil einer viel tieferen Unkenntnis über den Krieg in Polen, von dem die Franzosen nur eine Dimension - die Vernichtung der Juden - in Erinnerung behalten haben. Diese Ignoranz grenzt an eine Leugnung der historischen Realität, die in der Vernichtung der Aufständischen von 1944 nach fünf Jahren barbarischer Besetzung durch die Nazis und im zynischen Verrat des stalinistischen 'Verbündeten' bestand. Als würde der Schrecken der Shoah im besetzten oder beziehungsweise annektierten Polen den Leidensweg der seit dem 1. September 1939 in Sklaverei gehaltenen polnischen Nation als ganzer auslöschen. Die Polen verstehen diese Leugnung nicht und leiden darunter."
Archiv: Figaro

Magyar Narancs (Ungarn), 09.08.2007

Die Gründung der paramilitärischen Organisation "Ungarische Garde" durch die rechtsradikale Partei Jobbik hat in Ungarn Besorgnis erregt. Bei den Ausschreitungen im vergangenen Herbst zählte die kleine Partei zu den führenden Kräften, Anfang Juli stand sie hinter den brutalen Angriffen gegen friedliche Demonstranten der Budapester "Gay Pride"-Parade. Jobbik will den Parallelstaat Hunnia mit eigenen Medien, einem eigenem Militär und eigenen Schulen begründen, befürchtet Zsolt Besenyei. "Sie folgt dem nordirischen Beispiel, indem sie eine Gegenmacht mit parallelen Institutionen gründet, das Land umtauft ('Ulster' für Nordirland, 'Hunnia' für die Republik Ungarn) und eine eigene paramilitärische Organisation gründet (siehe: Sinn Fein und die IRA). Die in den Parlamentswahlen von 2006 zusammen mit der rechtsradikalen Partei MIEP kandidierende kleine Partei hat einen neuen Parteichef und damit auch eine neue Strategie: sie kritisieren die [größte Oppositionspartei] Fidesz nicht mehr, weil sie hoffen, dass sie die rechtsradikalen Wähler zum Wahlsieg nicht brauchen wird. Gleichzeitig versucht Jobbik, alle Kräfte rechts von der Fidesz zu integrieren: jede antisemitische, zigeunerfeindliche, xenophobe, antikommunistische Gruppe, Organisation und Tischgesellschaft."
Archiv: Magyar Narancs

Times Literary Supplement (UK), 10.08.2007

Mit Schaudern hat Christopher Coker die Studie "Doomsday Men" von P. D. Smith' gelesen, die - inspiriert von Stanley Kubricks "Dr Strangelove" - die Geschichte von der reellen Suche nach der Wunderwaffe erzählt. Von Edward Teller über Wernher von Braun und Herman Kahn bis zur Doomsday-Maschine, über die Russland verfügen soll: "Aus Angst, ein von amerikanischen U-Booten aus lancierter Überraschungsangriff könnte Moskau in dreizehn Minuten auslöschen, hat die sowjetische Führung die Konstruktion eines automatischen Netzwerks autorisiert. Sein Herzstück ist ein Computersystem, das dem aus 'Dr. Strangelove' ganz ähnlich ist. Sein Codename lautet Perimetr. Seit Januar 1985 ist es in Betrieb, und es läuft noch immer. Seine Aufgabe ist es, zu beobachten, ob es nukleare Detonationen auf russischem Boden gegeben hat, und zu überprüfen, ob die Kommunikation zum Kreml abgebrochen ist. Wenn die Antwort auf beide Fragen 'Ja' lautet, wird der Computer zu dem Schluss kommen, dass das Land angegriffen ist und sein nukleares Arsenal aktivieren. Alles, was es dafür braucht, ist eine letztliche menschliche Bestätigung von einem Kommandoposten tief unter der Erde."

Voller Bewunderung David Martin über "All die vermeintlichen Zeichen einer sicheren und liberalen Zukunft, so wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen, gründen auf einem kontingenten historischen Fluss, der zu jeder Zeit seine Richtung ändern und sehr leicht in die Hegemonie eines chinesischen oder russischen totalitären Kapitalismus führen kann".

Besprochen werden außerdem John Grays neues Buch "Black Mass", in dem der Philosoph die "moderne Politik als weiteres Kapitel in der Geschichte der Religion" entlarvt und einmal mehr das Ende der Utopien beschwört, und Thierry Savatiers Geschichte des Courbet-Gemäldes "L'Origine Du Monde".

