Magazinrundschau

Herzrasen a la Bollywood

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
15.04.2008. Elet es Irodolam weiß: Die "kleine Literatur" muss nicht politisch sein, um politisch zu sein. World Affairs verteidigt Hirsi Ali, Bruckner und Berman gegen Buruma, Garton Ash und Ramadan. Rue89 erarbeitet ein Schwarzbuch der Zensur. Im TLS stöhnt der Gerontologe Raymond Tallis: Zuviel Hirn ist des Feuilletonisten Tod. Outlook India ist ganz aufgeregt: Revolution im Cricket! Vanity Fair springt mit den Russen ins kalte Wasser. In Semana spricht sich Hector Abad gegen literarischen Protektionismus aus. In der New York Review of Books hat Tony Judt herausgefunden: die Amerikaner lieben den Krieg, weil sie ihn nicht kennen.

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.04.2008

Der ungarische Schriftsteller und Herausgeber der jüdischen Kulturzeitschrift Szombat, Gabor Szanto T. sprach mit dem israelischen Literaturwissenschaftler Dan Miron. In seiner Antwort auf die Frage, wie politisch die hebräische Literatur ist, beruft sich Miron unter anderem auf die These der "kleinen Literatur" von Gilles Deleuze und Felix Guattari: "Die kleinen Literaturen sind nicht 'kleiner', sondern kulturell marginalisiert. In solchen Literaturen erhält alles eine politische Prägung. Nicht in direkter Form, durch die Reflexion politischer Themen, sondern durch die Tatsache, dass, worüber auch immer das absolute Individuum schreibt, dies die Themen und Erlebnisse der Gemeinschaft berührt. Das trifft, finde ich, mehr oder weniger auch für die israelische Literatur zu. Die israelischen Schriftsteller beschreiben ihre individuellen Erlebnisse, dennoch teilt jeder bedeutende israelische Roman, der sich mit dem Schicksal von Privatpersonen beschäftigt, etwas über die Situation der Gemeinschaft mit. [...] Ich wäre nicht überrascht, wenn dies auch für die ungarische Literatur zutreffen würde."

Rue89 (Frankreich), 13.04.2008

Zusammen mit Lehrern, Journalisten und Juristen hat der junge Rechtsanwalt und Spezialist für Medien- und Presserecht Emmanuel Pierrat ein Schwarzbuch der Zensur erarbeitet und herausgegeben: "Le livre noir de la censure" (Seuil). Ein ausführliches Gespräch über dessen Befunde ist nur zu hören, die zentralen Aussagen sind aber in einem Begleittext aufgeführt. Drei Haupttäter hat das Autorenkollektiv ausgemacht: das Scheckbuch, Tugendwächter sowie die neuen Medien in Gestalt von Yahoo, Google oder Microsoft. Letztere auch, weil sie - wie im Fall Google in China - mit Machthabern paktieren, um sich neue Märkte zu erschließen. Die großen Konzerne dagegen, so Pierrat, hätten sich früher damit begnügt, zu aggressiven Medien die Werbebudgets zu kappen, heute attackierten sie sie juristisch. "Ihre Geschützstärke ist verglichen mit den Mitteln für einen Gegenangriff durch Verleger, Journalisten und Schriftsteller enorm." Und die Gefahr mit den Tugendwächtern bestehe darin, dass "jeder Prozess, den sie anstrengen, Kosten verursacht: Anwaltskosten, Nachteile und Interesse. Viel lohnendere Auswirkungen als Kerkerhaft."
Archiv: Rue89

Times Literary Supplement (UK), 11.04.2008

"Der Literaturkritiker als Groupie der Neurowissenschaften ist der neue Trend", stöhnt der Gerontologe Raymond Tallis nach Lektüre eines Artikels der Schriftstellerin A.S. Byatt, die das Erregende an John Donnes Gedichten in neurowissenschaftlichen Begriffen erklärt hat: "Das Vergnügen, das Donne unseren Körpern bietet, ist das Vergnügen an einer extremen Hirnaktivität." Nonsense, findet unser Fachmann, und macht, bevor er ins Detail geht, seinem Ärger über eine Literaturkritik Luft, die ihr Thema nicht ernst nimmt. "Auf den ersten Blick erscheint das Ersetzen von THEORIE... durch etwas so Solides wie 'das Gehirn' als Fortschritt. Aber in Wahrheit ist es nur ein Fall von plus ca change, plus c'est la meme chose. Das Umschalten von THEORIE auf 'Biologismus' lässt etwas Wesentliches unverändert: nach wie vor wendet wendet man sehr generelle Ideen unkritisch auf Werke der Literatur an, deren unverwechselbare Eigentümlichkeiten, überlegte Ziele und kalkulierte Wirkungen konsequent verloren gehen."

Joy Connolly hat zwei sehr interessante Bücher über das Verprügeln von Ehefrauen in der Antike gelesen: Sarah B. Pomeroys "The Murder of Regilla" und Caroline Vouts "Power and Eroticism in Imperial Rome". Leider ist die Quellenlage nicht optimal: "Gewalt gegen Frauen war für die klassischen Autoren nur in Ausnahmefällen Thema, etwa wenn sich Augustinus in seinen 'Bekenntnissen' an die Blutergüsse erinnert, die er als Kind im Gesicht der Freundinnen seiner Mutter gesehen hatte, oder wenn Herodot und Sueton berichten, dass der korinthische Tyrann Periander und Kaiser Nero ihre schwangeren Frauen tot prügelten."

Außerdem: Bravouröses Entertainment" bescheinigt Ruth Morse Salman Rushdies neuem Roman "The Enchantress of Florence", aber am Ende ist sie doch enttäuscht.

World Affairs (USA), 01.01.2008

Die neue Zeitschrift World Affairs setzt sich mit der amerikanischen Außenpolitik auseinander. Jetzt ist die Nummer 1 vom Januar 2008 online freigeschaltet. Peter Collier, der unter anderem ein Buch über die Kennedys geschrieben hat, legt einen langen Essay über die von Perlentaucher und signandsight.com lancierte Debatte zum "Islam in Europa" vor. Diese Debatte war durch einen riesigen Essay von Paul Berman in der New Republic verlängert worden. Collier nimmt Stellung gegen Ian Buruma und Timothy Garton Ash: "Vor zwei Jahrzehnten, als Salman Rushdie wie heute Ayaan Hirsi Ali bedroht wurde, traten ihm diese Intellektuellen noch instinktiv und eindeutig zur Seite. Warum haben sie nun die Nerven verloren? Zwei Dinge, laut Berman: der Aufstieg des Islamismus in den Jahren nach der Fatwa und die Verbreitung des Terrorismus. Aber da ist noch ein dritter Grund: die Neocons und ihr Krieg. Weder Buruma noch Garton Ash haben explizit auf Bermans Artikel in der New Republic repliziert. Aber Buruma nutzte die Gelegenheit einer Rezension von Norman Podhoretz' Buch "World War IV" (das er natürlich verreißt) in der New York Review of Books für eine Breitseite auf Berman, den er als 'Kanzelredner für Bushs Krieg' beschreibt. Schlimmer noch, er ist einer dieser Neolinken, die heimlich die Argumente eines Podhoretz teilen und so Neokonservatismus mit anderen Mitteln betreiben und die 'liberalen Prinzipien verraten, die sie vorgeben zu verteidigen'."
Archiv: World Affairs

