Magazinrundschau

Auf Angriff spielen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.10.2008. Das neue slowakische Internetmagazin Salon übersetzt Artikel von Miroslav Kusy, Rudolf Chmel und Gaspar Miklos Tamas zu den gespannten Beziehungen zwischen Ungarn und der Slowakei. In Portfolio ruft Netscape-Miterfinder Marc Andreessen den Zeitungen zu: Stellt sofort die Printausgabe ein. In Le Point prophezeit Emmanuel Todd die Rückkehr von Marx und Bonaparte. Die polnischen Zeitungen berichten über den Fall Kundera. Das TLS stellt einen militanten prokapitalistischen Literaturkritiker vor. In der Weltwoche spricht Paul Scheffer über die Chancen der Einwanderungsgesellschaft.

Portfolio (USA), 01.11.2008

Was würde er tun, wenn er Besitzer der New York Times wäre? Auf diese Frage, antwortet der 37-jährigen Internet-Entrepreneur Marc Andreessen, Mitgründer von Netscape, im Interview: "Sofort die Printausgabe einstellen. Auf Angriff spielen. Tun, was Intel 1985 getan hat, als es um ein Haar von den Memory Chips der Japaner zerstört worden wäre, damals das Hauptgeschäft von Intel. Wie alle wissen, hat Intel diesen Geschäftszweig lieber selbst zerstört, ihn einfach aufgegeben und sich auf sein viel kleineres Geschäft konzentriert, Mikroprozessoren, denn das würde der Markt der Zukunft sein. In dem Moment, in dem Intel aufgehört hat, sich zu verteidigen und in den Angriff ging, war seine Zukunft gesichert. Die Zeitungskonzerne müssen genau dasselbe tun. Die Finanzmärkte haben gegen die Zeitungen spekuliert, also praktisch auf deren Bankrott gesetzt. Wenn Sie eine der großen Zeitungen sind und die Printausgabe einstellen, würde Ihre Aktie wahrscheinlich steigen, obwohl Sie 90 Prozent Ihrer Einnahmen verlieren würden. Denn dann spielen Sie auf Angriff. Und wissen Sie was? Dann sind Sie eine Internetfirma."
Archiv: Portfolio
Stichwörter: Finanzmärkte

American Journalism Review (USA), 27.10.2008

Auch der emeritierte Journalismusprofessor und Buchautor Philip Meyer glaubt nicht an die Zukunft der gedruckten Zeitung - jedenfalls nicht in der jetzigen Form. "Der Medienökonom Robert Picard, der sich die Zeitungen aus einer internationalen Perspektive ansieht, glaubt, dass sie zu viel versuchen. Picard hat das im Juni auf einer Konferenz an der Havard Universität über die Zukunft des Journalismus erklärt. Zeitungen 'bieten ihren Inhalt als all-you-can-eat-Buffet an. Gleichzeitig nimmt die Qualität dieses Inhalts ab, weil ihre Budgets immer dünner werden', sagte er. 'Das ist eine absurde Wahl, denn das Publikum, das sich am wenigsten für Nachrichten interessiert, hat seine Zeitungen schon längst abbestellt.' Selbst wenn sie sich auf ihre Kernfunktionen beschränken, müssen die Zeitungen immer noch das Internet fürchten und seine unschlagbare Fähigkeit zur Spezialisierung. Die Zeitungen, die überleben, werden das möglicherweise nur mit einer Art Mischform schaffen: Analysen, Interpretationen und investigative Reportagen in der Printausgabe, die nicht mehr täglich erscheint, kombiniert mit ständiger Aktualisierung und Leser-Interaktionen im Web. Aber die Zeit, diese Strategie umzusetzen, ist knapp geworden. Vielleicht ist sie sogar schon vorbei."

