Magazinrundschau

Heilige Bücher sind oft einfach

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.08.2008. In Elet es Irodalom erklärt Miklos Tamas Gaspar am Beispiel von Solschenizyn den Unterschied zwischen Klassikern und Heiligen Büchern. Der Economist ist froh, dass im Westen kein Intellektueller mehr die Bedeutung Solschenizyns hat. The New Republic fragt, warum niemand das Schlachten in Darfur aufhalten konnte, obwohl alle davon wussten. Die London Review betrachtet Matisses "Dame mit Hut". Im Magazin denken die serbischen Psychoanalytiker Alek Vuco und Tamara Stajner-Popovic über die Symbolkraft von Karadzics Sprache nach. George Orwell hat jetzt ein Blog, berichtet das Time Magazine.

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.08.2008

Man sagt, Solschenizyn sei nur ein mittelmäßiger Schriftsteller gewesen; man sagt, sein Stil sei banal, er habe keinen Humor; man sagt, er sei dem russischen Großmachtswahn verfallen, er sei ein konservativer Monarchist und russischer Nationalist geworden; man sagt, seine unablässige Moralpredigten seien schrecklich langweilig. Das mag zum Teil stimmen, schreibt der Philosoph Miklos Tamas Gaspar, ist aber vollkommen egal: "Alexander Issajewitsch Solschenizyn hat die heiligen Bücher des 20. Jahrhunderts geschrieben. Heilige Bücher sind oft einfach, ihre Elemente etwas konfus, ihre Autoren manchmal unwissend, manchmal sogar nicht ganz dicht. ... Die vulkanischen, manchmal die Stilmittel des billigen russischen Romans anwendenden, wortreichen und aufgeregten Bücher Solschenizyns sind keine Klassiker. Das ist keine Literatur. Das ist die Heilige Schrift. ... Alexander Solschenizyn hat eine Sache hartnäckig wiederholt: Dass nämlich das Leiden nicht edel macht, dass nicht die Tugend der Leidenden zählt, sondern die Bösartigkeit des Systems, die nicht verjährt. Aus dem Gulag kann nichts abgeleitet werden, was relevant wäre für die menschliche Natur. ... Und Alexander Solschenizyn hat uns davon überzeugt, dass wir die Dinge aus der Perspektive der Leidensgeschichte betrachten müssen. Wo es einen Willen gibt, da ist auch das moralische Urteil angebracht. Dieses Urteil ist eindeutig und einfach. Nicht raffiniert, nicht klug, nicht 'relevativ' im intellektuellen oder geistigen Sinne. Aber gültig."

"Hätte man Zeit gehabt, die Reformen weiterzuentwickeln, hätte es vielleicht zu jenem freien gesellschaftlichen System kommen können, das den Sozialismus wettbewerbsfähig gemacht hätte - aber mit den damaligen Reformen wäre das auch nicht gelungen. ... Heute bin ich davon überzeugt, dass demokratische Wohlstandsgesellschaften nur durch marktwirtschaftliche Reformen zustande gebracht werden können. Es gibt keinen 'dritten Weg', der Wirtschaftssysteme ohne Privateigentum betreiben könnte", sagt der Ökonom Jiri Kosta, der sich nach 1962 an der Ausarbeitung jener Wirtschaftsreformen beteiligt hatte, die dem Prager Frühling vorausgingen. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts musste Kosta emigrieren und erhielt später einen Lehrstuhl an der J.W. Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Economist (UK), 08.08.2008

Gleich drei Artikel beschäftigen sich mit Alexander Solschenizyn. Neben dem Nachruf würdigt der Leader die Verdienste und den Mut Solschenizyns, notiert aber auch durchaus zufrieden, dass Intellektuelle im Westen niemals mehr einen derartigen Status erringen können. Zu oft haben Intellektuelle - wie zum Beispiel Marx und Engels - die falschen Ideen propagiert: "Es gibt keine sichere Verteidung gegen schlechte Ideen, aber ein Anfang ist gemacht, wenn eine gut ausgebildete und skeptische Bürgerschaft frei ist, die Anmerkungen der Intellektuellen anzuhören, frei ist, sie nicht knechtisch zu glauben - und frei ist, den Sportkanal zu bevorzugen. Der Patrizier in Solschenizyn hasste diesen Mangel an Achtung im Westen. Das ist ein Punkt, in dem der große Mann falsch lag."

