Magazinrundschau

Gewalt ist das Mittel und der Zweck

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
27.05.2008. Der New Humanist sieht die muslimischen Kreationisten auf dem Vormarsch. Nepszabadsag überlegt, wie die Demokratie mit verstecktem Rassismus umgehen soll. Der New Yorker und New Republic stellen mit Dr. Fadl und Noman Benotman zwei ehemalige Terroristen vor, die heute zu den schärfsten Kritikern Al Qaidas gehören. In der New York Review of Books erklärt der Leiter der Harvard-Bibliothek, warum eine Nachricht nur eine Geschichte ist. Nicht nur die Roma, alle Einwanderer bringen Italien in Schwierigkeiten, meint laut Caffe Europa die Lega Nord. Die Weltwoche betrachtet verstört die Jugendgang von Justice.

New Humanist (UK), 01.05.2008

Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa gerät Darwins Evolution zunehmend ins Kreuzfeuer, schreibt der dänische Philosophieprofessor Peter C. Kjärgaard mit Bezug auf einen EU-Report. Neu ist allerdings, dass nun nicht nur christliche, sondern auch muslimische Kreationisten auf den Plan treten. Kjärgaard rechnet mit einer baldigen strategischen Zusammenarbeit der beiden Lager. "Die zentrale Figur ist der türkisch-muslimische Kreationist Adnan Oktar, der unter dem Pseudonym Harun Yahya eine Karriere als Darwinkritiker gemacht hat. Oktar ist unter Darwinisten recht bekannt und ist, obwohl er von sich behauptet, wissenschaftlich kompetent zu sein, offensichtlich nicht mehr als ein Spinner. Geändert hat sich allerdings die Größe und der Ehrgeiz seiner pseudo-wissenschaftlichen Botschaft, wie der Bericht festhält. Seit 2006 sind Ausgaben eines von Harun Yahya verfassten und clever aufgemachten Hochglanzbandes mit dem Titel 'Atlas of Creation' an Schulen und Universitäten in ganz Europa aufgetaucht. In Spanien, Frankreich, der Schweiz und in Dänemark gibt es klare Anzeichen für die wachsenden Ressourcen und das zunehmende Selbstbewusstsein des muslimischen Kreationismus. Das Buch ist nur der erste Teil einer siebenteiligen Reihe, wobei Band zwei und drei bereits an Bildungsinstitute in Europa verschickt werden."
Archiv: New Humanist

Nepszabadsag (Ungarn), 26.05.2008

Offen rassistische Äußerungen können juristisch sanktioniert werden. Was aber tun, wenn sich in der Öffentlichkeit ein Sprachgebrauch verbreitet, der kodiert rassistisch operiert? Das fragt sich der Schriftsteller Rudolf Ungvary: "Juristisch kann man gegen Vertreter rassistischer Meinungen, die zunächst dekodiert werden müssen, und sind sie noch so einschüchternd, in einem demokratischen Rechtssystem nicht vorgehen. So fein können die Gesetze gar nicht ausformuliert werden. Die parlamentarische Demokratie kann mit juristischen Mitteln nur in einer Gesellschaft geschützt werden, in der die Mehrheit der Bevölkerung aus Demokraten besteht. Das bedeutet auch, dass die im Vergleich mit dem Reichtum der natürlichen Sprache und mit der hohen Zahl listiger Behauptungen notwendigerweise lückenhafte und grobe Intentionen der juristischen Regelung von der Mehrheit der Bevölkerung entsprechend weit interpretiert wird. Das Volk selbst nimmt die Demokratie aufgrund seiner politischen Kultur in Schutz. (...) Verborgener Rassismus und indirekte Einschüchterung kann auch in schwachen Demokratien wie in Ungarn nicht ohne die Einschränkung der Meinungsfreiheit und damit der Demokratie sanktioniert werden. Die Frage ist: Kann heute in Ungarn ein Gleichgewicht zwischen der Durchsetzung der Freiheitsrechte und der Zurückdrängung der Einschüchterung gefunden werden, ohne dass die parlamentarische Demokratie und die politische Wechselwirtschaft zwischen Links und Rechts beeinträchtigt würde?"
Archiv: Nepszabadsag

New Republic (USA), 11.06.2008

Streit unter den Dschihadisten: Osama bin Laden ist plötzlich umstritten, berichten Peter Bergen und Paul Cruickshank. So hat Noman Benotman, ehemaliger Führer der Libyan Islamic Fighting Group, im letzten September einen im Westen kaum zur Kenntnis genommenen Offenen Brief an bin Laden geschrieben, "in dem er Al Qaida aufforderte, alle Operationen in den arabischen Ländern und im Westen einzustellen. Die Einwohner der westlichen Länder wären schuldlos und sollten nicht Ziel von terroristischen Attacken werden, sagt Benotman, der mit seinem englischen Akzent, eleganten Anzug, getrimmten Bart und lässigen Auftreten nur schwer die Vorstellung aufkommen lässt, dass er einst an der afghanischen Front stand. (...) Damit stimmte Benotman in einen wachsenden Chor des Ärgers gegen Al Qaida und seine Verbündeten ein, deren Opfer seit dem 11. September vor allem Muslime waren. Noch wichtiger: er schloss sich einer größeren Gruppe aus religiösen Wissenschaftlern, früheren Kämpfern und Militanter an, die einst großen Einfluss hatten auf die Führer Al Qaidas hatten und die sich - alarmiert durch die wachsende Bedrohung von Zivilisten im Westen, das sinnlose Töten in muslimischen Ländern und Al Qaidas barbarische Taktiken im Irak - gegen die Organisation wenden, viele erst im vergangenen Jahr."
Archiv: New Republic

New Yorker (USA), 02.06.2008

Lawrence Wright schreibt über Sayyid Imam al-Sharif alias Dr. Fadl, ehemaliger Führer der ägyptischen Terrorgruppe Al Dschihad sowie intellektueller Vordenker von Al Qaida, der in einem neuen Buch "Rationalizing Jihad" der Gewalt abschwört. Die Prämisse des im vorigen November in arabischen Zeitungen teilabgedruckten Buchs, dessen Autor erheblichen Einfluss in der islamistischen Welt hat, lautet: "'Nichts erregt den Zorn Gottes mehr als unberechtigtes Blutvergießen und Zerstörung von Eigentum.' Fadl stellt dann eine Reihe neuer Regeln für den Dschihad auf, die im Wesentlichen die meisten Formen des Terrorismus dem islamischen Gesetz nach für illegal erklärt und die Möglichkeiten des Heiligen Kriegs auf extrem seltene Umstände beschränkt. Seine Argumentation mag obskur wirken, auch auf die meisten Muslime, doch Männer, die ihr Leben riskiert hatten, um zu verwirklichen, was sie für die maßgeblichen Gebote ihrer Religion hielten, war jedes Wort ein Angriff auf ihr Weltbild und stellte die Chancen auf ihre eigene Erlösung in Frage."

Weiteres: Jonathan Rosen beschäftigt sich mit der anhaltenden Relevanz des englischen Dichters John Milton, zu dessen 400. Geburtstag eine ganze Reihe Bücher neu aufgelegt wurden, darunter auch seine bekannteste Schrift, das epische Gedicht "Paradise Lost". Paul Goldberger besichtigt die architektonischen "Extravaganzen", die Peking sich für die Olympischen Spiele geleistet hat. Sasha Frere-Jones stellt das neue Album "Here I stand" des R&B-Sängers Usher vor. David Denby hält die Wiedererweckung von "Indiana Jones" nach so vielen Jahren für einen Fehler.

Zu lesen sind außerdem die Erzählung "A Night at the Opera" von Janet Frame und Lyrik von Stanley Plumly und Arda Collins. Nur im Print: ein Artikel über Verbrechensbekämpfung der Zukunft.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 02.06.2008

Die Titelgeschichte widmet sich einem einigermaßen besorgniserregenden Trend: Immer mehr indische Frauen aus der aufstrebenden Mittelschicht trinken immer mehr Alkohol, wie Shruti Ravindran berichtet: "Angetrieben durch ihre neue finanzielle Unabhängigkeit und die wachsende gesellschaftliche Toleranz für alkoholisierte Frauen, ist die Zahl trinkender Frauen in den Ballungsräumen heute höher denn je. Sie beginnen oft mit harmlos schmeckenden Baileys und dergleichen; angenehm süße Getränke, die nichtsdestoweniger harten Alkohol enthalten. Wer damit anfängt, bewegt sich aber schnell zu den harten Drinks wie Whisky, Wodka oder Gin... Wir leben heute in einer Welt, in der der Anblick einer angetrunkenen Frau, die auf ihren hohen Absätzen herumstolpert, nicht mehr eine Bollywood-Allegorie für gefallene Tugend ist, sondern so gewöhnlich, dass keiner mehr auch nur mit der Wimper zuckt."

Weitere Artikel: Anvar Alikhan weist knapp auf die ungewöhnliche Erfolgsgeschichte der in spirituellen Zentren Indiens verbreiteten Kette "German Bakery" hin: Gegründet wurde sie vor einundzwanzig Jahren in Pune, vom aus Deutschland stammende Hippie Klaus Gutzeit - alias "Woody Pumpernickel". (Hier ein Erfahrungsbericht)
Archiv: Outlook India

New York Review of Books (USA), 12.06.2008

Robert Darnton, Leiter der Harvard-Bibliothek, blickt auf die großen Revolutionen der Informationstechnologie - die Erfindung der Schrift, des Kodex', des Buchdrucks und des Internets zurück und kann nicht finden, dass wir in einer Zeit bisher unbekannter Fülle an unzuverlässigen Informationen leben: "Ich würde behaupten, dass Nachrichten schon immer ein Artefakt waren und nie mit dem übereinstimmten,was tatsächlich passiert ist. Wir halten die Zeitung von heute für einen Spiegel der Ereignisse von gestern, aber sie wurde gestern Abend gestaltet, und zwar buchstäblich von Redakteuren, die die Seite eins nach willkürlichen Konventionen gestalten: Aufmacher in der Spalte rechts außen, Neben-Aufmacher links, weiches Thema unter dem Bruch, das Feature durch eine besondere Überschrift abgesetzt. Typografisches Design führt den Leser und formt die Bedeutung der Nachricht. Die Nachrichten selbst werden entsprechend bestimmter Konventionen erzählt, die Journalisten in ihrer Ausbildung gelernt haben: Aufbau gemäß der 'umgekehrten Pyramide', farbiger Einstieg, Code für hochstehende Quellen und so weiter. Nachrichten sind nicht das, was passiert sind, sondern Geschichten über das, was passiert ist."

Der Physiker Freeman Dyson hat auch in den neuesten Veröffentlichungen nichts gefunden, was ihn vom drohenden Klimawandel überzeugt hätte: "Alle Bücher, die ich über die Wissenschaft und Ökonomie des Klimawandels gelesen habe, treffen nicht das Hauptproblem. Dieses ist kein wissenschaftliches, sondern ein religiöses." Dyson schlägt daher vor, einfach genetisch veränderte Bäume zu pflanzen, die mehr CO2 absorbieren.

Weiteres: Michael Tomasky nimmt den von der Presse bisher recht wohlwollend behandelten John McCain näher unter die Lupe, stößt aber auch nur auf ein recht heftiges Temperament und widersprüchliches Abstimmungsverhalten. John Cassidy untersucht, wie die Präsidentschaftskandidaten auf die Immobilienkrise reagieren wollen. Besprochen werden Philip Glass' an der Met uraufgeführte Gandhi-Oper "Satyagraha" und neue Bücher über Selbstmord-Attentäter.

Literaturen (Deutschland), 01.06.2008

Das Titeldossier ist Franz Kafka gewidmet, der in diesem Jahr 125. Geburtstag hat. Abgedruckt ist ein Essay des amerikanischen Autors Louis Begley über das Verhältnis von Leben und Werk bei Kafka. Klaus Wagenbach schreibt über die Kafka-Biografie von Reiner Stach. Online einzig ein einführender Text von Sigrid Löffler, in dem sie den überzeugenden Ansatz Stachs erklärt: "Der Biograf Reiner Stach führt in Kafkas Leben neben der horizontalen auch die vertikale Dimension ein - und die erweist sich keineswegs als arm, sondern im Gegenteil als biografisch außerordentlich fruchtbar: 'Der Reichtum von Kafkas Existenz hat sich wesentlich im Psychischen entfaltet, im Unsichtbaren, in einer vertikalen Dimension.' Es sei Kafka um die Form gegangen, in die er sein Leben bringen wollte. In einem asketischen Selbstentwurf habe er diese Form schließlich gefunden, in der bewussten Abstinenz von jeder vitalen Teilnahme am Tanz der Säfte und Kräfte des Lebens." (Der zweite Teil von Stachs Kafka-Biografie erscheint im Juni.)

Weitere Artikel: In seiner Kolumne "Netzkarte" stellt Aram Lintzel unter anderem das "virtuelle Kafka-Bureau" vor. Und Sibylle Berg muss lernen, dass Geld "doch glücklich" macht. Im Kriminal bespricht Franz Schuh Guillermo Martinez' Roman "Der langsame Tod der Luciana B.", und zwar ganz ausdrücklich, ohne die zentrale Pointe zu verraten. Rezensiert werden außerdem das Buch "Der Fisch in uns", in dem der Paläontologe Neil Shubin beschreibt, wie er den Tiktaalik (Bild) - ein Zwischending aus Meer- und Landbewohner - entdeckte, Andreas Rosenfelders Untersuchung "Digitale Paradiese. Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele", die Bestseller-Verfilmung "Wilde Unschuld" und auf DVD eine Prachtausgabe (mit Romanbeilage) von Anthony Minghellas "Der Englische Patient".
Archiv: Literaturen

Wired (USA), 26.05.2008

Lisa Katayama stellt Hiroyuki Nishimura vor, einen der erfolgreichsten und ungewöhnlichsten Internet-Unternehmer Japans: ein Slacker, dessen technisch sehr schlichte Community-Site 2channel 500 Millionen Seitenabrufe hat, die Video-Website Nico Nico Douga - bei der die Nutzer, anders als bei YouTube, schriftliche Kommentare auf den Videos selbst anbringen können - verzeichnet sogar doppelt so viel. Katayama erklärt das sehr Japan-spezifische Geheimnis des Erfolgs: "Bei 2channel kann jeder einen Thread starten, jeder kann Beiträge schreiben - man muss sich weder registrieren noch einloggen. Es gibt keine Zensoren, keine Filter, keine Altersüberprüfung, keine Abstimmungen, die den einen Thread oder Kommentar nach oben bringen. 'Ich habe einen Freiraum geschaffen und was die Leute damit anfingen, das war ganz ihnen überlassen', sagt er. 'Bei den großen Anbietern gab es so etwas nicht, also musste ich das machen.' Die Japaner, die einander jeden Morgen wortlos auf dem Weg zur Arbeit begegnen, stellten plötzlich fest, dass sie über vieles reden wollten. Hier konnten sie sich streiten, beschimpfen, beschweren, beleidigen, konnten ihre Meinung äußeren, frei assoziieren, Späße machen und es genießen, sich durch die Beiträge der anderen unterhalten zu lassen - und das alles als völlig anonymes Kollektiv."

Außerdem: Evan Ratliff hat sich in den brasilianischen Dschungel begeben, wo er den wegen Biopiraterie angeklagten Biologen Marc van Roosmalen besuchte und das Schwimmen in von Anacondas bewohnten Gewässern nicht scheute. Herausgekommen ist dabei das Porträt eines nicht ganz unproblematischen Rebellen und wohl noch problematischerer Gesetze gegen Biopiraterie.
Archiv: Wired
Stichwörter: Schwimmen, Slack, Nico

Caffe Europa (Italien), 26.05.2008

Nando Sigona vom Refugee Studies Centre in Oxford beschreibt in einem aus ResetDoc übernommenen Schwerpunkt (der dort aber nicht online ist) noch einmal den fremdenfeindlichen Strudel, in dem Italien gerade versinkt. "In einem Interview im Corriere della Sera, beschrieb Gianfranco Fini (der jetzige Präsident der Abgeordnetenkammer) die Roma als eine 'Gemeinschaft, die sich nicht in unsere Gesellschaft integrieren lässt', Personen die 'Diebstahl für beinahe erlaubt und nicht verwerflich halten, die das Arbeiten ihren Frauen überlassen, Prostitution wahrscheinlich, und die keine Skrupel haben, Kinder zu vergewaltigen oder Kinder nur zu zeugen, um sie zum Betteln zu schicken.' Fini hält die bisherigen Beschlüsse für zu schwach und meint, dass zweihundert- bis 250.000 Personen aus Italien ausgewiesen werden müssten. Aus den Reihen der Lega Nord ist nun der Vorschlag gekommen, man müsste die Maßnahmen auf die ganze Immigrationsfrage ausdehnen. Umberto Bossi erklärte auf den Seiten von La Padania: 'Jetzt reden alle über die Roma und die Rumänen, die ganze Aufmerksamkeit ist auf sie gerichtet. Und man vergisst, dass es da noch die ganzen anderen Einwanderer gibt, mit all den Problemen, die damit verknüpft sind. Es sind nicht nur die Roma, die dieses Land in Schwierigkeiten bringen."

Weiteres: Alessandro Simoni macht auch die Prodi-Regierung für das feindselige Klima gegenüber Einwanderern verantwortlich. Alessandro Lanni trifft sich mit dem katholischen Priester Virginio Colmegna, der sich um hilfsbedürftige Einwanderer kümmert.
Archiv: Caffe Europa

World Affairs (USA), 23.05.2008

Jacob Heilbrun erzählt die (amerikanische) Geschichte der Ideologien des 20. Jahrhunderts als Geschichte des politischen Konvertitentums - von Arthur Koestler bis Christopher Hitchens. Es ist allerdings, daran lässt er keinen Zweifel, eine Verfallsgeschichte: "Mit lebenslangen Kämpfen über Einstellungswechsel, Vorwürfe des intellektuellen Verrats und qualvollen Erklärungen zur Verteidigung der Parteilinie war das Politische in den 30er und 40er Jahren fraglos eine persönlichere Angelegenheit als in den 60ern. In den letzten Jahren aber hat sich etwas verändert. Wer sich heute als öffentlicher Intellektueller installiert hat, hat meist ein sehr genaues Bewusstsein dafür, wie Debatten mit hohem ideologischem Einsatz früher geführt wurden..., und versucht unter Einsatz geschickter Bezugnahmen und mit entschlossener Selbstreferentialität, sich mit maximalem Effekt zu positionieren. Die Intellektuellen unserer Tage ... begreifen sich gerne als Celebrities und beschimpfen sich lieber auf FOX News und MSNBC als ihre Ideen und Vorstellungen in Büchern oder Zeitschriften darzulegen."
Archiv: World Affairs

Tygodnik Powszechny (Polen), 25.05.2008

"Bei Autorenlesungen höre ich oft, dass ich der letzte Romantiker bin. Für mich klingt das nicht wie ein Kompliment." Nach gut zwanzig Jahren Pause kehrte der Schriftsteller Eustachy Rylski 2005 mit einem historischen Roman über das alte Polen zurück. Im Interview spricht er von den guten, alten Zeiten der festen Werte, gesteht aber: "Manchmal ist es besser, wurzellos zu sein. Das Bewusstsein der eigenen Identität macht das Leben nicht unbedingt leichter. Die Tradition des polnischen Landadels ist aber die einzige, an die man anknüpfen kann. Sie ist nicht die beste, aber die beste, die zu haben ist."

Außerdem: Anita Piotrowska berichtet über das Dokumentarfilmfestival "Planete Doc Review", und Joanna Jopek sucht beim Krakauer "Photomonat" nach Sinn und Wahrheit der Fotografie.

Economist (UK), 23.05.2008

In Hongkong scheint eine Ära endgültig zu Ende zu gehen. Das noch immer vom 100jährigen Sir Run Run Shaw geführte Shaw Brothers-Imperium, zuletzt in erster Linie ein riesiges Fernsehnetzwerk, wird, wie es aussieht, endgültig verkauft. Der Economist erinnert an die großen Zeiten des Filmstudios: "Auf dem Höhepunkt seiner Geschichte, zwischen den späten 1950ern und den frühen 1980ern, machte Sir Run Run eine seiner Firmen, Shaw Brothers, zum produktivsten Filmstudio der Welt. In der riesigen Movie Town in Hongkongs damals wenig besiedelten Neuen Territorien, lebten Stars und Bühnenarbeiter miteinander in Wohnheimen, aßen in der zentralen Kantine und drehten Tag und Nacht. Viele der Filme, die an diesem brutal effizienten Fließband entstanden - vor allem die mit Kung Fu, Schwertkampf und Triaden - gelangten auf der ganzen Welt zu Kultstatus." (mehr auch hier)

Besprochen wird die Studie "Fatal Misconception", in der der Historiker Matthew Connelly einen kritischen Blick auf die Geschichte der Geburtenkontrolle im 20. Jahrhundert wirft: "Ein großer Teil der im Namen der Geburtenkontrolle begangenen schrecklichen Dinge hatte seine Wurzeln in einer heiklen Koalition von Feministinnen, Philanthropen und Umweltschützern, die den unfreiwillig Fruchtbaren helfen wollten, und Rassisten, Eugenikern und Militaristen, die ganz genaue Vorstellungen davon hatten, wer sich reproduzieren sollte und wer nicht."

Rezensionen gibt es weiter zu Fareed Zakarias Buch über "Die post-amerikanische Welt" und zu David Y. Prices Geschichte des Animationsfilm-Pioniers Pixar.
Archiv: Economist
Stichwörter: Hongkong, Pixar, Umweltschutz, Eugenik

Elet es Irodalom (Ungarn), 23.05.2008

Um die derzeitige Krise der politischen Kultur Ungarns zu überwinden, sollen die Intellektuellen mehr Verantwortung tragen, wird oft gefordert. Der Schriftsteller Ivan Sandor fände es dagegen zweckdienlicher zu erforschen, warum eine solche Verantwortung oft vergebens war. Denn während die politische und intellektuelle Elite des 19. Jahrhunderts noch weitgehend identisch war, ist im 20. Jahrhundert die Reihe der ungehörten, verfolgten und emigrierten Intellektuellen sehr sehr lang: "Seit einiger Zeit ist die Fähigkeit zur (historischen) Selbsterkenntnis abhanden gekommen, sagt man, sage auch ich. Kann man sich diesem Dilemma auch aus einer anderen Perspektive nähern? Folgt aus der Selbsterkenntnis immer die Einsicht? Kann das Wissen nicht auch zur Erkenntnis führen, dass es im 20. Jahrhundert weder Kraft noch Wille gab, den Abstieg zu stoppen? Kann es nicht auch zu der Erkenntnis führen, dass der Mensch deshalb fortsetzt, woran er teilnimmt und was er gestaltet (und nicht nur erleidet) - weil er sich im evolutionären-historischen Sinne nicht ändern kann? Es gibt allerdings Länder, in denen er es kann.?