Foglio (Italien), 11.08.2007

Aus den Trümmern des Faschismus will Angiolo Bandinelli wenigstens den Architekten Luigi Moretti retten, der von 1933 bis 1937 im römischen Viertel Trastevere das Haus der faschistischen Jugendorganisation "Gioventu Italiana del Littorio" gebaut hat. "In der Mitte öffnet sich der Eingang zum Lichtspielhaus,damals ein integrativer Bestandteil der Bildungseinrichtungen des Komplexes, heute ein öffentliches Kino (ein paar Meter weiter liegt das noch viel berühmtere Kino Nuovo Sacher von Nanni Moretti). Links vom Turm weicht die Fassade sofort von der Ascianghi-Straße zurück, und öffnet sich überraschend in eine großzügige quadratische Einbuchtung, mit einer hohen glatten Wand, die eine Abfolge von Fenstern und Öffnungen von großer formaler Reinheit überragt."

Der größte Held Italiens ist immer noch eine Schlagzeile wert. "Die tausend (Leiden) des Garibaldi", betitelt Nicola Fano in Anspielung auf die legendäre Truppe des Revolutionärs seinen Artikel über die drei Ehen des ansonsten disziplinierten Patrioten. "Tausend Fehler. Tausend, dass scheint seine magische Zahl zu sein. Kurz bevor er sein Heer zusammenstellte, das ihn von Quarto über Marsala bis zu Neapel siegen lassen würde, hat er den schlimmsten menschlichen Fehler seines langen Lebens gemacht: er lief einem Heiratsvertrag hinterher, der ihn teuer zu stehen kam. Ich bin ein überzeugter Garibaldianer, aber um die Reinheit meiner Anbetung zu erhalten, muss ich diese nicht gerade sehr erbauliche Geschichte erzählen. Wenn Sie sie zu Ende gelesen haben, dann verstehen Sie, dass Garibaldi ein Mann und ein Italiener war. Was ihn als Helden nicht kleiner macht."

Weiteres: Maurizio Stefanini ist ganz fasziniert von den Oligarchen Asiens, über deren zurückgezogenes Leben er aus Joe Studwells Buch "Asian Godfathers: Money and Power in Hong Kong and Southeast Asia" erfährt. Alfonso Berardinelli würdigt den Schriftsteller Alberto Moravia, der vor hundert Jahren geboren wurde.
Archiv: Foglio

Outlook India (Indien), 20.08.2007

Outlook India feiert monothematisch Geburtstag - nämlich den sechzigsten des Landes nach der Befreiung aus britischer Kolonialherrschaft. Vinod Mehta zieht - ohne den Hinweis auf weiter bestehende Probleme zu vergessen - eine positive Bilanz der letzten Jahre: "In den vergangenen zehn Jahren haben Indiens vorsichtige Schritte in die schöne neue Welt der ökonomischen Reform und Globalisierung zu erfreulichen Ergebnissen geführt. Das ganze Gerede vom baldigen Status als 'ökonomische Supermacht' mag verfrüht und allzu pompös sein, aber der Schub für Selbstbewusstsein und Selbstachtung (am besten zusammengefasst im schrecklichen Slogan: 'Indien kann es') ist nicht zu leugnen. Für die Mittelschicht-Inder heißt das, dass sie mit erhobenem Kopf durch die Welt gehen könne, selbst wenn sie sich noch wie bibbernde boat people in die Schlangen internationaler Flughäfen einreihen müssen."

Eine Unzahl weiterer Artikel beleuchtet Geschichte und Gegenwart Indiens aus allen Richtungen. In einem Gastbeitrag betont die Sozialphilosophin Martha Nussbaum die Bedeutung von Bildung und Erziehung - und beklagt die Seelen- und Phantasielosigkeit in real existierenden indischen Bildungsinstitutionen. Khushwant Singh lässt die Geschichte in Englisch schreibender indischer Autoren Revue passieren. Ian Jack fragt, was Indien nach der Unabhängigkeit für England bedeutete. Es gibt eine kommentierte Liste mit sechzig Helden und eine mit elf Schurken. Ein Photoessay erinnert an unvergessene Liebesgeschichten. Nicht verschwiegen werden aber auch die Existenz von religiösem Fanatismus und seiner Opfer, von Sexsklaven und Gewalt.
Archiv: Outlook India

New Yorker (USA), 20.08.2007

Der Science-Fiction-Schriftsteller Philip K. Dick ist zu Klassikerehren gelangt, spätestens ein sechs Romane umfassender Band der "Library of America" beweist es. Adam Gopnik würdigt den Genre-Autor und seine postume Karriere: "Von allen amerikanischen Schriftstellern, ist keiner dem vom-Genre-Schreiberling-zum-unerkannten-Genie-Prozess so gründlich unterworfen worden wie Philip K. Dick, der in Kalifornien aufwuchs und lebte und seit den fünfziger Jahren insgesamt sechsunddreißig rasante Romane schrieb, in den frühen Siebzigern verrückt wurde und 1982 im Alter von nur dreiundfünfzig Jahren starb. Sein Ruf wuchs durch die zwei Möglichkeiten, die Genre-Autoren haben, um berühmt zu werden. Zum einen wurde er zur Inspiration für unzählige Filme (...). Dick wurde aber auch der Edgar Allan Poe unserer Zeit, und zwar als das scheiternde Genie, das uns einen eigenen Stil von Schrecken und Schauder schenkte. (In beiden Fällen haben es erst die Franzosen erkannt; die ersten guten Texte über Dick, wie über Poe, kamen aus Europa, speziell aus Paris.)"

Weitere Artikel: Paul Simms erzählt in einem Text von abgeklärtem Understatement von einer ziemlich komischen, wenn auch nicht unbedingt realen Nahtoderfahrung. David Denby hat im Kino die Filme "Superbad" und "Delirious" gesehen. Roger Angell schreibt über den neuen Home-Run-Rekord des wegen mutmaßlichen Steroid-Gebrauchs ins Zwielicht geratenen Baseball-Stars Barry Bonds.
Archiv: New Yorker

Al Ahram Weekly (Ägypten), 09.08.2007

Interessant findet Rania Khallaf die Essaysammlung von Safinaz Kazem zu großen Frauenfiguren der jüngeren ägyptischen Geschichte, auch wenn sie die politische Einstellung der bekannten Kolumnistin Kazem nicht teilen kann. "Natürlich wird Moussas Einstellung zum Schleier - Kazems eifrige, wenn nicht fanatische Rückkehr zu ihm hat die muslimische und politische Wiedergeburt der Autorin eingeleitet - besonders betont. 'Es war Moussa, die die Mädchenschule Banat Al-Ashraaf (Töchter der Nachkommen des Propheten) in Alexandria gegründet hat, 1919 an der Revolution beteiligt war und legendärerweise zusammen mit Hoda Sharawy and Seza Nabarawy auf die Internationale Frauenkonferenz in Rom 1923 fuhr. Als sie zurückkam, warf sie ihr islamisches Gewand aber nicht weg und trat darauf herum, wie es Hoda und Seza taten. Sie hält an ihrem Schleier bis zur letzten Minute ihres Lebens fest.' Aber man fragt sich doch: Hätte Kazem selbst nicht das Kopftuch angelegt und aufgehört, Männern die Hände zu schütteln, würde sie dann so viel über Moussa zu sagen haben?"

Und: Mohamed El-Assyouti schreibt den Nachruf auf Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni.
Archiv: Al Ahram Weekly

Weltwoche (Schweiz), 09.08.2007

Andre Müller erinnert sich in einem sehr schönen Text an ein Interview mit Ingmar Bergman im Juni 1976 in München. Der Meister stellte plötzlich eine Gegenfrage: "'Ich bin Regisseur, warum sind Sie Journalist?' 'Das kann ich jetzt nicht...', murmelte ich. 'Warum denn nicht?', fragte er. (...) Die verstörende Kunst Ingmar Bergmans hat mich für das meiste, was das Kino sonst zu bieten hat, untauglich gemacht. Das hätte ich ihm gerne gesagt, vielleicht sogar vorgeworfen, als er im Juni 1976 so unscheinbar in einer grauen Wolljacke über dem buntgemusterten Hemd vor mir saß. Er aber stellte mir diese Kinderfrage: Warum? 'Ich habe zu meinem Beruf ein gestörtes Verhältnis', sagte ich. 'Ja, warum denn?', insistierte er. 'Ich würde', antwortete ich, 'manchmal, anstatt zu fragen, lieber über mich etwas sagen.' Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, war er mir peinlich. Bergman aber, dieser Menschenfischer, reagierte begeistert: 'Ach so, ja, etwas Persönliches? Sie wollen kreativ sein? Dann sind wir ja nicht so weit weg voneinander. Sehr schön!'" (Das Interview nachlesen kann man auf Andre Müllers Homepage)

Weiteres: Einen wahrscheinlich hilflosen Aufschrei des Protests stößt Thomas Widmer gegen den "Terror auf dem Trottoir" aus, gegen Radfahrer, die sich um keine Ampel oder Verkehrsregel scheren, aber immer eine Miene "seelischer Verletztheit" zur Schau tragen. James Hamilton-Paterson schreibt einen Nachruf auf den Regenwald. Hugh Hewitt unterhält sich mit dem amerikanischen Journalisten John F. Burns über die Lage im Irak. Urs Gehriger und Sami Yousafzai liefern Hintergründiges zur Entführung der Südkoreaner in Afghanistan.
Archiv: Weltwoche

al-Sharq al-Awsat (Saudi Arabien / Vereinigtes Königreich), 08.08.2007

Muhammad Ali Salih erinnert an eine Rede von Laura Bush, die sie einen Monat nach Beginn des Anti-Terror-Krieges in Afghanistan gehalten hat. "Der Krieg gegen den Terror ist auch ein Krieg gegen die Unterdrückung der Frau", hatte sie erklärt. Für Ali Salih ist dieser Krieg gescheitert. Er nimmt dies zum Anlass, um auf zwei Einwände hinzuweisen, welche von der amerikanisch-palästinensischen Soziologie-Professorin Laila Abu-Lughod gegen Laura Bush in Stellung gebracht wurden: "Erstens haben die westlichen Länder viele islamische Länder über lange Zeit kolonialisiert und wären in dieser Zeit in der Lage gewesen, selbst etwas für die "Entwicklung' der Frauen (zum Beispiel durch die Eröffnung von Mädchenschulen) zu tun. Der Westen trägt daher ein Stück der Verantwortung für die 'Rückschrittlichkeit' der Frau in den islamischen Ländern. Zweitens wäre es den Amerikanern möglich gewesen, statt einer 'militärischen Lösung' eine 'menschliche Lösung' zu wählen. Sie wären in der Lage, den muslimischen Frauen Bildung und Gesundheitsversorgung zu verschaffen. Sie wären in der Lage, die Tyrannei der Herrschenden zu brechen, nicht nur jene über die muslimischen Frauen, sondern auch über die muslimischen Männer."

Economist (UK), 10.08.2007

Der an der Florida State University lehrende Historiker Robert Gellately hat eine vergleichende Diktatorenstudie über "Lenin, Stalin, and Hitler" geschrieben. Um Relativierung geht es dabei aber nicht, meint der Economist: "Mit Ernst Nolte will sich Gellately dabei nicht lange aufhalten. Er beschuldigt ihn einer 'erstaunlichen und verwerflichen Reproduktion von Nazi-Rhetorik'. Nur weil viele Kommunisten Juden waren, steckt noch lange kein rationaler Kern in Hitlers ständiger Rede von 'jüdischem Bolschewismus'. Der Anti-Semitismus, insistiert Gellately, war 'im deutschen Nationalismus verwurzelt'."

Besprochen wird außerdem die englische Übersetzung des vom französischen Islamwissenschaftler Olivier Roy verfassten Buches "Secularism Confronts Islam" ("Die Konfrontation von Säkularismus und Islam"). Roy sieht nicht den Islam, sondern neue Formen tendenziell fundamentalistischer Religiosität als eigentliche Herausforderung für den Westen: "In Wahrheit betrachten konservative Muslime Sex und Familie im wesentlichen ganz ähnlich wie konservative Christen und Juden. Roy spricht sich dafür aus, das der Staat in allen Fällen dieselbe Haltung einnimmt - nämlich zwischen moralischen Werten und gesetzlichen Normen zu unterscheiden. Diejenigen, die Abtreibung oder schwulen Sex als Verbrechen betrachten, müssen nicht ihren Überzeugungen abschwören, sondern nur das Gesetz befolgen."