Point (Frankreich), 23.10.2008

Nach seiner Vorhersage des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1976 und seinem Nachruf auf die Weltmacht USA analysiert der Historiker, Anthropologe und ehemalige Literaturkritiker Emmanuel Todd in seinem neuen Buch "Apres la democratie" (Gallimard) die politische Krise Frankreichs und der Demokratie. In einem Interview erläutert der erklärte Kritiker des Neoliberalismus seine Thesen und repetiert noch einmal mehr sein Lieblingsrezept - den Proektionismus. Sonst blüht den Franzosen Finsteres: "Das grundlegende Problem der Demokratie besteht darin, dass die politische Klasse sich weigert, den Freihandel in Frage zu stellen, der zur Absenkung der Einkommen und zur Zunahme der Ungleichheiten, kurz zu einem sinkenden Lebensstandard der Mehrheit führt. (...) Man muss sich jetzt entscheiden: Eine Ethnisierung der französischen Demokratie scheint mir zwar ziemlich unwahrscheinlich. Dagegen klingt die Abfolge 'Verarmung der jungen Akademiker - Klassenkämpfe - Autoritarismus und schließlich Verfall der Demokratie' schon wahrscheinlicher. Die Kommunistische Partei ist tot, aber Marx kehrt zurück. Bonaparte leider auch."
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Polityka (Polen), 28.10.2008

Zum Fall Kundera schreibt Jacek Kubiak: "Das 'Corpus delicti' besteht nur aus einem Polizeirapport. Warum sollte man da nicht einer Person glauben, die das kommunistische System kompromisslos bloßgestellt und dafür einen hohen Preis gezahlt hat? Aber Glauben ist nur Glauben." Verwunderung löste bei vielen Kommentatoren die Tatsache aus, dass die Publikation von Respekt so gar nicht dem bisherigen politischen Profil der Zeitschrift entspricht. Es gehe um das "unpersönliche Streben nach Wahrheit", hatte Chefredakteur Martin Simecka argumentiert. "Diese Begründung ruft in Polen einen deja-vu-Effekt hervor", meint Kubiak. "Wie viele junge Journalisten suchen heute nach Wahrheit, Licht, Glauben und Hoffnung unter der Ägide des IPN", des polnischen Instituts des nationalen Gedenkens.
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Tygodnik Powszechny (Polen), 26.10.2008

Patrycja Bukalska berichtet über die tschechische Diskussion um Kundera: "Die Diskussion läuft weiter: über die Aktivitäten des Instituts (Ustr), über die Glaubwürdigkeit der Akten, über ihre Interpretation (manche fragen, ob sie nicht zu eindeutig ist). Die oppositionelle Sozialdemokratie will wieder die Abschaffung des Instituts fordern - solange die Konservativen regieren, gibt es dafür keine Chancen". (Ein Auszug aus Bukalskas Artikel hier)

Außerdem: Anita Piotrowska feiert die Filme "Luz silenciosa" von Carlos Reygada und "Ostrow" (mehr dazu hier) von Pawel Lungin: "Braucht heute noch jemand Filme, die nach der Qualität des geistigen Erlebens fragen? Solche kontemplativen, Aufmerksamkeit fordernde Filme entstehen im fernen Mexiko und nahen Russland. Wir aber, eine Nation, die sich für religiös hält, bevorzugen brave Hagiographien." Und in der dreimonatlichen Bücherbeilage wird die Veröffentlichung der polnischen Übersetzung von Virgina Woolfs letztem Roman "Zwischen den Akten" angekündigt. Die Übersetzerin Magda Heysel spricht im Interview von der schwierigen Arbeit an dem Buch, freut sich aber, dass die Lücken in der Rezeption der Schriftstellerin langsam geschlossen werden. (Woolfs frühe Texte und literarische Kritiken sind in Polen weitgehend unbekannt).

Philadelphia Inquirer (USA), 26.10.2008

Kundera-Affäre? Bei dem Stichwort fällt Carlin Romano auf, wie wenig Interesse es derzeit für osteuropäische Schriftsteller gibt. "Nach 1989 und der 'Normalisierung' des früheren Sowjetblocks, trat das Drama 'Schriftsteller vs. Staat' in den Hintergrund. Das Interesse wanderte woanders hin, in den letzten Jahren zu indischen, chinesischen und spanischsprachigen Autoren. Ein neues Buch ermöglicht es dem Leser sich ein eigenes Urteil zu bilden und verhindert, dass diese brillante Literatur in der Obskurität verschwindet: Harold B. Segels 'The Columbia Literary History of Eastern Europe Since 1945'. ... Segal untersucht die Literatur aus 15 osteuropäischen Ländern: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ostdeutschland, Ungarn, Litauen, Mazedonien, Polen, Rumänien, Serbien, Slowakei, Slowenien und der Ukraine." Leser, die "Geschmack finden an ernsthafter europäischer Literatur werden Segels anregende Vorstellung einer großen Zahl bemerkenswerter Bücher und Autoren - viele mit scharfsinnigen Kommentaren und Kontextualisierungen versehen - notieren, damit sie diese Bücher in der Übersetzung suchen können."