Outlook India (Indien), 21.04.2008

Nicht weniger als eine Revolution erlebt der indische Cricket-Sport. Die wichtigste Neuregelung in der neuen T20-Version, die die traditionelle Form nicht ersetzen soll, aber doch zu ersetzen droht: Das Spiel dauert nicht mehr potenziell ewig, sondern nur noch maximal drei Stunden. Unsummen hat die Industrie in die Vereine der neuen T20-Liga investiert, das Fernsehen zahlt für die Übertragungsrechte und die Spiele selbst werden zu Mega-Events. Outlook India ist besorgt: "Wenn Geld der Todfeind der Seele ist, dann könnte Cricket nun seine Seele verlieren. Wenn am 18. April in Bangalore die indische Erste Liga des T20-Cricket startet, wird sich das Cricket, das die Puristen lieben - mit seiner bukolischen Schönheit und seinen schrulligen Traditionen - gewaltig verändern. Die Mischung könnte das neueste Opium für das indische Volk werden: adrenalingetriebener Sport und Herzrasen a la Bollywood, Auftritt von Tanzformationen, Sportgenies und Superstars. Natürlich muss sich der Sport von Zeit zu Zeit neu erfinden ..., aber der Tag kann kommen, an dem wir Cricket nicht mehr wiedererkennen."

Besprochen wird Patrick Frenchs autorisierte V.S.Naipaul-Biografie "The World is What it is" , die Sunil Khilnani für einen "Triumph der Biografen-Kunst" hält. Breit und genüsslich referiert Sanjay Suri das verheerende Presse-Echo in Großbritannien auf "The Enchantress of Florence", Salman Rushdies neuen Roman: "Im Cricket würde man es 'schlecht in Form' nennen."
Archiv: Outlook India

Vanity Fair (USA), 14.04.2008

Die Russen waren auf dem Meeresgrund der Arktis und haben eine Fahne gehisst - nicht zuletzt um ihren Anspruch auf die gewaltigen Ölreserven die unter dem Meeresboden vermutet werden, zu verdeutlichen. Das ist, wie Vanity Fair in einem sehr umfangreichen Artikel erläutert, auch alles andere als absurd: "Wie immer man es betrachtet: Russlands Anspruch auf die Arktis ist sehr gut begründet - geografisch, historisch, demografisch, hydrologisch... und, wie es nun noch zu belegen hofft, geomorphologisch und geologisch." Was nicht heißt, dass nicht gewaltige Folgen für die Weltpolitik zu erwarten wären: "Wenn Russland die Reserven auszubeuten beginnt, wird es als Supermacht auf die Weltbühne zurückkehren und womöglich zum wichtigsten Energielieferanten der Erde werden. Das wäre dann ein Fünftes Russisches Imperium, präsidiert von einem immer autokratischeren Putin."

Außerdem: Sehr lesenswert - auch für Nichtnaturwissenschaftler- findet Christopher Hitchens Peter Ackroyds nicht mehr ganz neue Isaac-Newton-Biografie. Leider sagt er nicht, ob sie so gut ist, wie Neal Stephensons Newton-Porträt in "Quicksilver".
Archiv: Vanity Fair

Caffe Europa (Italien), 14.04.2008

Claudio Lazzaro hat eine Dokumentation über die rechtsextreme Splitterpartei "Forza Nuova" gedreht. Wegen einer Klageandrohung kommt "Nazirock" nun nicht in die Kinos, sondern wird nur als DVD vertrieben. Im Gespräch mit Mauro Buonocore erzählt Lazzaro, worum es ihm in seinem Film geht. "Nazirock ist in gewissem Sinne die Fortsetzung der Diskussion, die in 'Camicie verdi' begonnen wurde, meine erste Dokumentation über die Lega Nord. Das Thema ist dasselbe: die Demokratie. In Italien steht die Demokratie immer auf der Kippe und kann fortwährend in Frage gestellt werden. Gewisse politische Phänomene wie die Lega Nord und die extreme Rechte erinnern daran in beunruhigender Weise. Die Idee für den Film kam mir dann während einer ganz bestimmten Szene in 'Camicie Verdi': Der Europaabgeordnete der Lega Nord, Mario Borghezio, erholt sich nach einer Attacke von Autonomen im Krankenhaus, es ruft ihn dauernd jemand an, und ich frage ihn, ob sich schon andere Politiker nach seinem Befinden erkundigt haben. 'Nein', bemerkt er recht kleinlaut, 'keine Politiker, nur Roberto Fiore von 'Forza Nuova' und Alessandra Mussolini.' Die beiden kommen nun auch in 'Nazirock' vor."
Archiv: Caffe Europa

New York Review of Books (USA), 01.05.2008

Der Europa-Historiker Tony Judt macht sich Gedanken über die historischen Lehren des 20. Jahrhunderts und stellt fest, dass die USA anders als die Europäer nie erfahren mussten, wie Kriege Gewinner und Verlierer gleichermaßen korrumpieren: "Amerikaner, haben wahrscheinlich als die einzigen in der Welt das 20. Jahrhundert in einem positiven Licht erlebt. Die USA wurden nicht besetzt. Sie haben keine immense Zahl von Bürgern oder großen Flächen ihres Territoriums in Folge einer Besatzung oder Aufteilung verloren. Wenn sie auch in fernen neokolonialen Kriegen gedemütigt wurden (in Vietnam und jetzt im Irak) haben die USA niemals die ganzen Konsequenzen einer Niederlage erlitten. Trotz ihrer Ambivalenz gegenüber ihren jüngsten Unternehmungen glauben die meisten Amerikaner, dass die Kriege, die ihr Land geführt hat, gute Kriege waren."

Barack Obamas Philadelphia-Rede mit Abraham Lincolns Gettysburg Address zu vergleichen, findet Gary Wills übertrieben. Treffender sei die Parallele zu Lincolns Cooper-Union-Rede: "Jeder wollte von seiner Partei als Präsidentschaftskandidat nominiert werden - gegen einen New Yorker Senator - Lincoln gegen Senator William Seward, Obama gegen Hillary Clinton. Sie beide waren bekannt für ihre Oppostion gegen einen anfangs populären Krieg - Lincoln gegen Präsident Polks auf Grund einer fiktiven Provokation lancierten Mexikanischen Krieg, Obama gegen Präsident Bushs Irak Krieg."

Weiteres: Das Autoren-Duo Hussein Agha, Robert Malley untersucht, wie erfolgversprechend der avisierte Nahost-Friedensplan für die Schublade sein kann. Alison Lurie analysiert verschiedene Versionen von Rapunzel aka Petrosinella oder Sugar Cane unter besonderer Berücksichtigung der Essgewohnheiten schwangerer Frauen. Besprochen werden die Ausstellung "The Arts of Kashmir" in der Asia Society von New York, der Roman "Lush Life" von Richard Price, Keith Gessens Roman "All the Sad Young Literary Men" und zwei Bücher zum Judas-Evangelium.

Plus - Minus (Polen), 12.04.2008

Im Interview mit dem Theaterregisseur Jan Klata wird viel über Revolutionen gesprochen. Klata inszeniert nämlich gerade Stanislawa Przybyszewskas Stück über Danton, und ihn fasziniert, was 1989 in Polen passierte: "...wenn das Theater sich mit irgend etwas befassen sollte, dann mit dem Versuch, diesen außergewöhnlichen Moment zu analysieren, in dem wir uns weiterhin befinden. (...) Wir zeigen eine Turboveränderung und fragen: Wo hört das auf? Das Stück endet mit zwei Köpfen ohne Leib, die fragen, ob das Volk vielleicht keine Revolution will. Darum geht es - dem Volk ist es egal. Das Volk will vor allem einkaufen gehen".
Archiv: Plus - Minus
Stichwörter: Klata, Jan

Commentary (USA), 01.04.2008

Mit großem Interesse hat Terry Teachout Kenneth Hamiltons Buch über die Geschichte des Klavierabends gelesen: "After the Golden Age - Romantic Pianism and Modern Performance". Das Goldene Zeitalter war das 19. Jahrhundert, als die Pianisten noch als Entertainer auftraten, improvisierten und mit dem Publikum sprachen. Heute kommen sie als stumme Frackschawalben, die in immergleicher Werktreue den immergleichen Beethoven exekutieren. Horowitz war der letzte Paradiesvogel - und Teachout resümiert: "Man muss Horowitz nicht als den Abgott interpretativer Tugend ansehen um zu verstehen, was Hamilton mit der nicht seltenen Fadheit des 'internationalen Stils' meint, der die Aufführungen klassischer Musik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominiert."
Archiv: Commentary

Weltwoche (Schweiz), 11.04.2008

Thomas Widmer annonciert eine interessante Ausstellung über Karl den Kühnen (1433-1477), Herzog von Burgund, der an einem europäischen Mittelreich, ebenbürtig Frankreich und Deutschland, arbeitete, bevor er in der Schlacht von Nancy einer Schweizer Hellebarde zum Opfer fiel. Und seinem großen Rivalen. "Karl von Burgund und Ludwig von Frankreich: Gegenspieler vom selben Geblüt. Das Haus Valois stellt sowohl französische Könige als auch, in einer Nebenlinie, Herzöge von Burgund. Als Charaktere könnten die Männer verschiedener nicht sein. Karl ist der Ritter, geborgen und gefangen in seiner Ehre, voller Dünkel gegen das aufkommende Bürgertum, unfähig, im Krieg von seiner Schlachtordnung abzuweichen - noblesse oblige. Den letzten Fürsten des Mittelalters hat man den Realitätsresistenten genannt. Anders Ludwig. Im Machtspiel kennt er keine Skrupel. Er ist ein Täuscher und Taktierer und Wortbrecher. Weil er sein Agentennetz über ganz Europa gewoben hat, nennt man ihn auch die 'universelle Spinne'." Die Ausstellung ist ab dem 25. April im Museum Bern zu sehen.
Archiv: Weltwoche

Gazeta Wyborcza (Polen), 12.04.2008

Was, wenn die polnische Regierung vorschreiben würde, welche Automarke die Polen fahren dürfen, fragt Dariusz Cwiklak angesichts der Tatsache, dass Polen fast reines Microsoft-Land ist. "Nutzer anderer Betriebssysteme als Windows sind in Polen Paria. Sie werden als notwendiges Übel oder gar wie Luft behandelt. Vertretern verschiedener Institutionen sagen Namen wie Mac OS X oder Linux gar nichts oder sie rufen Reaktionen hervor wie: 'Können Sie nicht einfach Windows benutzen?'". Als Beispiel sei die staatliche Sozialversicherungsagentur "ZUS" genannt, deren elektronisches Zahlungssystem sich nur mit dem Microsoftprogramm bedienen lässt. "Viele öffentliche Institutionen sind in Polen technisch unterentwickelt. Für Windowsverweigerer wie mich ist das vielleicht besser. Denn die echten Probleme werden dann auftauchen, wenn elektronische Kommunikation mit Behörden oder Steuererklärungen zur Pflicht werden, und die entsprechenden Programme nur unter Windows verfügbar sind", prophezeit Ciwklak.
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Linux, Microsoft

Economist (UK), 12.04.2008

Der Economist hat einen Sonderteil zur neuen digitalen Beweglichkeit in der Drahtlos-Welt. Es geht dabei durchaus um Grundsatzfragen unseres Lebens- und Arbeitsalltags: "Wird es ein besseres Leben sein? In mancher Hinsicht ja. Das digitale Nomadentum wird mehr und mehr Wissensarbeiter aus den Arbeitskabinen befreien, die wir aus Dilbert Cartoons kennen. Aber die alte Tyrannei des Ortes könnte zu einer neuen Tyrannei der Zeit werden, da Nomaden, die 'immer ansprechbar' sind, allzuoft mental überall-nur-nicht-hier sind (wo immer hier dann auch ist). Im Bezug auf Freunde und Familie könnte die permanente mobile Ansprechbarkeit den selben Effekt haben wie das Nomadentum: es könnte einen der Familie und Freunden näher bringen, den Zugang für Außenseiter aber erschweren. Es könnte sein, dass es zur Herausbildung isolierter Cliquen kommt."

