Magazinrundschau

Garri Kasparow: Warum ich noch nicht tot bin

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
25.09.2007. Andrzej Wajdas Film über Katyn ist kein origineller, aber doch ein nützlicher Film, meint Przekroj. Der Espresso berichtet über ein unbekanntes Dokument von Primo Levi. Im Harvard Magazine fordert Stephen Greenblatt ein drittel Mut zum Risiko von einem Wissenschaftler. Der Guardian feiert Georg Baselitz. Im New Yorker erklärt Garry Kasparow, warum er noch nicht tot ist. In ADN cultura erklärt der Schriftsteller Martin Caparros, was eine literarische Reportage auszeichnet. Die Gazeta Wyborcza freut sich über tschechische Wärme in polnischen Filmen. Im Nouvel Obs erklärt sich Hans Magnus Enzensberger zum teilnehmenden Beobachter von 68. In der Weltwoche gibt Björn Lomborg Schmetterlingen den Vorzug vor Bären. Die New York Times porträtiert Michael Haneke als Minister of Fear.

Przekroj (Polen), 20.09.2007

Pünktlich zum Jahrestag des sowjetischen Überfalls auf Polen am 17. September 1939 und von großem Medienrummel begleitet kam Andrzej Wajdas neuer Film "Katyn" in die Kinos. Ambivalent bewertet Malgorzata Sadowska das Werk: "Es ist kein großartiger Film, nicht sehr originell oder innovativ. Es ist aber ein nützlicher Film - gekonnt, klar und ohne zu sehr auf Einzelheiten einzugehen zeigt er die Umstände des Mordes in Katyn und seine Konsequenzen, die noch Jahre nach dem Ende des Krieges andauerten". Dennoch zweifelt die Rezensentin nicht: "Der Film, unter anderem dank der abschließenden Sequenz über die Erschießungen, wird in die Geschichte des polnischen Kinos eingehen".

Im polnischen Wahlkampf sind plötzlich Frauen zum Thema geworden - allerdings vor allem dadurch, dass die Ehefrau des prominenten konservativen Oppositionspolitikers Jan Rokita für die Kaczynski-Partei "PiS" kandidiert. "Dass die PiS auf Frauen setzt, hat nicht zuletzt mit dem Auftauchen der Frauen-Partei der populären Schriftstellerin Manuela Gretkowska zu tun. Neben diesen aktiven und erfolgreichen Frauen gibt es auch eine Menge frustrierter, die ums Überleben kämpfen. Eben jenen Wählerinnen bieten andere Parteien solche Slogans wie Schutz der Familie und der Ärmeren, Unterstützung bei der Erziehung und Chancengleichheit. Angesagte Slogans - aber nur im Wahlkampf", schreibt ernüchtert Aleksandra Pawlicka.
Archiv: Przekroj

Espresso (Italien), 20.09.2007

In den Archiven von Yad Vashem ist jetzt ein Dokument aufgetaucht, in dem der Schriftsteller Primo Levi im Vorfeld der Eichmann-Prozesse seinen Werdegang im Krieg dokumentiert hatte, vom Widerstand bis zum Lager in Auschwitz. Der Espresso druckt es exklusiv. "Als wir am 18. Februar erfuhren, dass die deutsche SS im Ort eingetroffen war, waren wir alle sehr beunruhigt, und tatsächlich verkündeten sie uns am nächsten Tag, dass wir binnen 24 Stunden abreisen würden. Niemand versuchte zu fliehen. Sie luden uns auf Viehwagen, auf denen 'Auschwitz' stand, ein Namen, der uns in diesem Augenblick nichts sagte... Die Reise dauerte dreieinhalb Tage." Levi benennt in dem Schriftstück zum ersten Mal Namen von seinen Mitkämpfern und Gegnern, wie der Literaturwissenschaftler Marco Belpoliti im beigefügten Kommentar bemerkt.
Archiv: Espresso

Harvard Magazine (USA), 01.10.2007

In seiner im letzten Jahr gehaltenen, nun veröffentlichten Gordon Gray Lecture gibt der eminente Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt einen aufschlussreichen Einblick in die eigene Schreibwerkstatt. Es geht darum, wie man so anfängt, dass der Leser weiterlesen will, um die Anstrengung der Anstrengungslosigkeit und auch den Sinn oder Unsinn des Aktualitätsbezugs: "Ich glaube überhaupt nicht, dass alles, was man schreibt, einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart haben sollte. Ganz im Gegenteil gehört es zu den entscheidenden Leistungen einer liberalen Erziehung, Welten zu verstehen, die von der eigenen weit entfernt sind... Ich plädiere auch nicht dafür, die Fernsehnachrichten ständig laufen zu lassen, während man an einem Aufsatz schreibt. Man sollte nur, finde ich, versuchen, gut zu schreiben - und das heißt, dass die eigene Aufmerksamkeit, die eigenen Ängste und Wünsche immer mit im Spiel sind. Und gelegentlich, sagen wir in jedem dritten Aufsatz, sollte man es wagen, etwas zu riskieren."
Stichwörter: Greenblatt, Stephen

Guardian (UK), 23.09.2007

In der Royal Academy in London ist die erste große Retrospektive des Malers Georg Baselitz in Großbritannien zu sehen. Ihr Kurator Norman Rosenthal feiert Baselitz als einen der großen Meister unserer Zeit: "Wenn ich auf die vielen Jahre zurückblicke, die ich Baselitz und seine Kunst nun schon kenne, scheint mir eine verblüffende Ähnlichkeit mit Picasso unübersehbar. In ihren ersten Jahren schufen beide Maler Werke, die aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstanden, und deren Intensität ihnen Angst machte. Beide borgen von anderen und verwenden existierende Ideen rücksichtslos für ihre eigenen Zwecke. Picasso bediente sich unter anderem bei Raffael, Ingres, Delacrois und Cezanne. Baselitz, der von Cranach, Pontormo, Goltzius, Munch, Kirchner und Picasso selbst gelernt hat, hat auch Affinitäten beim rauhen, anti-traditionellen, anarchischen Stil des jungen Cezanne entdeckt... Baselitz' Karriere zeichnet sich, wie die Picassos, durch intensive Perioden der Aktivität aus, die meist in einem 'heroischen' Meisterwerk oder einer Gruppe von Meisterwerken gipfeln, worauf dann eine verblüffende Erneuerung folgt."
Archiv: Guardian

Al Hayat (Libanon), 23.09.2007

Für keineswegs übertrieben hält Wahid Abd al-Majid die Warnungen des amerikanischen Botschafters bei der Uno, Zalmay Khalilzads. Angesichts der Krisen im Nahen Osten hatte Khalilzad von der Gefahr eines globalen Konflikts gesprochen. Für Abd al-Majid ein durchaus realistisches Szenario: "Was all die Krisen (in der Region) heute miteinander verbindet, ist der Konflikt um die Identität des Nahen Ostens und dessen Zukunft - und damit auch um seinen Platz und seine Rolle in der Welt. Es ist ein Konflikt zwischen denjenigen, die möchten, dass der Nahe Osten sich in die herrschenden Strömungen der Welt eingliedert, und denjenigen, die das zu verhindern trachten. Die Kämpfe, die mit diesem Konflikt zusammenhängen, reichen von den beiden 'inneren' Krisen im Libanon und Palästina über den irakischen 'Holocaust' bis hin zum iranischen Atomprogramm, das einen besonderen Platz in diesem Konflikt einnimmt." Auf internationaler Ebene stünden sich schließlich die USA, der Iran in einem Zweckbündnis mit Russland und al-Qaida gegenüber: "Dies wäre, sollte es dazu kommen, eine völlig neue Konstellation. Es wäre ein globaler Krieg zwischen drei Seiten, von denen es schwer vorstellbar ist, dass sich zwei von ihnen zusammenschließen oder auch nur miteinander kooperieren."
Archiv: Al Hayat

Outlook India (Indien), 01.10.2007

Die Schriftstellerin Arundhati Roy mischt sich in gewohnt scharfer Manier ein in einen Streit um Kritik am ehemaligen Verfassungsrichter YK. Sabharwal. Ihm wird vorgeworfen, zu Amtszeiten an einem Urteil beteiligt gewesen zu sein, das seine Söhne geschäftlich bevorteilt. Der eigentliche Skandal ist nun, dass der Zeitung, die darüber berichtet hat, der Prozess wegen Missachtung des Gerichts gemacht wurde. Roy meint dazu: "Da haben wir es jetzt mit einer ganz neuen Denkschule zur 'Missachtung des Gerichts' zu tun: Fiebernde Interpretationen eingebildeter Beleidigungen nicht namentlich genannter Richter. Hoppla! Wir sind im La-la-Land... Wenn die Regierung oder die Gerichte nichts unternehmen, den Skandal aufzuarbeiten, wird eine Gruppe von Anwälten und ehemaligen Richtern ein öffentliches Tribunal veranstalten und das ihnen vorgelegte Beweismaterial beurteilen. All das geschieht. Die Sache ist in der Welt - und es wurde Zeit."
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Roy, Arundhati, Der Prozess

Al Ahram Weekly (Ägypten), 20.09.2007

Salah Eissa sieht einen Konstruktionsfehler im Traum der Islamisten von der Rückkehr zu einer goldenen Vergangenheit - diese goldene Vergangenheit lebte nämlich gerade davon, dass sie allem Neuen zugewandt blieb: "Das fundamentalistische Projekt hat eine Achillesferse. Es präsentiert den Traum der Wiederbelebung des ruhmreichen islamischen Reiches, ignoriert aber die Tatsache, dass diese Reich nur blühen konnte, weil es für andere Kulturen und Zivilisationen offen war. Das gilt für die muslimischen Rechtsgelehrten und Theologen, die offen waren für den Dialog und die Anwendung der Vernunft im Licht der Veränderungen und Herausforderungen der Wirklichkeit der Gegenwart und so eine ständige Quelle der Inspiration und Erneuerung waren. Umgekehrt begann der Niedergang der islamischen Zivilisation, als man sich der Anwendung der Vernunft und der Unabhängigkeit des Denkens verschloss."

Weitere Artikel: Galal Nassar deutet die US-Politik gegenüber dem arabischen Raum als eklatanten Fall von Neo-Orientalismus. Salonaz Sami stellt die Fernsehserie "Qadeyat Ra'i A'am" (Ein Fall für die Öffentlichkeit) vor, die sich an die Tabuthemen sexuelle Belästigung und Vergewaltigung wagt.
Archiv: Al Ahram Weekly

New Yorker (USA), 01.10.2007

In Moskau traf David Remnick den ehemaligen Schachweltmeister Garry Kasparow, der sich mit Vladimir Putin anlegt und auf dessen Macht zielt. "Kasparow ist sich den Gefahren frecher Unabhängigkeit wohl bewusst. Wenn er sich in Russland aufhält, bemüht er ein Sicherheitsaufgebot, das ihn Zehntausende Dollar im Monat kostet. (...) Als ich ihn fragte, ob er um sein Leben fürchte, nickte er ernst und sagte: ,Ja. Alles, was ich tun kann, ist zu versuchen, mein Risiko zu mindern. Ausschalten kann ich es nicht. Sie überwachen alles, was ich in Moskau tue, oder wenn ich nach Murmansk oder Woronesch reise. Ich esse und trinke nichts an Orten, die ich nicht kenne, und vermeide es, mit Aeroflot zu fliegen. Das hilft letztlich gar nichts, wenn sie wirklich hinter einem her sind. Aber wenn, wäre das wirklich schwierig, nicht nur wegen der Bodyguards. Der Kreml ginge ein gewaltiges Risiko ein, sollte mir, Gott behüte, etwas passieren. Nicht, weil sie allergisch gegen Blut wären, aber es würde ein schlechtes Image erzeugen - oder das jetzige noch weiter verschlechtern."

Weiteres: John Updike bespricht den neuen Roman "Run" von Ann Patchett. Anthony Lane sah im Kino den Thriller "The Kingdom" von Peter Berg und den Western "The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford" von Andrew Dominik mit Brad Pitt. Zu lesen sind außerdem die Erzählung "The Insufferable Goucho" von Roberto Bolano und Lyrik von Deborah Warren und Jason Shinder.

Nur im Print: ein Bericht über das Manahatta-Projekt zur historischen Rekonstruktion der Insel von 1609 und ein Gespräch zwischen Philip Roth und Hermione Lee über das Altern.
Archiv: New Yorker

ADN cultura (Argentinien), 22.09.2007

Krise und Reflexion: Einen kleinen Boom erlebt seit kurzem 'la cronica', die literarische Reportage in Argentinien (s. a. hier und hier). Einer ihrer Protagonisten, der Schriftsteller Martin Caparros, analysiert das Phänomen: "Eine erste Definition: Reportage ist das, was unsere Tageszeitungen immer seltener anbieten. Wer nicht reich oder berühmt oder reich und berühmt ist, hat bestenfalls als Opfer einer Katastrophe die Möglichkeit, in der Zeitung zu erscheinen. Einer guten Reportage gelingt es dagegen, Leser für Fragen zu interessieren, die ihn eigentlich überhaupt nicht interessieren. Die Zeitungsprosa tut so als gäbe es keinen Erzähler, als informierte sie neutral über die 'Wahrheit'. Dagegen besteht die literarische Reportage auf einem Ich, das Verantwortung übernimmt: Ich habe es gesehen, ich habe es erlebt, ich habe mir Gedanken dazu gemacht."