Times Literary Supplement (UK), 24.10.2008

David Hawkes stellt das Buch eines militanten prokapitalistischen Literaturkritikers vor: Russell A. Bermans "Fiction Sets You Free". "Wie der doktrinärste dialektische Materialist besteht er darauf, dass kulturelle Trends epiphenomenal Reflektionen ökonomischer Interessen sind. Antiamerikanismus ist 'in Wahrheit' Antikapitalismus, und in 'Fiction Sets You Free' weist Berman darauf hin, dass Antikapitalismus die wahre Quelle eines intellektuellen Antihumanismus ist, der der Vorstellungskraft, Unternehmen, ja der Literatur selbst widerspricht. Seine Argumentation basiert auf der These, dass Literatur im Leser eine kapitalistische Mentalität vermutet und diese damit zu erschaffen hilft. Er ist überzeugt davon, dass Literatur ganz natürlich 'zu den Wertstrukturen und Tugenden einer kapitalistischen Ökonomie' und zur 'Verbreitung von kapitalistischem Verhalten beiträgt', denn alles Schreiben von Literatur 'pflegt die erfindungsreiche Tapferkeit unternehmerischer Visionen'. Literatur tut das, so Berman, einfach weil sie erfunden ist." Als Gewährsmann für diese Thesen nimmt Berman Adorno in Anspruch, so Hawkes, der diese These ebenso wie die anderen Thesen Bermans ablehnt.

Espresso (Italien), 23.10.2008

Die Finanzkrise ist Wasser auf Jeremy Rifkins ökologisch-nachhaltige Mühlen. "Die Vermutung, dass die aktuelle Rezession halt ein zyklisches Phänomen und bald beendet sein wird, ist im besten Fall naiv und im schlimmsten Fall irreführend." Die Krise, das Öl, das Klima: alles deutliche Zeichen dafür, endlich umzuschalten, sagt Rifkin. "Die neue Art des Wirtschaftens wird sich genau in dieser Phase etablieren, in dem Moment, in dem die Industrien sich gegenseitig darin übertreffen werden, erneuerbare Energien einzuführen, sparsame Häuser zu bauen, die Wasserstofftechnologie weiterzuentwickeln, einen intelligenten öffentlichen Nahverkehr einzurichten, wiederaufladbare elektrische Autos einzusetzen und so den Boden für ein dritte industrielle Revolution vorzubereiten."
Archiv: Espresso

Weltwoche (Schweiz), 23.10.2008

Der holländische Soziologe Paul Scheffer hat gerade ein Buch über Immigration veröffentlicht, "Die Eingewanderten". Im Interview spricht er unter anderem über die Chancen, die eine Einwanderungsgesellschaft birgt: "Aber ich meine es nicht so überschwänglich. Ich meine das ganz konkret, und es passiert. Man kann keine Forderungen an Immigranten stellen, die nicht sofort auf einen zurückschlagen. Man kann nicht verlangen, dass sie etwas wissen von europäischer Geschichte - ohne selbst etwas davon zu wissen. Deshalb haben wir jetzt in Holland viel mehr Geschichte im Unterricht. Immigration betrifft die ganze Gesellschaft, sie verändert sie. Immigration und Integration schneiden viel tiefer in unser eigenes Fleisch als dieser ganze sentimentale Diskurs über Multikulturalismus. Migranten können nur von einer Gesellschaft eingeladen und herausgefordert werden, die selbst einen starken Bürgerschaftssinn hat."
Archiv: Weltwoche

Spectator (UK), 23.10.2008

In der Finanzkrise steht alles zur Disposition. