Magazinrundschau

Wir sind gekommen, um zu expandieren

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
17.06.2008. In der Lettre zeigt der Philosoph Michail Ryklin, wie Macht funktioniert. In Le Point erklärt der Historiker Patrice Gueniffey die revolutionäre Leidenschaft der Franzosen. In der London Review beklagt der Psychogeograf Iain Sinclair die rasende Zerstörung des Londoner Ostens. In der Polityka ärgert sich Adam Krzeminski über polnische Neonationaldemokraten und deutsche Linke. Atlantic hört die Musik in Rupert Murdochs Plänen für das Wall Street Journal. Der New Statesman erinnert an den österreichischen Fußballhelden Matthias Sindelar. Elet es Irodalom fragt: Wozu brauchen wir Literatur?

Lettre International (Deutschland), 10.06.2008

Die Lettre wird zwanzig und gönnt sich eine opulente Geburtstagsausgabe, in der Alexandra Fuller, Rafael Sanchez Ferlosio, Nimrod, Ko Un, Tzvetan Todorov, Geert Lovink, Laszlo Vegel, Dzevad Karahasan, Jean-Pierre Fey und Evgen Bavcar und viele andere beschreiben, wie wir jetzt leben.

Der in Berlin lebende russische Philosoph Michail Ryklin schreibt über den Tod seiner Frau, der Künstlerin Anna Altschuk, der für ihre Teilnahme an der Ausstellung "Achtung, Religion!" 2003 in Moskau der Prozess gemacht worden war (mehr hier). "Nach Annas Verschwinden fand ich ein Tagebuch ihrer Träume der letzten fünf Jahre, während derer meine Frau und andere Künstler in Russland Opfer einer Hetzkampagne geworden waren. Im Radio, im Fernsehen und in der Presse wurden ganze Kübel Dreck über sie alle ausgegossen. Dann wurde meine Frau, deren Unschuld dem Gericht von vornherein klar war, als einzige angeklagt; nach über fünf Monaten ununterbrochener Beleidigungen und Erniedrigungen im Gerichtssaal sprach sie der Richter, dem kein einziger Beweis ihrer Schuld vorgelegt werden konnte, von den Vorwürfen frei (was in Russland äußerst selten geschieht, denn Freisprüche schaden einer Richterkarriere). Ein Freispruch ist eine formal-juristische Angelegenheit. In einer autoritären Gesellschaft aber trägt jemand, der einmal zum Schuldigen auserkoren wurde, weiterhin das Stigma der Schuld. Die Moskauer Künstlerszene begriff, wer die Macht hat (und damit, so denkt der Sowjetmensch von gestern, auch das Recht gepachtet hat), und wandte sich von Anna Altschuk ab."

Der chinesische Dichter Liao Yiwu lässt die neunzehn Jahre nach dem Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens Revue passieren: "4. Juni 1990. Ich hatte die ersten Verhöre durchgemacht und auch die zwanzig Tage dauernde 'Wagenradtaktik', bei der man abwechselnd auf dich einprügelt, und bar jedes Glorienscheines befand ich mich nach wie vor in Untersuchungshaft in einem Gefängnis der Sicherheitspolizei in Geleshan bei Chongqing. Vor und nach mir wurden um die zwanzig Schriftsteller eingeliefert und mit unterschiedlichen Maßnahmen tyrannisiert. Ich erinnere mich schemenhaft an diese Tage, als man durch die den Himmel spaltenden Eisengitter die schlechten Nachrichten vernahm und ich unter heruntergekommenen Kleinkriminellen die Frage diskutierte: Wie kann das schon ein Jahr her sein?"

The Nation (USA), 30.06.2008

Der Schwerpunkt des Heftes widmet sich der rasant wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in den USA. John Cavanagh und Chuck Collins stellen fest: "In den vergangenen dreißig Jahren haben markthörige Politiker und ihre Unterstützer in den Unternehmen die gewaltigste Umverteilung des Reichtums in der jüngeren Weltgeschichte bewerkstelligt: eine Umverteilung von unten nach oben, von der arbeitenden Bevölkerung zu einer winzigen globalen Elite."

Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein erklärt, warum man sich von Barack Obama in Sachen Gerechtigkeit nicht zu viel erwarten sollte: "Es waren gerade drei Tage nach Hillary Clintons Rückzug vergangen, da verkündete Barack Obama auf CNBC: 'Hören Sie. Ich bin für Wachstum. Ich bin für den freien Markt. Ich liebe den Markt.' Um zu demonstrieren, dass das mehr als nur Frühlingsgefühle waren, ernannte er den 37 Jahre alten Jason Furman zum Chef seines Wirtschaftsteams. Furman ist einer der prominentesten Wal-Mart-Verteidiger, der die Firma als 'fortgesetzte Erfolgsgeschichte' feiert."

Abgedruckt wird auch ein Auszug aus Barbara Ehrenreichs (mehr) neuestem Buch "Dies Land ist ihr Land", in dem sie klagt: "Wenn es irgendwo wirklich schön ist, dann kannst du dir den Aufenthalt dort nicht leisten. Ok, hier und da mag es noch ein paar nette Aussichten geben, ohne dass teure Landhäuser mittenhinein platzierten worden sind. Aber das wird nicht lange so bleiben." Und hier ein paar anschauliche Grafiken zum Thema.
Archiv: The Nation

Point (Frankreich), 12.06.2008

Der Historiker Patrice Gueniffey, Schüler von Francois Furet, hat ein viel beachtetes Buch über den 18. Brumaire geschrieben. Mit diesem demokratischen Staatsstreich habe Napoleon III. die revolutionären Errungenschaften gerettet - so wie de Gaulle am 13. Mai 1956 die Republik rettete, resümiert Le Point die Hauptthese. Im Gespräch über sein Buch erklärt Gueniffey: "Die französische Revolution ist der Augenblick, in dem sich die Vereinigung von humanitärem Mitgefühl und Ressentiment vollzieht. Dieser Mischung aus brüderlicher Freundschaft, Mitleid mit den Schwachen und sehr starkem sozialem Ressentiment entspringt die terroristische Gewalt. Und diese sehr französische Allianz von menschlichem Wohlwollen und aus dem Ressentiment geborenem Hass wirkt bis heute weiter?" Das Wesen der reifen Demokratie beschreibt Patrice Gueniffey so: "Keiner glaubt daran, aber niemand denkt daran, sie zu verwerfen. Auch in Frankreich nicht, doch hier existiert die revolutionäre Leidenschaft in Form eines bitteren Hintergrundrauschens, das eines Tages, zumindest wenn die Umstände danach sind, die wieder zu einer jener Episoden führen könnten, an denen die französische Geschichte so reich ist."

In der sehr lesenswerten Internetzeitschrift La vie des idees hat Gueniffey einen großen Essay über Francois Furet und Napoleon vorgelegt.
Archiv: Point

London Review of Books (UK), 16.06.2008

Der britische Essayist, Romanautor und London-Psychogeograf Iain Sinclair schildert in einer grandiosen literarischen Reportage die Zerstörung des Londoner Ostens, der gerade olympiareif gemacht wird und dabei sein Gesicht verliert: "Fußballer mit überschüssigem Kleingeld kaufen, hört man, ganze Wohnanlagen auf fürs Portfolio zum Wiederverkauf; viele dieser grellbunten Hüllen mit niedrigen Decken und eng an den Leib gepressten Balkonen werden, das ist heute schon klar, für immer halb leer stehen, als Ausstellungen ihrer selbst. Alles sieht spielerisch aus, aber freudlos, Ikea-Bettkästen, zusammengebastelt aus Plastikkarten und Zahnstochern. Die Stadtlandschaft der Bezirke im Umfeld der akustischen Bannmeile des Olympischen Parks im Lower Lea Valley ist der Zerstörung überantwortet, in einem rasenden, ungeduldigen Kampf gegen die Uhr, wie ihn London seit den Anfängen der Eisenbahn nicht mehr gesehen hat. Alle Zurückhaltung, alle Anhänglichkeit ans Gewesene sind beiseite gewischt, alles wartet einzig und allein auf den großen Knall der Starterpistole."

Weitere Artikel: Thomas Jones erzählt die ein wenig ins Stocken geratene Erfolgs-Geschichte von ebay und steigt ein mit einem Bericht vom erfolgreichen Verkauf einer frühen "Keane"-CD-Single für 750 Pfund. Warum es ihm partout nicht gelingt, die superedlen Klassikerausgaben der "Library of America" zu lesen, erklärt John Lanchester. Peter Campbell denkt über Haus- und Ladentüren nach. James Davidson bespricht die Auseinandersetzung des Historikers Pierre Vidal-Naquet mit dem Atlantis-Mythos - und staunt ein wenig, wie positivistisch er verfährt.

Weltwoche (Schweiz), 12.06.2008

Gleich mehrere amerikanische Magazine haben in letzter Zeit von einer innerislamistischen Meuterei gegen al-Qaida berichtet, Urs Gehringer unterhält sich darüber mit Pulitzerpreisträger Lawrence Wright, der kürzlich im New Yorker berichtet hatte, dass Sayyid Imam al-Sharif alias Dr. Fadl neue, weniger blutrünstige Regeln für den Dschihad aufgestellt habe. Gehriger kommt dies vor, "als ob Marx aus dem Grab gestiegen wäre, um Lenin den ideologischen Teppich unter den Füßen wegzuziehen". Er fürchtet, die Revolte könnte sich als Sturm im Wasserglas erweisen. Dazu Wright: "Al-Qaida wird ihren Terror fortsetzen, kein Zweifel, doch niemand kann ihre Philosophie mehr ernst nehmen. Die Organisation hat nichts vorzuweisen außer Blut und Elend. Ihre Ideologie wurde aus verrotteten intellektuellen Fragmenten - falsche Interpretationen von Religion und Geschichte - zusammengezimmert. Dr. Fadls Manifest hat dies schonungslos entlarvt."
Archiv: Weltwoche

Polityka (Polen), 10.06.2008

Wie schwierig das Gespräch über Geschichte zwischen Deutschen und Polen sein kann, zeigt Adam Krzeminski anhand zweier Beispiele: "Unsere Neonationaldemokraten fahren in Warschau Geschütze gegen Stauffenberg auf. Die deutsche Linke fährt in Magdeburg Geschütze gegen Pilsudski auf und wehrt sich gegen die Anbringung einer Gedenktafel an dem Ort, wo er 1918 interniert wurde und von wo aus er am 11. November nach Warschau zurückkehrte. Für unsere Neonationaldemokraten ist Stauffenberg eine Unperson, weil er vom Sieg über Frankreich berauscht war und 1939 abfällig über die durch die Niederlage gedemütigten Polen schrieb. Für die Post-DDR-Stadträte ist Pilsudski ein Caudillo aus irgendeiner Bananenrepublik und kein polnischer Bismarck. ... So wenig polnische und deutsche Historiker größere Probleme mit der Beurteilung der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert haben, so sehr haben diese Politiker und Journalisten, die an der eigenen nationalen Mythologie hängen und an einem Verständnis von Geschichtspolitik ausschließlich als Wettlauf von Egoismen, Konfrontation mit dem Feind und nicht Kooperation mit dem Nachbarn." (Hier die deutsche Übersetzung des ganzen Artikels.)
Archiv: Polityka

Vanity Fair (USA), 16.06.2008

"Tut es nicht", fleht Christopher Hitchens die Immobilienspekulanten an, die sich nun New Yorks Greenwich Village vorknöpfen, um die Profitrate zu erhöhen: "Es ist nicht möglich, genau zu beziffern, wieviel Gesellschaft und Kultur der Boheme verdanken. Aber zu jeder Zeit, in jedem erfolgreichen Land war es wichtig, dass zumindest ein kleiner Teil der Stadt nicht von Bankern, Investoren, Geschäftsketten, 08/15-Restaurants und Bahnstationen beherrscht wird. Dieses kleine Quartier sollte stattdessen ein Schutzgebiet sein für Nachtschwärmer sowie Restaurants und Bars, die rund um die Uhr geöffnet sind; für Bibliophile und die kleinen Läden, die diese versorgen; für Alkoholiker, Süchtige, Abweichler und Geschäftsinhaber, die diese verstehen; für angehende Maler und Musiker und die bescheidenen Studios, die sie sich leisten können; für die Damen der leichten Moral und die Männer, die sie nötig haben; für Nicht-Gesellschaftsfähige und Dichter aus fremden Ländern sowie Exilanten aus fernen und grausamen Diktaturen. Die Reihenfolge ist nicht zwingend."
Archiv: Vanity Fair

Gazeta Wyborcza (Polen), 14.06.2008

Michel Houellebecq hat sich inmitten einer Schaffenskrise auf Lesetour in Polen begeben! Er habe "wirklich keine Idee" für ein neues Buch, gesteht er im Interview . Ein Grund dafür liegt vielleicht in seiner Einstellung zur Realität: "Der Kapitalismus ist weder Hölle, noch Paradies. Er ist einfach die Welt, in der ich lebe. Man kann sagen, dass er mein Inneres ersetzt. In unserem Alltagsleben freuen wir uns über Einkäufe im Supermarkt oder die Vielfalt an Fernsehprogrammen. Dass die Welt so aussieht, wie sie aussieht, hat gewisse Vorzüge. Die Menschen sind zufrieden damit. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich unzufrieden, weil ich so von Natur aus bin." Außerdem meint er, dass es heute leichter sei, originell zu sein, als früher.

Der Historiker Janos Tischler erinnert außerdem an den 50. Jahrestag der Erhängung Imre Nagys, des ungarischen Premierministers, der den antisowjetischen Aufstand 1956 angeführt hat. Der "Reformer" ließ sich dabei von den Ereignissen eher mittragen, aber "die Entscheidung, aus dem Warschauer Pakt auszutreten, war eine historische - der Kommunist Imre Nagy identifizierte sich mit der Nation, gegen die Interessen und Dogmen der Partei und der internationalen kommunistischen Bewegung."
Archiv: Gazeta Wyborcza

The Atlantic (USA), 01.07.2008

Unaufhaltsam scheint der Niedergang der Zeitungen in den USA. Und justament in dieser finsteren Situation möchte Rupert Murdoch, von allen Seiten beargwöhnt, das von ihm aufgekaufte Wall Street Journal zur Erfolgsgeschichte machen. Mark Bowden schildert die Umstände: "Wir sind gekommen, um zu expandieren, sagte er. Er kündigt an, mit dem umgebauten Journal nicht nur die New York Times als bedeutendste überregionale Tageszeitung abzulösen, sondern daraus die erste wirklich globale Zeitung zu machen. Das wäre Musik in den Ohren eines jeden Journalisten, deshalb mischte sich auch Hoffnung unter die Befürchtungen, die den Zuhörern Murdochs bei seiner Einstandsrede anzusehen waren. Er mag furchtbar sein, aber er ist reich und furchtbar, schlau und furchtbar, mächtig und furchtbar. Und er mag wahnsinnig sein, wenn er noch an die Zukunft von Print glaubt, aber er ist entschlossen und wahnsinnig."

Unter der Überschrift "Macht Google uns dumm?" fragt Nicholas Carr sich und Experten danach, wie das Scannen und Browsen im Internet unser Textverstehen, unsere Konzentrationsfähigkeit und letztlich unser ganzes Denken verändert.
Archiv: The Atlantic

Caffe Europa (Italien), 11.06.2008

Im Gespräch mit Alessandra Spila prangert der britische Autor Nick Hornby die Klassengesellschaft auf der Insel an. "Wir haben in der Zeitung zum Beispiel die Fotos von Personen wie Boris Johnson und David Cameron, die beide in Oxford waren. Sie sind Mitglieder eines sehr elitären und beschränkten Klubs, in dem lauter Leute sind, die mir überhaupt nicht gefallen, sehr rechte, selbstüberzeugte Snobs, die schon mit 19 Jahre lächerlich formelle Kleidung trugen. Und neben ihren Bildern stehen die kommentare der Redakteure, die Sachen schreiben wie: 'Auch ich war in Oxford, und ich habe diese Typen verabscheut.' Das Problem ist, dass die Journalisten sich sehr gerne von diesen Leuten distanzieren, dabei aber eine grundlegende Sache vergessen: sie gehören derselben Elite an, aus der 98 Prozent der Gesellschaft ausgeschlossen bleibt."
Archiv: Caffe Europa

New Statesman (UK), 16.06.2008

Anlässlich der Fußballeuropameisterschaft erinnert Robin Stummer daran, dass Österreich vor gar nicht langer Zeit - neben England - eines der gefürchtetsten Teams im Weltfußball war und sich eines der besten Spieler der Welt rühmen konnte: Matthias Sindelar. An den erinnern sich die Österreicher offiziell nicht so gern. "Einige Sekunden körniger Wochenschauaufnahmen, eine handvoll alter Presseausschnitte, ein Straßenname, ein Grab. Das ist die magere Hiternlassenschaft von Matthias Sindelar - einem der größten Fußballspieler der Welt, dem Pele der Zwischenkriegsjahre, ein Sportgenie, dass nicht nur das Spiel in die moderne Zeit geführt hat, sondern ganz nebenbei auch noch Hitler brüskierte. Viele glauben, dass die Verachtung des Mittelfeldspielers für die Nazis ihn das Leben kostete. ... In einem kleinen Land, das nicht gerade von Weltklassesporthelden überflutet ist, von ausgewiesenen antifaschistischen Märtyrern mal ganz abgesehen, ist die Abwesenheit von Sindelar in Österreichs offzieller Geschichte und Gegenwart seltsam. Keine Statue, kein Stadionname, keine Poster. Keine Fußballakademie trägt seinen Namen; es gab nicht ein Biopic, keine Ausstellung, keine Gedenktafel, keine neuen Untersuchungen seines verdächtigen Todes."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.06.2008

Die Kommunikationswissenschaftlerin Julia Sonnevend berichtet über die Konferenz "Wiedervorlage: Nationalkultur", die Ende April vom Goethe-Institut und den staatlichen Museen in Berlin veranstaltet wurde, und bedauert, dass eine ähnliche Konferenz in Ungarn momentan kaum stattfinden könnte - und nicht nur, weil es an politischem Konsens mangelt: "Um die Rolle der nationalen Kultur neu definieren zu können, müsste sie von außen betrachtet werden. Dieser Denkprozess wird durch den Umstand besonders erschwert, dass komplexe Analysen über das Ausland in der ungarischen Presse sehr rar sind, und dass die ... Diskurse, die die globale Öffentlichkeit bestimmen, hierzulande gänzlich fehlen (Klimawandel, die Problematik von Zentrum und Peripherie, usw.). In Ungarn dominiert eine Kultur der Hysterie, in der einem hysterischen Schritt eine hysterische Reaktion folgt, doch die Debatte verläuft zumeist lokal und streckenweise provinziell... Das Paradoxe an der Situation ist, dass in den oft als beispielhaft angesehenen europäischen Ländern gerade die Denkprozesse des Globalen dazu beigetragen haben, dass das Niveau der lokalen Debatten erhöht, die lokalen Aufgaben erfasst und die nationale Kultur neudefiniert werden konnten."

Während der wohlerzogene Zeitgenosse die Fragen "Wozu dient eigentlich die Geisteswissenschaft? Wozu brauchen wir Literatur?" schon aus Höflichkeit nicht stellt, halten sich "weniger kultivierte" Kreise immer weniger an diese Höflichkeit. Oft genug geht es dabei weniger um Provokation als um tatsächliche Ratlosigkeit, meint der Theaterwissenschaftler Laszlo Limpek: "In einer Zeit, in der die Gesellschaft dem einfachsten Durchschnittsbürger eine Reihe 'neuer' Verantwortlichkeiten (vom Umweltbewusstsein über die Idee des bewussten Wählers bis hin zum bewussten Verbraucher) aufbürdet, darf man sich nicht wundern, wenn dieser Durchschnittsbürger die Gegenfrage stellt: Und die Geisteswissenschaft? ... Mittlerweile gibt es fast schon zu jedem Lutschbonbon eine Gebrauchsanweisung. Und zur Literatur, die die sicherlich komplexeste Erfindung der Menschheit, die Sprache seziert, wie auch zu den Geisteswissenschaften, die sich den abstraktesten Erfindungen des menschlichen Verstandes widmet, gibt es keine. Da ist es nicht verwunderlich, dass manche sie vermissen."

Espresso (Italien), 13.06.2008

Die Welle der Fremdenfeindlichkeit, die gerade über Italiens Sinti und Roma hinwegrollt, macht Umberto Eco richtig ungehalten. Mit beißendem Spott bietet er in seiner Bustina den neuen "revisionistischen" Autoren Stoff an für ihre Pamphlete. Bestens geeignet, so Eco, seien dafür Texte aus der faschistischen Tageszeitung Die Verteidigung der Rasse, die von 1938 bis 1943 erschien. Hier ein Exzerpt aus Guido Landras "Das Problem der Mestizen in Europa", das den verbalen Ausfällen mancher italienischer Politiker von heute erschreckend ähnelt: "Es handelt sich um asoziale Individuen, die sich im Geiste völlig von den übrigen europäischen Völkern unterscheiden, vor allem von den Italienern, die sich bekanntlich durch Fleiß und eine Verbindung zur Scholle auszeichnen."
Archiv: Espresso

Spectator (UK), 14.06.2008

"Le chevalier de Sainte-Hermine" heißt ein Buch, das Alexandre Dumas nie geschrieben hat, das aber nach seinen Aufzeichnungen rekonstruiert worden und nun auch als "The Last Cavalier" auf Englisch erschienen ist. Gerald Warner liebt diese Mantel-und-Degen-Literatur und schreibt ihr sogar charakterverbessernde Wirkung zu. "Romane dieser Schule des Verwegenen boten ganz unangestrengt eine Erziehung in Manieren und Moral, geschmückt mit befederten Hüten, Rapiers mit Glockengriffen und wogenden Busen. Jungs, die im Geiste efeuumrankte Mauern mit einem Schwert zwischen den Zähnen hochgeklettert sind, den Burggraben von Zenda durchschwommen, eine Piratengaleone gestürmt haben oder mit einer geretteten Heldin quer über dem Sattel im Galopp entkommen sind, brauchten keine Unterweisungen mehr in Ehre, Mut und Respekt vor Frauen. Von modernen Computerspielen bekommt man diese Werte nicht mehr vermittelt." Der würdige Nachfolger von Dumas war laut Warner Anthony Hope Hawkins, dessen "Gefangener von Zenda" um 1890 erschien.

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Eurozine (Österreich), 10.06.2008

Land für Land arbeitet sich Eurozine durch die literarischen Persprektiven in den EU-Ländern, und pünktlich zur EM ist Österreich dran. Daniela Strigl kürt Elfriede Jelineks Internetromane zur fortschrittlichsten Variante rot-weiß-roter Schreibkunst und freut sich über die Renaissance des Idioms. "Als Voraussetzung für eine EU-taugliche Literatur gilt für die meisten Schreibenden in Österreich ein deutschlandtaugliches Deutsch. Seit Jahr und Tag versuchen deutsche Verlagslektoren, ihre österreichischen Autoren fit für den deutschen Markt zu machen, indem sie 'nationalsprachliche' Eigenheiten in ihren Texten ausmerzen. Haben sie sich an den Großen, an Bernhard und Jelinek, die Zähne ausgebissen, so knabbern sie umso eifriger an den idiomatischen Problemzonen der Kleineren herum, wobei halbherziges Durchgreifen häufig bilinguale Zwitterwesen gebiert. So mancher deutscht sich, vorauseilend gehorsam, gleich selbst ein, Mutigere blasen zum Angriff: Wolf Haas, dessen zu Kultbüchern gewordene Krimis mit dem Ex-Polizisten Brenner (zuletzt "Das ewige Leben") seinerzeit nicht zuletzt wegen jener umgangssprachlichen Prägung von vielen Verlagen abgelehnt worden waren, der sie später ihren Ruhm verdanken sollten, leistet in seinem jüngsten, in Interviewform verfassten Buch "Das Wetter vor 15 Jahren" sarkastisch Übersetzungsarbeit aus dem Deutschen ins Deutsche."

Archiv: Eurozine