Weitere Artikel beschäftigen sich mit dem Filmfestival von Locarno, dem in New York mit großem Erfolg aufgeführten Stück "Masked" des israelischen Autors Ilan Hatsor, Peter Abbs' Gedichtband "The Flowering of Flint" und Rosemarie Hills Biografie des Erbauers historistischer gotischer Kathedralen des 19. Jahrhunderts, Augustus Pugin (Bilder hier, hier und hier). Einen Nachruf gibt es auf den irischen Folk-Sänger Tommy Makem. Die Titelgeschichte stellt die Frage: "Bewegt sich Amerika nach links?" Die Antwort: Wahrscheinlich schon, aber selbst Hillary Clinton ist in zentralen Fragen noch "rechter" als die europäischen Konservativen.
Archiv: Economist

Nepszabadsag (Ungarn), 08.08.2007

Bei der Biennale in Venedig gibt es in diesem Jahr zum ersten Mal einen Pavillon, in dem die Kunst einer Minderheit - der in mehreren europäischen Ländern lebenden Roma - ausgestellt wird. Mit dabei ist der britische Künstler Daniel Baker, der im Interview mit Agnes Bihari über seine Identität und seine Kunst spricht. "Ich bin ein Rom, das ist keine Frage, aber ich bin gleichzeitig ein Engländer. So geht uns allen, oder? Wir alle haben mehrere Elemente unserer Identität, von denen eines in den Vordergrund rückt. ... Ich male nicht auf Leinwände, sondern auf Spiegelflächen. Sie weisen auf den imaginären Ort hin, den die Gesellschaft den Roma zugedacht hat. Wir werden nie so gesehen, wie wir in Wirklichkeit sind. Wir erscheinen entweder als ein gesellschaftliches Problem, oder als romantische, leicht mystifizierte Gestalten mit einer Geige oder ähnlichen Requisiten."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Geiger, Roma, Venedig

New York Times (USA), 12.08.2007

Ada Calhoun ist begeistert, wie Karen Abbot in ihrer Geschichte des einst mondänsten Bordells der USA die gegenseitige Abhängigkeit von Hedonismus und Puritanismus beschreibt. "Im brutalen Rotlichtbezirk von Chicago zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfuhren die meisten Hurenhäuser nach dem Prinzip 'Effizienz statt Fantasie'. Im Everleigh Club jedoch, einem Doppelhaus in der South Dearborn Street, trugen die 'Schmetterlinge' Abendkleider, aßen Bonbons und lasen Balzac. Das Haus verfügte über drei Streichorchester, einen mit Parfüm gefüllten Brunnen, Spucknäpfe aus 18-karätigem Gold und dreißig opulente, themenbezogene Schlafzimmer, ausgestattet mit Extras wie einer lebensgroßen Abbild von Kleopatra oder einer Anlage, um Feuerwerkskörper abzubrennen. Die Patroninnen, Ada und Minna Everleigh, bestanden darauf, dass sich hier 'ein Mann nie bedrängt oder betrogen, desillusioniert oder allein' fühlen sollte."

Ziemlich ungnädig verfährt Christopher Htichens mit dem Finale von J.K. Rowlings "Harry Potter". Auch wenn seine Tochter die Lektüre offenbar genossen hat, stößt dem Vater einiges auf. "Woher kommt das Böse? Diese Frage bleibt die gleiche, wenn man sie manichäisch umdeutet: Wie können Voldemort und seine bösen Truppen derartige Macht haben, es aber nicht hinbekommen, einen sanften und ziemlich schlecht organisierten Schuljungen zu zerstören? In einer Kurzgeschichte könnte man mit dieser Unstimmigkeit leben und sie schnell in die eine oder andere Richtung auflösen. Aber im Verlauf von sieben Büchern verliert das Rätsel jedenfalls für den Leser an Faszination, und in seiner letzten Episode wird das Ganze ziemlich nervig. Gibt es wirklich keinen Death Eater oder Dementor, der den simplen Vorteil des Überraschungseffekts begreift?"

Weiteres: Amerigo Vespucci, immerhin Namenspate der Weltmacht, war nicht gerade ein Vorbildcharakter, erfährt Nathaniel Philbrick aus Felipe Fernandez-Armestos "wundervoll idiosynkratischer und intelligenter" neuer Biografie. "Wie sich herausstellte, wurde Amerika - diese Nation notorischer Hökerer, Träumer und Spin Doctors - genau nach dem richtigen Typ benannt." Besprochen werden außerdem Richard Klugers Frühgeschichte der Vereinigten Staaten und Christine Kenneallys Suche nach dem Grund der menschlichen Sprache.
Archiv: New York Times