Ein dritter Artikel beschreibt den Niedergang der Intelligentsia in Russland. In der Jelzin-Ära "verließen viele Wissenschaftler das Land. Einige wurden Geschäftsleute (die meisten russischen Oligarchen dieser Zeit, eingeschlossen Boris Berezowsky, waren in ihrem früheren Leben Wissenschaftler). Einige nahmen Jobs in der Regierung an. Einige widmeten sich den Menschenrechten. Aber als Klasse schuf die Intelligentsia weder dauerhafte demokratische Institutionen noch festigte sie die 1991 errungenen Freiheiten. (...) Dem Geschmack des Erfolgs und der Eingemeindung lässt sich schwerer widerstehen als dem Zorn des Staates. Zuckerbrot ist korrumpierender als die Peitsche. Dieses Phänomen ist anschaulich beschrieben in Wassili Grossmans Roman "Leben und Schicksal" (1960). Einer der zentralen Charaktere, Viktor, ist ein talentierter Physiker, der stoisch seine Wissenschaft auch angesichts drohender Haft verteidigt. Aber er wird schwach und unterwürfig, als Stalin ihn anruft, um ihm Erfolg zu wünschen. 'Viktor hatte die Kraft gefunden, sein Leben zu riskieren - aber nun schien er unfähig zu sein, die Süßigkeiten und den Kuchen zurückzuweisen.'"
Archiv: Economist

New Republic (USA), 27.08.2008

Das Leiden in Darfur ist keine Angelegenheit von gestern, schreibt Richard Just in einem ausführlichen Essay, der noch einmal en detail das Geschehen rekapituliert und darüber Klarheit zu gewinnen versucht, warum es niemand aufgehalten hat. "Niemals zuvor haben wir einen Genozid so aufmerksam beobachtet. Wir haben Filme gesehen, Bücher gelesen und Armbänder getragen. Unsere Politiker besuchten Friedenskonferenzen, gaben Ultimaten heraus und haben sogar eine internationale Truppe bereitgestellt. Doch nichts davon hat dem Morden ein Ende gesetzt. Was ist schief gelaufen? Sind wir mit der Zeit immun geworden gegenüber den Bildern und Berichten? Haben wir zu viel Gewicht auf die Komplexität des Konflikts gelegt und zu wenig auf auf das menschliche Leiden, das sich vor unseren Augen ereignete? Haben wir den Vereinten Nationen zu viel zugetraut und uns selbst zu wenig? Haben wir unseren gewählten Politikern erlaubt, die Verantwortung auf uns abzuwälzen, uns mit luftigen Äußerungen zu besänftigen und zu unserem Engagement zu gratulieren, wo sie sich doch mit ihren Generälen hätten beraten müssen, wie man so schnell wie möglich Soldaten dorthin bekommt?"
Archiv: New Republic

Plus - Minus (Polen), 09.08.2008

Das Magazin der Tageszeitung Rzeczpospolita befragt den britischen Historiker Norman Davies sowie den russischen Dissidenten und Publizisten Wladimir Bukowski zu Alexander Solschenizyn. Letzterer erklärt, warum der Schriftsteller 2007 einen Orden von Putin angenommen hat: "Ich möchte ihn dafür nicht verurteilen. In seinen letzten Jahren war er schwer krank, konnte nicht gehen, vielleicht war er seiner Entscheidung nicht bewusst. Sicher ist jedoch, dass der Kreml ihn zynisch für seine Zwecke ausgenutzt hat. Für Putin, einen ehemaligen KGB-Agenten ging es darum, den Makel der Vergangenheit abzulegen. Seine Umgebung hatte erkannt, dass ein Besuch bei Solschenizyn sich gut dazu eignet." Davies versucht wiederum, die antiwestliche Haltung des Nobelpreisträgers mit einem Schock zu rechtfertigen: "Von den Lagern und dem Schriftstellertum im eingesperrten Russland zum Dissidenten-Leben im Westen war es ein großer Sprung, auf den Solschenizyn nicht vorbereitet war. Vieles hat ihm nicht gefallen; er war ein strenger und fordernder Mensch, der Materialismus und Konsumismus des Westens passte ihm nicht. Mir gefällt dieser Aspekt unseres Lebens auch nicht."

Außerdem erzählt der Journalist Bohdan Osadczuk, wie er dank der NZZ im Sommer 1955 Tschou En-lai kennenlernte und von diesem nach China eingeladen wurde. Einen interessanten Einblick in die Zeit und das chinesische Selbstverständnis erlaubt die Aussage des damaligen Botschafters in Warschau über das Zerwürfnis zwischen Moskau und Peking: "Junger Mann, ich sage Ihnen die ganze Wahrheit. Eine so junge Nation wie die russische, hat sich angemaßt, die alte chinesische Nation zu beleidigen. Solange sich Russland nicht entschuldigt, gibt es keine Versöhnung." Zu erwähnen sei noch, dass Osadczuk - polnischer Exilautor in Westberlin - und Botschafter Wang Ping-nan, der mit Tschou En-lai an der TU Berlin studiert hatte, Deutsch miteinander sprachen!
Archiv: Plus - Minus

Spectator (UK), 06.08.2008

Der Völkermord in Darfur ist vorbei, behauptet Justin Marozzi und findet es an der Zeit für Hollywood umzudenken: "Neben George Clooney haben andere Stars wie Brad Pitt, Angelina Jolie, Matt Damon, Bono und Mia Farrow löbliche Anstrengungen unternommen, um die internationale Aufmerksamkeit auf Darfur zu lenken. Dabei erzählten sie eine starke und herzergreifende Geschichte. Das Problem ist nur, dass diese Geschichte fünf Jahre alt ist, der Konflikt hat sich seitdem verändert. Das Massenmorden hat in den Jahren 2003 und 2004 stattgefunden, oberflächlich betrachtet war es ein Konflikt arabische Nomaden gegen schwarzafrikanische Bauern, ein Kampf um Land und Wasser... Dieses simple Muster hat ausgedient. 2006 saßen zwei große Rebellenbewegungen mit am Verhandlungstisch in Abuja: die Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit (JEM) und die Sudanesische Befreiungsbewegung (SLM). In einer Entwicklung, die Monthy-Python-Fans bekannt sein dürfte - denken Sie an den Streit zwischen der Volkfront von Judäa und der judäischen Volksfront -, haben sie sich in sage und schreibe 30 Gruppen aufgespalten."

Michael Prescott, Fahrgast der Londoner U-Bahn während der Bombenanschläge am 7. Juli 2005, lobt den Film "Shoot on Sight", der die Ereignisse des Tages offenbar sehr angemessen dramatisiert, und geißelt die Tatsache, dass er in England keinen Verleih findet - pure Feigheit, wie er meint. "Das Drehbuch von Carl Austin lässt keinen einfach davonkommen. Polizisten, Prediger, Saudis, Briten, Busfahrer: Jeder darin ist von den Schockwellen von 9/11 und 7/7 betroffen und jeder wird für unzulänglich befunden. Jenseits des Kinos sind unsere Kultur- und Kunstbeauftragten mit Sicherheit auch unzulänglich. Es waren ein Drehbuchautor aus Los Angeles und zwei indischstämmige Amerikaner erforderlich, um sich der Frage anzunehmen, was es heißt, Londoner in Zeiten von Islamismus und Selbstmordattentätern zu sein." Aron Govil, der Produzent, hat mit allen großen Verleihern gesprochen, aber keiner will den Film anfassen, "sie sagen, das Thema sei zu sensibel".
Archiv: Spectator

London Review of Books (UK), 14.08.2008

Der Kunsthistoriker T.J. Clark betrachtet lange und ausgiebig Matisses Bild "Femme Au Chapeau", während er eine Antwort sucht auf den Kunstkritiker Maurice Denis, der 1905 über die moderne Malerei - und speziell bei Matisse - urteilte: "Was man vor allem findet ist Künstlichkeit. Keine literarische Künstlichkeit, die daraus folgt, dass man Ideen einen Ausdruck zu verleihen sucht; auch keine dekorative Künstlichkeit, wie sie sich die Teppichknüpfer in der Türkei oder in Persien ausdenken; nein, es ist etwas abstrakteres, Malerei jenseits aller Zufälle, Malerei an und für sich, der pure Akt der Malerei ... Was Sie tun Matisse, ist dialektisch: Sie beginnen mit dem Vielfältigen und Individuellen, und durch Definition, wie die Neo-Platoniker sagen würden, das heißt durch Abstraktion und Verallgemeinerung, landen Sie bei der Idee der puren Form der Malerei. Sie sind erst glücklich, wenn alle Elemente Ihrer Arbeit Ihnen verständlich sind. Nichts darf in Ihrem Universum dem Zufall überlassen bleiben: sie schleifen jeden Ausdruck ab, der nicht mit Vernunft zu erklären ist. (...) Geben Sie die Idee auf, eine neue Kunst nur auf Vernunft zu gründen. Vertrauen Sie Ihren Gefühlen und Ihrem Instinkt."

Das Magazin (Schweiz), 09.08.2008

Ein interessantes Gespräch führt Miklos Gimes im Samstagsmagazin des Tages-Anzeigers mit den serbischen Psychoanalytikern Alek Vuco und Tamara Stajner-Popovic über ihren Kollegen Radovan Karadzic. Vuco erinnert sich an eine Reportage über Karadzic, die ihm symbolkräftig schien: "In der letzten Szene sitzen Soldaten um ein Feuer und rösten einen Ochsen am Spieß. Es sah aus wie im Mittelalter, außer, dass sie mit Kalaschnikows bewaffnet waren. Es herrschte eine völlige Verwirrung der Zeitebenen. Wie in den Gedichten, der Sprache des ursprünglichen Denkens, wo es noch keine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung gibt. Psychotiker, Dichter und die serbische Kriegspropaganda benutzten dieselbe Sprache, eine kraftvolle Sprache, weil sie unreflektiert ist."
Archiv: Das Magazin

Time (USA), 18.08.2008

George Orwell ist zwar schon ein Weilchen tot, aber er führt jetzt auch ein Blog, berichtet Camille Agon für Time. Seine Tagebücher werden Tag für Tag genau siebzig Jahre danach ins Netz gestellt: "Von 1938 bis 1942 geschrieben handeln diese Tagebucheinträge von den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs, aber auch von Orwells Reisen nach Marokko, wo er sich von den Verwundungen aus dem spanischen Bürgerkrieg erholte. Es gibt auch eine Menge Einträge über die Haltung von Hühnern."
Archiv: Time
Stichwörter: Marokko, Orwell, George, Camille