Aus der Ausgabe letzter Woche: Im Herbst 1968 flüchtete der Prager Filmstudent Pavel Schnabel nach Deutschland, wo er zu einem der bekanntesten Dokumentarfilmer wurde. Über die Erfahrung, aus dem Prager 1968 ins 1968 der westeuropäischen Studentenbewegung zu geraten, sprach er im Interview mit Zoltan Szalai: "Stellen Sie sich vor, Sie verlassen ein Land, weil Sie nichts mehr von Politik und Kommunismus hören wollen - und begegnen dann in einem anderen Land wildfremden Menschen, die gerade am Entfachen einer gesellschaftlichen Revolution arbeiten. In der langen Zeit, die ich mit ihnen verbrachte, stellte sich die Frage immer öfter, was ich vom westlichen 1968 halte und warum ich die Tschechoslowakei verlassen habe. Nach einer gewissen Zeit habe ich mit ihnen zusammen demonstriert und an mehreren 'sit ins' teilgenommen - unter anderem gegen den Springer-Konzern. Sowohl ich als auch sie mussten verstehen, dass ich die Tschechoslowakei nicht wegen jenem Sozialismus verlassen habe, für den sie kämpfen, und dass sie nicht jenen Kommunismus verwirklichen wollen, vor dem ich geflohen bin. Ich musste erkennen, dass die damalige BRD die Ideale des Sozialismus besser verkörperte als die Tschechoslowakei."

Times Literary Supplement (UK), 23.05.2008

A. N. Wilson verteidigt Patrick Frenchs Biografie V.S. Naipauls "The World is what it is": "Es ist eine ungeheure Leistung, eine wundervolle Biografie, eine Rechtfertigung für die Kunst der Biografie. Und doch waren die Reaktionen bisher eher feindselig - vor allem, scheint es, weil die Kritiker schwer damit zu kämpfen haben, in dem großen Schriftsteller auch die herkömmliche Vorstellung des idealen Ehemanns zu finden. Wie konnte solch ein meisterlicher Autor ein solches Monster sein? Kein Zweifel, es ist ungeheuerlich, wenn Naipaul gegenüber French eine Szene schrecklicher Gewalt gegenüber seiner argentinischen Geliebten Margaret Gooding zugibt: Er hatte gerade herausgefunden, dass sie ihm untreu war: 'Zwei Tage lang habe ich sie geschlagen; zwei Tage lang habe ich sie mit der Hand geschlagen, meine Hand fing schon an zu schmerzen... Ihr machte es nichts aus. Sie hielt es für einen Ausdruck meiner Leidenschaft für sie.' Sie blieb noch ein Vierteljahrhundert bei ihm. Kein Zweifel, Naipaul wollte, dass davon erzählt wird - von der Gewalt und von der Untreue."

Carlin Romano stellt zwei Bücher vor, die sich vor und um die bisher "rein zufällige" Freiheit des Internets sorgen: Daniel J. Solove fürchtet in "The Future of Reputation", dass Klatsch und Tratsch und üble Nachrede durch das Internet in aller Welt verbreitet und für alle Zeit gespeichert wird. Jonathan Zittrain fürchtet in "The Future of the Internet", dass Spam und Viren uns dazu bringen könnten, in die schöne neue Welt der kontrollierten Angebote von iPods, iPhones, Xboxes und TiVos zu flüchten.

Weltwoche (Schweiz), 22.05.2008

Ein Video der Pariser Elektro-Band Justice hat die französische Presse aufgeschreckt. Gedreht von Romain Gavras, dem Sohn Constantin Costa-Gavras', zeigt es eine Jugendgang aus der Banlieue, die marodierend durch Paris zieht. Stefan Brändle hat sich das Video angesehen: "Gewalt ist das Mittel und der Zweck. Das steigert den verstörenden Effekt des Clips: Der gellende Beat versetzt uns auch in die Köpfe dieser Halbwüchsigen, die aufgezogen sind wie Stahlfedern, wie Getriebene durch die Gassen rennen und Dampf an allem ablassen, was ihnen in die Fänge kommt. Gavras schlägt sich aber nicht auf ihre Seite, wie das der Banlieue-Film 'La Haine' vor gut zehn Jahren vorgemacht hatte (als die casseurs noch bedeutend älter waren). Der 'Stress'-Streifen bezieht keine Stellung. Er erklärt nichts, er zeigt. Er zeigt die Opfer, die Täter, die Zaungäste, die Polizei. Aber er wertet nicht; er übertreibt auch nicht und beschönigt noch weniger; er verharmlost die Gewalt nicht und zelebriert sie ebenso wenig. Dafür offenbart das Video, was sonst gerne übersehen wird: dass diese Jünglinge, denen noch nicht einmal der Bartflaum sprießt, keinerlei Hemmschwellen mehr haben."

Außerdem: Markus Gasser kann sich Thomas Pynchons Erfolg bei der Literaturkritik nur damit erklären, dass Pynchon so schön kapitalismuskritisch ist.
Archiv: Weltwoche

New York Times (USA), 25.05.2008

Zehn Seiten und die Titelgeschichte des Magazine bekommt Emily Gould, ihre Geschichte zu erzählen. Emily Gould ist berühmt, zumindest in bestimmten Kreisen des Internets. Sie war Redakteurin beim New Yorker Klatschblog Gawker, sie schreibt ein viel gelesenes eigenes Blog. Und hier beschreibt sie nun, wie es ist und wie es war, diese Blogs zu schreiben. In ihnen ihr Privatleben zu offenbaren. Am Spannendsten ist vielleicht das, was sie über ihr Verhältnis zu den Kommmentatoren zu sagen hat: "Die Kommentatoren meines privaten Blogs Emily Magazine waren wie Freunde gewesen. Zu den Gawker-Lesern hatte ich ein anderes Verhältnis. Nicht ganz Freundschaft. Fast etwas Tiefergehendes. Sie waren sowas wie Mit-Arbeiter, die mir Ideen für Posts gaben, die meine Pointen umschrieben. Sie waren widerliche Typen, die mich an der Bar anmachten. Sie waren Fans, die sich an mich ranschleimten und noch meine dämlichsten Einträge in den Himmel lobten. Sie waren Feinde, die meine schlimmsten Befürchtungen über meine eigene Unfähigkeit aussprachen. Sie waren die Stimmen in meinem Kopf."

Im Internet hat die New York Times die Kommentar-Sektion nach dem 727. Eintrag geschlossen (Tage vor Erscheinen des Artikels im Print). Die Leserschaft ist in großer Mehrheit völlig verständnislos und spuckt Gift und Galle. Sie fordert Emily Gould auf, etwas Vernünftiges aus ihrem Leben zu machen. Sie fordert die New York Times auf, wieder eine seriöse Zeitung zu werden, in der es um ernsthafte Dinge geht. Es gibt auch Unterstützer, aber die posten vor allem in Emily Goulds privatem Blog Emily Magazine. (Im Dezember hatte Carla Blumenkranz die Gawker-Blogger im Magazin n+1 genau unter die Lupe genommen. Passend zum Emily-Blog ein Artikel im New York Magazine, den ebenfalls ein Blogger - allerdings mit etwas mehr Karacho, das heißt beleidigend und Tod wünschend - verfasst hat. Den Hinweis fanden wir natürlich bei Gawker)
Archiv: New York Times
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