Außerdem: Alicia de Arteaga stellt BerlinBuenosAiresArtXchange07 vor, die Fortsetzung einer großen deutsch-argentinischen Kunstschau, deren erster Teil 2004 unter dem Titel notango in Berlin stattfand.
Archiv: ADN cultura

Gazeta Wyborcza (Polen), 22.09.2007

Soeben ist das 32. Polnische Filmfestival in Gdingen zu Ende gegangen, und Tadeusz Sobolewski ist erleichtert: "Wir sahen ein neues Antlitz des polnischen Kinos. Die Tonlage verändert sich - eine Klimaerwärmung naht. Polnische Filme übernehmen Charakteristika des tschechischen Kinos, die wir immer bewundert haben: erwärmenden, ironischen Humor, Abstand und gleichzeitig bejahender Blick auf die Wirklichkeit, Sinn fürs Lokale". Auch wenn politische und gesellschaftliche Themen nicht gänzlich weggelassen werden, heißt die Devise: Ende der Traurigkeit!
Nachdem Andrzej Stasiuk die düsteren Regionen Europas beschrieben hat, wendet er sich "Dojczland" zu. In einem Auszug aus seinem demnächst erscheinenden Buch outet sich Stasiuk sogar als DDR-Nostalgiker: "Ich mochte die DDR. In der DDR passte mir alles, außer den Skinheads. Wenn ich je daran gedacht hatte, Ferien in Deutschland zu machen, dann in Mecklenburg. Die DDR ist der 'missing link' zwischen Germania und Slavonica, es ist ein verirrter Stamm - ob germanisch oder slawisch, wird keiner mehr entscheiden können. Die DDR ist der Moment, wo die Deutschen etwas locker lassen." (Genau, vor allem in Bautzen und an der Mauer!)
Archiv: Gazeta Wyborcza

Economist (UK), 22.09.2007

In China kommt es in auffälliger Häufung zu Attentaten an Schulen. Vieles, meint er Economist, deutet darauf hin, dass es sich um ein Zeichen für die Probleme einer sich entsolidarisierenden Gesellschaft handelt. "Am 13. September warf ein Mann in einer Kleinstadt in Zentralchina sechs Kinder vom Balkon ihrer Schule. Ein neun Jahre altes Mädchen starb dabei, zwei andere wurden schwer verletzt... Diese letzte Attacke in Hongqiao in der Provinz Hunan war mindestens die fünfte ihrer Art seit Mitte Juni. In den anderen Fällen drangen Erwachsene mit Messern oder, in einem Fall, einem Sechskantschlüssel auf das Schulgelände ein. Vier Kinder starben und rund 30 wurden verletzt... Experten sagen, dass die einsamen Attentäter oft Menschen sind, die sich in einer Gesellschaft, in der es vielen anderen viel besser geht als ihnen, ohnmächtig und entfremdet fühlen."

Weitere Artikel: Zum Beginn einer Serie zu den Folgen des 11. September für die freiheitliche Gesellschaft fragt ein Artikel "Ist Folter je gerechtfertigt?". In London hat ein Flagship-Store des Playboy eröffnet, in dem es aber geradzu beängstigend sauber und gesittet zugeht.

Besprochen werden Alan Greenspans "unerwartet gut lesbare" Autobiografie, Eric D. Weitz' Geschichte der Weimarer Republik in einem Band und das neueste - nach Ansicht des Economist eher enttäuschende - Buch des Sprachwissenschaftspopularisierers Steven Pinker.
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 20.09.2007

Anlässlich des Erscheinens einer Erzählung ("Josephine et moi", Gallimard) und eines Sammelbands mit Gedichten gibt Hans Magnus Enzensberger Auskunft über Deutschland, Nazismus und Terrorismus und seinen intellektuellen Lebensweg. Kenner seiner Kursbuch-Schriften und anderer Äußerungen aus der Zeit um 1968 dürfte seine heutige politische Positionierung von damals ein wenig erstaunen: "1968 galt ich als Enfant terrible der Linken. Das ist ulkig, denn in diesem Jahr war ich zehn Jahre älter als die militanten Linksextremen aller Mikroorganisationen. Ich hatte Teil an dieser Bewegung, die die Sitten erschütterte und die in Deutschland zwanghafte Autoritätsfrage ins Zentrum der Debatte rückte. Die Ethnologen sprechen von 'teilnehmender Beobachtung'. In genau dieser Haltung war ich in der Bewegung dabei. Ich war Beobachter. Ich habe die meisten der späteren deutschen linksextremen Terroristen gekannt. Sie wollten mich anwerben. Ich versuchte, sie als Marxist zur Vernunft zu bringen: 'Eure Analyse ist wahnsinnig. Es stimmt nicht, es gibt keine revolutionäre Lage. Lernt die Geschichte.' Aber sie waren in einem Teufelskreis gefangen."

Weltwoche (Schweiz), 20.09.2007

Manche Wissenschaftler sagen, im Jahr 2040 werde es im Sommer kein Eis mehr am Nordpol geben. Den Dänen Björn Lomborg schreckt das im Interview nicht: "Das könnte ein Problem sein, aber es wird auch einen Boom bedeuten. Es wird ein Problem für Eisbären und viele andere Lebewesen. Man muss aber auch sagen, dass die Biodiversität damit reicher wird. Es wird mehr Schmetterlinge, mehr Vögel geben. Ja, wir werden weniger Bären sehen. Aber es wird ein Glück sein für Grönland. Man wird dort plötzlich selbst Lebensmittel herstellen können, man wird neue, kürzere Schiffsrouten öffnen können. Ich hätte auch lieber eine Arktis mit viel Eis, wie wir sie kannten. Aber zu sagen, mit der Eisschmelze käme die Katastrophe über die Gegend, ist einfach nicht richtig."

Angriffslustig nimmt Weltwoche-Bundeshaus-Chef Urs Paul Engeler die Uniformisierung der Schweizer Medien aufs Korn: "Was der tägliche Mainstream ist, möchte ich an einem Beispiel erklären. Fast auf den Tag genau vor 23 Monaten hatte ich einen Auftritt vor PR-Leuten und schlenderte nach Vortrag und Fragerunde an einem Kiosk vorbei. Die Schlagzeilen und Haupttitel, mit denen alle Zeitungen von Blick über Tages-Anzeiger, NZZ, Aargauer Zeitung, Berner Zeitung, Basler Zeitung, St. Galler Tagblatt bis Le Temps und Neue Luzerner Zeitung warben, haben mich derart beeindruckt, dass ich sie mir sofort notiert habe. Sie lauteten:
'Es braucht 50000 Krippenplätze'
'Es fehlen 50000 Krippenplätze'
'50000 Plätze in Krippen fehlen'
'Der Beweis: Es fehlen 50000 Plätze für Kinder'
'Gesucht: 50000 neue Krippenplätze'
'Il manque 50000 places en garderie'
'50000 Kinder ohne Krippenplatz'
'In der Schweiz fehlen 50000 Krippenplätze'."
Es versteht sich, dass einzig die Weltwoche sich dem entgegensetzt: "Nicht aus Besserwisserei, sondern aus der Sorge um die Tradition einer echten offenen Gesellschaft."

Außerdem stellt Julian Schütt die autobiografischen Aufzeichnungen von Marguerite Duras vor. "Marguerite Duras pervertierte die humanistischen Ideale in den 1940er Jahren, doch das Ungeheuerlichste ist, dass ihr das als Autorin nicht geschadet hat. Vielmehr ist ihre Prosa, was sich in den nun erscheinenden 'Heften aus Kriegszeiten' bestätigt, immer dann faszinierend, wenn Duras moralisch unkorrekt, mit ausgeprägtem Sinn für Schamlosigkeit schreibt, wenn sie ihre ganze Bosheit hergibt, wenn sie statt Zeilen Striemen auf dem Papier hinterlässt."
Archiv: Weltwoche

Times Literary Supplement (UK), 19.09.2007

Der Historiker Niall Ferguson geht recht hart mit "Fateful Choices", dem jüngsten Buch seines Kollegen Ian Kershaw ins Gericht. Kershaw stellt zehn weltgeschichtlich wichtige Entscheidungen der Jahre 1940 und 1941 dar, verzichte aber ganz darauf, mögliche Alternativen darzustellen: "Wollte man einem Einführungsseminar vor Augen führen, wie Historiker konventionellerweise mit dem Problem der Verursachung umgehen, wären diese zehn Essays bestens geeignet. In jedem einzelnen beginnt Kershaw mit einer Zusammenfassung der Entscheidung und ihrer Implikationen. Dann geht er - ganz wie E.H. Carr es in 'Was ist Geschichte?' (1961) empfiehlt, in der Geschichte zurück, um die Ereigniskette aufzudecken, die zu dieser Entscheidung führte. Alternativen werden nur in Betracht gezogen, um an ihnen zu verdeutlichen, dass sie keine wirklichen Alternativen waren und deshalb mit Notwendigkeit verworfen worden sind. Kershaws Gelehrsamkeit ist über jeden Zweifel erhaben. Die philosophischen Voraussetzungen seiner Essays sind jedoch entschieden antiquiert."

Weitere Artikel: Edith Hall stellt nach Lektüre von Ryszard Kapuscinskis postum erschienenem Buch "Travels With Herodotus" fest: "Es kann keine bessere Einführung in Herodots Geschichtsschreibung für das breite Publikum gegen als diese lebendigen Memoiren." Clive Sinclair bespricht den Neo-Western "3:10 to Yuma".

Point (Frankreich), 20.09.2007

"Stoppt Hortefeux!" fordert Bernard-Henri Levy in seinen Bloc-notes, in denen er sich über Maßnahmen des Einwanderungsministers Brice Hortefeux - darunter DNA-Tests bei Einwanderern zur Feststellung von Familienzusammenghörigkeiten - aufregt. "Die zweite, vielleicht noch schlimmere Sache desselben Ministers ist seine Vorladung eines 'Dutzends' von Präfekten, die 'nicht auf die Anzahl' gekommen sind - das heißt: die nicht die Anzahl an Ausweisungen von illegalen Einwanderer vorwiesen, die für die Zielvorgabe von 25.000 Ausweisungen pro Jahr gefordert sind... Alles an dieser Geschichte ist unerträglich. Allein die Idee der Anzahl. Eine Zahl, wo sie nicht hingehört. Die Tatsache, dass Menschen wie Fleischstücke behandelt werden, wie Waren. Diese Sprache der Statistik und Technik in einem Bereich der Politik."
Archiv: Point
Stichwörter: Levy, Bernard-Henri

New York Times (USA), 23.09.2007

"An manchen Momenten kann eine Konversation mit Haneke sich anfühlen wie ein verborgenes Treffen mit dem Anführer der Filmbefreiungsfront", gibt John Wray im New York Times Magazine zu. Aber das ist auch fast sein einziger Kommentar in einem großen und ausführlichen Porträt des österreichischen Filmregisseurs Michael Haneke, der mit dem US-Remake seines Films "Funny Games" gerade seinen ersten Film in Amerika gedreht hat. Befragt zu seinem Verhältnis zur Gewalt, verweist Haneke auf das Problem, das er mit "Pulp Fiction" hat: ""Das Problem liegt im Komischen - hier ist eine Gefahr, denn der Humor macht die Gewalt konsumierbar. Humor dieser Art ist in Ordnung, sogar nützlich, so lange er den Betrachter dazu zwingt, darüber nachzudenken, warum er lacht. Das aber geschieht in 'Pulp Fiction' nicht."

In der Titelgeschichte porträtiert Jeffrey Rosen den mit 87 Jahren ältesten, mit 32 Jahren im Amt auch dienstältesten und vielleicht liberalsten unter den Richtern des Supreme Court, John Paul Stevens: "In Strafrechts- und Todesstrafen-Fällen hat Stevens öfter gegen die Regierung und zugunsten des Einzelnen gestimmt als irgendein anderer der amtierenden Richter. Er gibt mehr abweichende Meinungen zu Protokoll als irgendeiner seiner Kollegen. Er ist der ausdrücklichste Verteidiger der Notwendigkeit der gerichtlichen Überprüfung der Exekutive. In der jüngeren Vergangenheit hat er die Mehrheitsmeinungen in zwei der wichtigsten Urteile verfasst, die gegen die Behandlung von Verdächtigen im Krieg gegen den Terror durch die Bush-Regierung ergingen."
Archiv: New York Times