In weiteren Artikeln geht es um den Bevölkerungsschwund in Ostdeutschland und seine Folgen, : Besprochen werden eine große Babylon-Ausstellung, die derzeit im Louvre zu sehen ist, demnächst aber auch - und zwar mit größerem Umfang - in Berlin Station machen wird, und Bücher, darunter Steve Colls Familiengeschichte "The Bin Ladens" und Misha Glennys Studie "McMafia: Eine Reise durch die Unterwelt des Verbrechens". Außerdem ein Nachruf auf den Schauspieler Charlton Heston.
Archiv: Economist

Semana (Kolumbien), 12.04.2008

Hector Abad weiß nicht so recht, was er generell von dem umstrittenen Freihandelsabkommen Kolumbiens mit den USA halten soll. Im speziellen ist er aber dafür: "Menschen mit festen Überzeugungen verachten Zweifler. Aber Befürworter genau wie Gegner des Abkommens haben mich gleichermaßen überzeugt. Normalerweise wägen die Leute jedoch nicht Argumente ab, sondern betrachten die Dinge durch ihre ideologischen Filter: Wer an Marx glaubt, für den ist das Abkommen verheerend; großartig finden es dagegen die Jünger von Adam Smith. Als Skeptiker nehme ich an, dass es für einige Unternehmer und ihre Angestellten gut ist, für andere eine Katastrophe. Als Schriftsteller fände ich es jedenfalls demütigend, einen 'literarischen Protektionismus' einzufordern, Quoten für 'kolumbianische Autoren' und Sonderzölle für ausländische Literaturprodukte: Wenigstens was meine Branche betrifft, bin ich für den Freihandel mit Büchern, selbst wenn eine Flut von Gringo-Bestsellern über uns hineinbricht."
Archiv: Semana

Spectator (UK), 12.04.2008

Salman Rushdie erklärt Matthew d'Ancona, dass es durchaus universelle Werte gibt und dass sie verteidigt werden sollten, und zwar mit allem, was wir haben. "Wir müssen dickhäutiger werden. Wenn wir weiterhin so dünnhäutig sind, werden wir uns schließlich gegenseitig umbringen. Wir müssen lernen, uns ungenießbares Zeug anzuhören. Wir würde denn ein 'respektvoller' Cartoon aussehen? Die Form selbst verlangt nach Respektlosigkeit, also entscheidet man sich für diese Form oder man lässt es... Ich finde wir sind unglaublich feige wenn es um unsere Überzeugungen geht. Leute müssen gegen Angriffe auf ihre Person geschützt werden. Aber man kann Leute nicht gegen Attacken auf ihre Überzeugungen schützen - andernfalls war's das für uns alle."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Cartoons, Rushdie, Salman

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 11.04.2008

Die geliebte amerikanische Populärkultur ist unter George W. Bush auf Zähneklappern, Amerikabeschimpfung und Jammern verfallen. Kein schöner, ja, ein oft genug sterbenslangweiliger Anblick, findet der Schriftsteller Dietmar Dath. Die ganze Nation, und mit ihr eben auch die Kultur, schmort im eigenen Saft: "Was dabei herauskommt, kann man mit vollem Recht 'flächendeckende Reprovinzialisierung' nennen (bei gleichzeitiger Ausdehnung der politischen und militärischen Weltrüpelei der USA). Die Kulturindustrie erzählt unter derlei Vorzeichen eine Weile nur noch Geschichten vom Hausgemachten, Partikularen: Amerikas große Romane der letzten Zeit handeln von Familienschicksalen, seine Fernsehserien, auch die besten, spielen in überschaubaren, isolierten räumlichen und zeitlichen Gehegen, alles passiert im Weißen Haus, alles passiert innerhalb von vierundzwanzig Stunden, alles passiert auf einer verwunschenen Insel ohne Kontakt zur Außenwelt. Das Universelle, Totale, Bedeutsame gerät aus dem Blick."

In einem weiteren Artikel sieht Hicham Ben Abdallah El Alaoui reichlich wenig Fortschritte bei den Demokratisierungsbemühungen in den arabischen Ländern. Dies die drei Herrschaftsformen, die sich herausgebildet haben: "Völlig 'geschlossene' Regime (wie Libyen, Syrien und einige andere), die nicht einmal den Anschein von Pluralismus erwecken wollen; 'hybride' Regime (wie Algerien, Ägypten, Jordanien, Marokko, Sudan, Jemen), wo die autoritäre Herrschaft mit gewissen Formen von demokratischer Beteiligung koexistiert; und 'offene' Regime, wofür es aktuell nur ein einziges Beispiel gibt: Mauretanien, wo mit den Wahlen im März 2007 ein wirklicher Machtwechsel stattgefunden hat."

Nepszabadsag (Ungarn), 12.04.2008

Jozsef Szilvassy sprach mit dem in Bratislava lebenden ungarischen Schriftsteller und Mitbegründer des dortigen Kalligramm Verlags, Lajos Grendel an seinem 60. Geburtstag. Er reist viel in Europa und der Welt herum, fühlt sich aber in der Heimat nicht richtig Zuhause: "Ich habe den Eindruck, dass die meisten Bürger der postsozialistischen Staaten keine Zukunftsvorstellung haben und an Werteverlust leiden. Wir werden überflutet von Nonsens, von beinahe sämtlichen Übeln der Verbrauchergesellschaft. Sandor Marai warnte bereits Anfang der 30er Jahre davor, dass die Zeit der Massenmenschen bevorstehe. Zuerst wurden sie von Diktatoren manipuliert und heute werden sie von den tausenden Sirenenstimmen der postindustriellen Gesellschaft berauscht. Zudem ist die ethnische Vielfalt in Mittel- und Osteuropa eine Quelle immer neuerer Konflikte, und nicht der friedlichen Symbiose, die jedem von Nutzen sein könnte. Die Situation in Ungarn wird immer erschreckender. Mit Bestürzung sehe ich, wie sich Intellektuelle und Schriftsteller in Wagenburgen verschanzen. Und die Antipathie nimmt zu. Was kann der Schriftsteller da tun? Protestieren, in der Wüste rufen und - diese Welt des Nonsens beschreiben."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Marai, Sandor, 1930er, 30er

New Yorker (USA), 21.04.2008

Definitiv nichts für Klaustrophobiker ist Nick Paumgartens ausführliche Reportage über Aufzüge in Wolkenkratzern - unter besonderer Berücksichtigung ihrer Pannenanfälligkeit. Neben zahlreichen Geschichten von stundenlang Steckengebliebenen erfährt man aber auch Nützliches. "Für Aufzüge gelten zwei Grundkriterien. Eines ist die Umschlagskapazität: angepeilt ist die Beförderung einer bestimmten Prozentzahl der Gesamtpopulation des Gebäudes in fünf Minuten. Dreizehn Prozent sind eine gute Zielvorgabe. Das andere ist der Zeitabstand beziehungsweise die Einsatzfrequenz: die durchschnittliche Hin- und Rückfahrt eines Aufzugs dividiert durch die Anzahl der Aufzüge. In einem amerikanischen Gebäude soll das Intervall weniger als dreißig Sekunden betragen und die durchschnittliche Wartezeit rund sechzig Prozent davon. Dauert es länger, werden die Leute ärgerlich."

Weitere Artikel: Hendrik Hertzberg philosophiert über die politischen Implikationen der "Versprecher" im amerikanischen Kampf um die Präsidentschaftskandidatur. Caroline Alexander bereiste den bengalischen Mangrovenwald und informiert über die vom Aussterben bedrohten bengalischen Königstiger. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Repatriates" von Sana Krasikov und Lyrik von Rachel Hadas und Derek Walcott.

Ian Buruma bespricht mehrere Bücher, die sich mit der Ablösung der westlichen Vorherrschaft beschäftige, darunter "Rivals: How the Power Struggle Between China, India and Japan Will Shape Our Next Decade" (Harcourt) und "The Post-American World" (Norton). Paul Goldberger besichtigt neue Flughäfen in London, Peking und Madrid. Sasha Frere-Jones stellt das neue Album von Portishead vor. Und David Denby sah im Kino die Komödien "Forgetting Sarah Marshall" von Nicholas Stoller und "Smart People" von Noam Murro.

Nur im Print: Jonathan Franzen besichtigt die Zukunft Chinas (hier erzählt er von seiner Reise), außerdem Artikel über Schwimmen in der Nordwestpassage und Rache in Neuguinea.
Archiv: New Yorker