Magazinrundschau

Burhan Ghalioun: Die Verschwörungstheorie ist unser Feind

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.11.2007. In der New York Review of Books blickt Sergei Kowaljow deprimiert auf das byzantinische System Putin. In al-Sharq al-Awsat erklärt der französisch-syrische Soziologe Burhan Ghalioun die Verschwörungstheorie zum Feind aller arabischen Länder. In der Gazeta Wyborcza erklärt der Philosoph Bronislaw Lagowski, warum die Linke im polnischen Volk nicht ankommt. In Le Point weist Philip Roth jeden Versuch, eine Erektion auf eine Trivialität zu reduzieren, entschieden zurück. Im New Statesman beschreibt Wole Soyinka die Manuskript-Illuminationen auf afrikanischen Lastwagen. Das TLS kritisiert selbstsüchtigen, antidemokratischen Kaffeekonsum. Im Economist wirft Gott eine Handgranate.

New York Review of Books (USA), 22.11.2007

Ziemlich resigniert blickt der Oppositionspolitiker und Vorsitzende der Andrei-Sacharow-Stiftung, Sergei Kowaljow, in Russlands Zukunft, das Wladimir Putin auch künftig (wahrscheinlich als Ministerpräsident) beherrschen werde: "Was soll man tun, wenn man dieses byzantinische System der Macht nicht akzeptieren kann? Sich zurückziehen in die Katakomben? Warten, bis sich wieder genug Energie für eine neue Revolte angesammelt hat? Eine Revolte forcieren und dabei eine 'orange Gefahr' beschwören, die Putin und seine Verbündeten seit den ukrainischen Wahlen 2004 benutzen, um die Menschen und sich selbst einzuschüchtern? Sich auf Forderungen nach ehrlichen Wahlen konzentrieren? Die mühsame Aufklärungsarbeit fortsetzen, um die Sicht der Menschen zu verändern? (...) Ich fürchte, dass nur wenige von uns die Wiedereinführung von Freiheit und Demokratie in Russland noch erleben werden. Trotzdem sollten wir im Kopf behalten, dass 'der Maulwurf der Geschichte seine Gänge unbemerkt gräbt'."

Weitere Artikel: Peter Matthiessen weist darauf hin, dass durch das Schmelzen des arktischen Eises nicht nur die niedlichen Eisbären bedroht sind, sondern auch Inuit wie die vom Walfang lebenden Inupiat. John Terborgh widmet sich der Tragödie des Amazonas, mit dessen Abholzung nicht nur ein enormer Waldbestand verloren geht, sondern auch ein unvergleichlicher Artenreichtum, Hunderte von indigenen Stämmen und gewaltige Vorräte an Kohlenstoff. Für Michael Tomasky hat sich New-York-Times-Kolumnist Paul Krugman mit seinem Buch "The Conscience of a Liberal" als "beständigster und couragiertester" Partisan der Linken etabliert.

Besprochen werden Richard Pevears und Larissa Volokhonskys neue Übersetzung von Tolstois "Krieg und Frieden" ins Englische, Katha Pollitts Erzählungen "Learning to Drive" und eine "Lucia di Lammermoor"-Inszenierung von Mary Zimmerman an der New Yorker Met.

al-Sharq al-Awsat (Saudi Arabien / Vereinigtes Königreich), 31.10.2007

Burhan Ghalioun, ein syrischer Soziologe, der seit drei Jahrzehnten in Paris lebt, beschwört im Gespräch die Notwendigkeit politischer und kultureller Reformen in den arabischen Ländern (siehe auch hier). Ein Hindernis für den gesellschaftlichen Wandel sieht er in dem weitverbreiteten Denken, Opfer einer Verschwörung zu sein. "Der Begriff der Verschwörung ist nicht völlig falsch. Das Problem ist nur, dass er uns zu einem ewigen Opfer macht. Er verhindert, dass wir uns darüber Gedanken machen, was wir tun könnten, um nicht Opfer zu werden, um Möglichkeiten zu entwickeln, unserer Lage Herr zu werden, um effektive und rationale Strategien zu entwickeln, um unsere nationalen und sozialen Interessen zu verwirklichen. Kurz: Das Problem mit der Verschwörungstheorie ist, dass sie einen selbstverantwortlichen Blick verhindert, dass sie es uns einfach macht, vor der Verantwortung zu fliehen. Die Verschwörungstheorie ist unser Feind."

Gazeta Wyborcza (Polen), 03.11.2007

Das neue Mitte-Links-Bündnis "LiD" enttäuschte bei der Parlamentswahl (3. Platz, 13 Prozent), der Philosoph und Politikwissenschaftler Bronislaw Lagowski weiß auch warum: "Die historische Schwäche der Linken in Polen kommt unter anderem daher, dass das einfache Volk keine eigene Geschichte hatte. In Frankreich lebt das Volk in dem Bewusstsein, ein Subjekt der Geschichte zu sein; das polnische Volk dagegen hat ein Bewusstsein entwickelt, in dem es die Mythologie der Intelligenz und des Adels angenommen hat. (...) Den Bauern ging es im 19. Jahrhundert schlechter als den Schwarzen in den USA, kein Wunder also, dass das Volk sich seiner Identität schämte. Um so leichter übernahm es die Mythen, Meinungen und das Selbstbewusstsein jener Klasse, die das Volk unterdrückte. Das ist eine sehr schwache Basis für die Linke."

Jose Antonio Zarzalejos, Chefredakteur der konservativen spanischen Tageszeitung ABC, erklärt, was es mit dem neuen Gesetz über historische Erinnerung in Spanien (mehr hier) auf sich hat: "Ein Teil der Linken und der Regionalisten glauben, dass die Rechnungen mit dem Franco-Regime noch nicht beglichen sind. Für mich ist das nichts als Rachlust", bei dem ein verlorener Krieg im nachhinein wenigstens symbolisch gewonnen gewerden soll. Dabei: "Mein Vater ist 85, für ihn ist Franco alles; für mich ist Franco eine Erinnerung aus der Kindheit - von mir aus, können die Denkmäler verschwinden. Für meine Kinder, 19-26, existiert Franco gar nicht. Es geht sie nichts an. Gar nichts."
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Adele, Mythologie

Point (Frankreich), 01.11.2007

Anlässlich des Erscheinens seines Romans "Jedermann" in Frankreich gibt Philip Roth in einem Gespräch mit dem französischen Journalisten und Schriftsteller Mark Weitzmann sehr ausführlich Auskunft über seine Bücher, deren Motive und Hintergründe. Auf die eingangs gestellte Frage, was es mit seiner Konzentration auf etwas derart Triviales wie Erektion und Masturbation auf sich hätte, die sich im Roman "Portnoys Beschwerden" zu einer "Meditation" über die brutalsten und primitivsten Aspekte des Familienlebens entwickelt habe, antwortet Roth: "Die Erektion soll trivial sein? Erzählen Sie das mal Othello! Mit einem Steifen sieht natürlich jeder trivial aus. Aber Sie wissen ebenso gut wie ich, welche Ekstase und welche Verwüstungen ein erigiertes Glied anrichten kann. Wo wäre die Literatur ohne das? Wo wäre die Menschheit?"

In seinen "Bloc-notes" sieht Bernard-Henri Levy die französische Linke vor die Wahl gestellt, sich entweder völlig festzufahren oder neu zu organisieren. Und formuliert ein "Minimalprogramm für eine Linke, die sich wirklich aus ihren Trümmern erheben will: endlich von allen, wirklich allen Errungenschaften der antitotalitären Revolution des 20. Jahrhunderts Kenntnis nehmen. Das Prinzip, ohne das nichts, wirklich nichts gehen wird bei der Linken: endlich mit dem Mythos einer 'Familie' zu brechen (...) und endlich zuzugeben, dass diese 'Familie' keinen Sinn ergibt, sondern nur aus Geistern und Schimären besteht."
Archiv: Point

New Statesman (UK), 01.11.2007

Der nigerianische Schriftsteller und Nobelpreisträger Wole Soyinka beschreibt eine genuin mobile Kunstform, der man nicht nur in Afrika auf Schritt und Tritt begegnen kann - Kalligrafie und Malerei auf den Seitenwänden von Transport-Lastern: "Ich bezeichne dieses Genre oft als 'bewegliche Wandgemälde' oder wandernde Manuskript-Illuminationen - ein von den Mönchen des Mittelalters geborgter Begriff, die ihr Leben damit zubrachten, göttliche Manuskripte zur Erbauung der Gläubigen und zur Verführung der Ungläubigen oder Skeptiker auszuschmücken. Die meisten Afrikaner haben diese Malerei gesehen; eine ganze Menge sind sogar darin gereist. Ich nehme an, dass Sie nie von einem der Laster überfahren wurden, sonst würden Sie dies hier wohl kaum lesen. Es gibt diese Darstellungen auch in Lateinamerika. Sie sind oft rasch ausgeführt, krude, zeugen von wenig geschulter Zeichenkunst und beweisen ziemlich bizarre Farb-Vorlieben. Und doch sind sie scharfsinnige politische Statements, treffende Kommentare zu den Realitäten des Alltags, aber auch den Wünschen der Menschen."
Archiv: New Statesman

Plus - Minus (Polen), 03.11.2007

Einen aktuellen Auswuchs der neuen Staatsideologie des Kreml beschreibt Krzysztof Klopotowski: den "1612", über die Befreiung Moskaus von den polnischen Besatzern (der Staatsfeiertag "Tag der Nationalen Einheit" wurde in Erinnerung an dieses Ereignis gewählt - und ersetzte den Jahrestag der Oktober-Revolution mit dem gleichen Datum 4. November). Klopotowski möchte sofort kontern und schlägt vor: "Die neue polnische Regierung sollte einen Film über die Schlacht bei Warschau 1920, als Polen Europa vor Sowjetrussland gerettet hat, finanzieren - so wie der Kreml '1612' finanziert hat. Richten wir uns an die europäische Öffentlichkeit durch das Kino!"

Ein kritisches Porträt des Soziologen Zygmunt Bauman zeichnet Tomasz P. Terlikowski. Bauman habe sich aktiv an der Etablierung des kommunistischen Systems im Nachkriegspolen beteiligt und seine marxistischen Überzeugungen nie aufgegeben. "Seine Moralvorstellungen betreffen größtenteil soziale Fragen. Die Lösung von Problemen hängt für ihn dabei nie von der Aktivität einzelner Personen ab, sondern von Sozialreformen, großen (oder kleineren) Projekten, die Bauman selbst 'Utopien' nennt." In seinen Büchern, die "an Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnern", verbinden sich eine brillante Analyse der (post)modernen Welt mit "Reformvorschlägen, deren Umsetzung Institutionen hervor bringen würde, die repressiver und destruktiver wären, als die existierenden, die Bauman kritisiert", so der Publizist.
Archiv: Plus - Minus

Times Literary Supplement (UK), 02.11.2007

Früher waren Kaffeeehäuser Orte offenen demokratischen Geistes, heute sind Kaffeeketten das Symbol für den selbstsüchtigen Konsum ohne Verstand, konstatiert Bee Wilson noch ganz unter Schock nach dem Film "Black Gold". Dessen Macher Marc und Nick Francis halten angesichts der grotesken Armut der Kaffeebauern unsere heutige Kaffeekultur sogar für antidemokratisch. Von den knapp 3 Euro, die ein Becher Cappuccino heute koste, bekomme ein afrikanischer Bauer gerade mal 1,5 Cent. "Wir sehen eine Arbeiterin in New York einen Frappuccino schlürfen, den sie wahrscheinlich gar nicht schaffen wird, so überdimensioniert ist er, und wir sehen arme afrikanische Bauern verzweifelt zu Gott um höhere Kaffeepreise beten. Seit dem Kollaps des Internationalen Kaffee-Abkommens - das bis 1989 die Preise regulierte - haben die Kaffeepreise in Afrika ein 30-Jahres-Tief erreicht. Bei 22 Cent das Kilo liegt derzeit der Marktpreis für ungeröstete Bohnen. 'Wenn wir 57 Cents bekommen könnten', sagt ein Äthiopier, 'wäre das für uns himmlisch'. Dabei würde es das Zweifache brauchen, um den Bauern ein gutes Leben zu ermöglichen - nicht eines mit solchen Luxusgütern wie Elektrizität, sondern mit sauberem Wasser, sauberer Kleidung und der Möglichkeit, die Kinder in die Schule zu schicken."
Stichwörter: Äthiopien, Wasser, Kleidung

Folio (Schweiz), 05.11.2007

Diesen Monat dreht sich alles um das wunderbare und unerschöpfliche Thema Schuhe! Die Psychiaterin Isolde Eckle denkt darüber nach, was ein Schuh über seinen Träger verrät und was männliche und weibliche Schuhträger unterscheidet: "... Männerfüße sind nicht dazu da, gezeigt zu werden. Die erotische Bedeutung von Männerfüßen tendiert gegen null. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht werden schöne Männerfüße demnächst von der Werbung entdeckt. Ganz anders Frauenfüße. Sie sind seit Jahrhunderten das erotische Objekt par excellence. Das alte China ist das beste Beispiel dafür, da galt der Frauenfuß als Zentrum der Erotik. Je kleiner er war, desto mehr entfachte er die Leidenschaft der Männer aus dem Reich der Mitte. Die Franzosen haben gar ein eigenes Wort für den Spalt zwischen dem großen und dem zweiten Zeh. 'Clivage' nennen sie das. Es bedeutet wörtlich Spalt und bezeichnet auch den Spalt zwischen den Brüsten unterhalb des Decolletes. Wenn das kein intimer Ausdruck ist."

Gudrun Sachse erfährt von Pariser Schuh-Couturier Christian Louboutin, was dessen Schuhe beim weiblichen Geschlecht auslösen können: "Ich hatte eine Kundin, die schlüpfte in ein Modell aus pinkfarbenem Crêpe de Chine, oben war ein Pompon drauf. Sie betrachtete sich lange im Spiegel, und plötzlich rief sie: 'O mein Gott, dieser Schuh ist so nutzlos, den muss ich haben.'"

Weitere Artikel: Mit Petr Hlavacek, Professor für Schuhwissenschaft und Dekan an ­­der Technischen Fakultät der Tomas-Bata-Universität in Zlin spricht Ulrich Schmid über Ötzis Schuhwerk, High-Heels und Barfußläufer. Janis Vougioukas berichtet über Schuhe 'made in China' und die Arbeitsbedingungen in der weltgrößten Schuhfabrik Yue Yuen im südchinesischen Dongguan, in der vor allem junge Frauen arbeiten. Und Wolfgang Büscher singt ein Loblied auf ein Paar Schuhe des Münchner Schuhmachers Peter Eduard Meier, mit denen er den ganzen Weg von Berlin nach Moskau zu Fuß lief, ohne je eine Blase zu bekommen. In der Duftkolumne erklärt Luca Turin, warum kaum jemand Parfümeur werden kann.
Archiv: Folio

New Yorker (USA), 12.11.2007

Connie Bruck porträtiert den Milliardär und Immobilientycoon Samuel "Sam" Zell, seit März Besitzer der Tribune Company, die unter anderem die Los Angeles Times verlegt. Der Artikel zeichnet im Detail komplizierte Geschäftsabschlüsse nach, deren Anbahnung man sich so nicht vorgestellt hätte: "Dear Stevie: / Roses are red / Violets are blue / I heard a rumor / Is it true? / Love and kisses, / Sam." Die Antwort: "Sam, how are you / The rumor is true / I do love you / And the price is $52."

Weiteres: Malcolm Gladwell widmet sich in einem spannenden Beitrag der mythenumrankten Erstellung von Täterprofilen durch das F.B.I.. Peter Schjeldahl führt durch eine Retrospektive des Bildhauers Martin Puryear am MoMA und eine Ausstellung mit Zeichnungen von Georges Seurat, ebenfalls dort. John Lahr bespricht eine Inszenierung von Edmond Rostands Theaterstück "Cyrano de Bergerac" mit Kevin Kline in der Hauptrolle. Und Anthony Lane sah im Kino den Thriller "No Country for Old Men" der Coen-Brüder und "Von Löwen und Lämmern" von Robert Redford. Online lesen dürfen wir außerdem die Erzählung "Brooklyn Circle" von Alice Mattison und Lyrik von Yusef Komunyakaa und Jean Valentine.

Nur im Print: eine Reportage über den kanadischen Teersand-Boom und ein Porträt des amerikanischen Galeristen und Kunstberaters Jeffrey Deitch.
Archiv: New Yorker

Al Ahram Weekly (Ägypten), 05.11.2007

Nahed Nasser sammelt Reaktionen ägyptischer Schriftsteller auf den Nobelpreis für die in Arabien recht unbekannte Europäerin Doris Lessing. Viele quittieren die Entscheidung ganz schön beleidigt, aber nicht alle: "Für die junge Autorin Afaf El-Sayed ist die Entscheidung der Schwedischen Akademie nicht als solche verdächtig. Dass Lessing nicht so bekannt ist, sei einfach der Tatsache geschuldet, dass sie nicht ins Arabische übersetzt wurde - ganz gemäß dem Massengeschmack: 'Die bekanntesten Bücher sind nicht notwendig die besten.' Und nirgends trifft dies mehr zu, sagt El-Sayed, als in der Übersetzung arabischer Literatur in Sprachen, die ihre Erzeugnisse in das Regal 'International' stellen. Das habe zum Teil mit Korruption und Nepotismus zu tun, zum Teil mit der chaotischen Natur von Übersetzungsinitiativen, mit einem 'alle machen alles und mit Takeaway-Autoren, die Boulevard als Literatur präsentieren'... Für El-Sayed ist jedoch der innerarabische Austausch viel wichtiger als ein gerechterer Umgang mit Übersetzungen: von 150 libyschen Autoren, die sich jüngst in Tripolis versammelt hatten, kannte sie gerade mal zwei; 'das Gleiche in Marokko'."

Eine großartige Studie von Radwa Farghali zur Prostitution von Minderjährigen hat Mohamed Baraka einmal mehr zu Bewusstsein gebracht, wie wenig in Ägypten über Sex geschrieben wird: "Was nicht überrascht, wenn man bedenkt, in welchem Maße Sex in orientalischen Gesellschaften tabu bleibt, wo schiere Prüderie mit einem ethischen Standpunkt verwechselt wird und systematische Unterdrückung in verschiedene Formen der Schizophrenie mündet."
Archiv: Al Ahram Weekly

Foglio (Italien), 03.11.2007

Latife Hanimefendi, die Ehefau von Atatürk, wird von den türkischen Frauen nach Jahrzehnten der staatlich verordneten Vedrängung gerade wieder als Vorbild entdeckt, erzählt Marta Ottaviani. Grund ist die Biografie "Latife Hanim", die der Autorin Ipek Calislar vor einem Jahr den justitiablen Vorwurf der Verunglimpfung Atatürks einbrachte. "Geboren 1898 im antiken Smirna, wurde Latife nach dem Gymnasium in Izmir von ihrer Familie nach Paris geschickt, wo sie an der Sorbonne studierte. Man weiß nicht, ob sie ihren Abschluss in Jura machte, sicher ist aber, dass sie damit weit über dem Niveau ihrer Heimat war, wo zu dieser Zeit 95 Prozent der Menschen nicht lesen konnten. Wahrscheinlich war sie auch Atatürk überlegen, der eine ziemlich militärische Ausbildung genossen hatte und der trotz immenser Anstrengungen und fleißigen Bücherstudiums nie mit seiner Partnerin gleichziehen konnte. Gebildet, schön und weltgewandt, sprach Latife fließend Englisch und Französisch."

Außerdem macht sich Ugo Bertone ernsthafte Sorgen um die wachsende Zahl der jungen Start-Up-Reichen in den USA, die nicht mehr wissen wohin mit ihrem Geld. "Auch mir gefällt es, mit meiner Freundin am Strand zu liegen und mit meinem Hund zu spielen. Das ist gut für drei Stunden am Tag. Weitere drei schlafe ich. Aber was macht man mit den restlichen achtzehn?"
Archiv: Foglio
Stichwörter: Bertone, Geld, Hanim, Latife

Europa (Polen), 03.11.2007

Eine sehr interessante Diskussion zwischen dem deutschen Philosophen Peter Sloterdijk und der polnischen Soziologin Jadwiga Staniszkis druckt die Beilage der Tageszeitung Dziennik ab. Es geht um die Europatauglichkeit Polens. Dazu meint Staniszkis: "Paradoxerweise ist Polen an ein Europa, das aus dem Lissaboner Vertrag hervorgeht - ein Europa, in dem sich die Bürokratie radikal autonomisiert - besser angepasst als zum Beispiel Deutschland". Der polnische Traditionalismus, mit seinem Klientel-Denken und seinen Hierarchien, helfe den Prozess der post-Politik der EU oberflächlich zu akzeptieren, ohne die intellektuelle Entwicklung Westeuropas durchlaufen zu haben. "Der Neotraditionalismus hat schon im August 1980 den Polen geholfen, die Ethik als politische Sprache zu aktivieren. Jetzt hilft er dabei, in der EU-Bürokratie einen neuen Patron zu entdecken, und ihm gegenüber loyal zu sein, ohne die Spielregeln wirklich zu begreifen."
Archiv: Europa

Economist (UK), 02.11.2007

Ominös ragt Gottes Arm aus den Wolken, eine Handgranate in der Hand: "Die neuen Religionskriege" titelt der Economist. Die Rückkehr der Religion, stellt der Aufmacher fest, scheint unaufhaltsam: "Außerhalb Westeuropas ist die Religion in dramatischer Weise in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. Im Jahr 1960 bat John F. Kennedy die Amerikaner, seinen Katholizismus als irrelevant zu behandeln; heute sitzt ein wiedergeborener Christ im Weißen Haus und seine mutmaßliche demokratische Nachfolgerin legt vor den Wählern Wert darauf, dass sie betet. Eine islamistische Partei regiert die einst säkulare Türkei; Hindu-Nationalisten könnten bei der nächsten Wahl in Indien an die Macht zurückkehren; mehr und mehr Kinder in Israel und Palästina besuchen religiös ausgerichtet Schulen, die ihnen erklären, dass Gott ihnen das Heilige Land geschenkt habe. Wenn es weitergeht wie bisher, wird China das größte christliche Land der Welt werden - und das größte muslimische möglicherweise auch."

In einem 18-seitigen Schwerpunkt zum Thema gibt es unter anderem Artikel zur Vielfalt des Christentums weltweit, zum israelisch-palästinensischen Konflikt und zur Religion in der Türkei.

Weitere Artikel: Auch offizielle Stellen in China scheinen inzwischen nicht mehr ganz überzeugt davon, dass das ungeheuer aufwendige Dreischluchten-Staudamm-Projekt eine rundum unproblematische Sache ist. Besprochen werden unter anderem Walter Russel Reads Buch "God and Gold" über die Welterfolge der Briten und Amerikaner, Brynjar Lias Biografie des Al-Qaida-Strategen Abu Mus'ab al-Suri "Architect of Global Jihad" und Bob Drogins Geschichte von "Curveball", dem irakischen Überläufer, der keiner war.
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 01.11.2007

In einem Gespräch diskutieren der englisch-pakistanische Schriftsteller, Filmemacher und Journalist Tariq Ali und der niederländische Autor marokkanischer Herkunft Fouad Laroui das Thema europäische Einwanderung und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer beiden Länder im Umgang damit. Auf die Frage, ob und wie man die Einwanderung nach Europa regulieren solle, meint Ali: "Eine Welt, in der man praktisch keinerlei Kapitalkontrolle ausübt, hat zwangsläufig Mühe damit, die Flüsse der Arbeitskräfte zu kontrollieren. Wenn das neoliberale System Afrika in Not stürzt, welche Wahl bleibt den Afrikanern? Ihr Land verlassen, um Arbeit zu suchen. So war es schon immer. Die einzige Lösung ist, durch massiven staatlichen Interventionismus die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern." Laroui dagegen meint: "Jeder Staat muss per definitionem seine Grenzen überwachen. Das Gegenteil zu behaupten ist Demagogie. Was ist das Gegenteil von 'die Migrationsflüsse kontrollieren'? Die Tore weit öffnen, damit jeder, der will, hereinkommt? Ich kenne ultraliberale Kollegen, die diesen Standpunkt vertreten, habe aber den Verdacht, dass sie selbst nicht daran glauben."
Stichwörter: Ali, Tariq, Einwanderung

Spectator (UK), 01.11.2007

Mary Wakefield telefoniert mit dem Schauspieler Tom Hollander, der gerade in Berlin vor einem Feuer sitzt und für seine Rolle in Tom Cruises Stauffenberg-Film übt. Es geht um das alljährliche 24-Stunden-Drama im Old Vic, bei dem Stücke an einem Tag geschrieben, geprobt und aufgeführt werden. "Hollander: 'Jeder kommt am 10. November im Old Vic am Samstag abend um halb acht an. Es gibt acht Autoren und dreißig Schauspieler, und Kevin Spacey als Boss. Alle Schauspieler müssen was mitbringen.' - Wakefield: 'Zum Beispiel? Was haben Sie letztes Jahr gebracht?' - 'Ich habe...' - '(von einem Geistesblitz getroffen) Ananas! Ich wette es war eine Ananas!' - 'Nein, es war eine Sorte Kürbis, die man Kleines Juwel nennt. Meine Mutter pflanzt die an. Man konnte alles mitbringen. Jemand schleppte einen bunten Mantel an, ein anderer ein großes afrikanisches Instrument (...) Dieses Jahr bringe ich bestimmt keinen Kürbis mehr mit.' - 'Weil die Autoren Sie als vegetarisches Muttersöhnchen besetzten?' - 'Genau! Ich war ein von seiner Mutter dominierter Schwuler. Schon wieder.'"
Archiv: Spectator

Weltwoche (Schweiz), 01.11.2007

"Hören wir auf, Blocher zu überhöhen, die Schweiz wird ihn überleben", meint Peer Teuwsen in der Blocher sonst eher zugetanen Weltwoche. "Die Schweizer waren nie bekannt dafür, die Menschen zu verherrlichen, denen sie die Macht in die Hände legen. Im Falle Christoph Blochers passiert genau dies. Gottesdienst oder Exorzismus. Ein Land in seiner geistigen Geiselhaft. Alle Konflikte werden auf seine Person projiziert. Das hat keiner verdient. Was läuft falsch? Es kann nur einen Grund geben: Schwache Naturen brauchen starke Figuren. Es ist ein Zeichen von Hilflosigkeit, wenn so viele Menschen einem autoritären Charakter hinterherlaufen oder in ihm das Böse schlechthin sehen."

Weitere Artikel: Rolf Degen denkt über die Bedeutung des Intelligenzquotienten nach und stellt fest: Erfolg hat man auch mit einem kleinen. Frank Vanhecke, Präsident der nationalseparatistischen Vlaams Belang, erklärt im Interview: "Belgien bedeutet mir nichts. Meine Kinder betrachten sich als flämisch und europäisch, Belgien bedeutet ihnen gar nichts."
Archiv: Weltwoche

New York Times (USA), 04.11.2007

Tina Rosenberg ist nach Venezuela gefahren, um für das Sunday Magazine eine diese wunderbaren Recherchen zu schreiben, zu denen nur angelsächsische Medien fähig sind. Sie fragt, ob die verstaatlichte Ölförderung der venzolanischen Wirtschaft wirklich nutzt. Die Profite werden jetzt direkt in Infrastruktur und Bildung gesteckt, konstatiert sie, allerdings über kaum kontrollierbare Fonds, die direkt Hugo Chavez unterstehen. Und andererseits fehlen Bohrtürme: "Da Öl zur Zeit sehr profitabel ist, und die Leute wie verrückt nach Öl bohren, herrscht ein globaler Mangel an Türmen, und ihr Mietpreis ist stark angestiegen. Aber in Venezuela ist der Mangel größer als anderswo. Vor der Nationalversammlung sagte Luis Vierma von der Fördergesellschaft Pdvsa, dass dieser Mangel eine 'bedeutende operationelle Notsituation' darstellt. Das Land braucht 191 solcher Türme, um seine Produktionsziele in diesem Jahr zu erreichen, sagt Vierma. Aber laut Baker Hughes, eine Firma in Houston, die die Standardstatistik für diese Türme erstellt, gibt es nur 73 aktive Türme in Venezuela."

In der Book Review liest Caroline Weber mit Gewinn Graham Robbs Studie "Discovery of France - A Historical Geography From the Revolution to the First World War" (mehr hier), die herausfindet, dass Frankreich "kein einheitlicher kultureller Monolith ist, sondern eine große Enzyklopädie von Mikrozivilisationen". Besprochen werden außerdem eine Biografie über Bette Davis, John Updikes Essays (Auszug), besprochen von Christopher Hitchens, Alan Kramers "wichtiges Buch" "Dynamic of Destruction - Culture and Mass Killing in the First World War" (mehr hier) , eine "Philosphie des Weins" und Bücher über die Amtszeiten George W. Bushs.
Archiv: New York Times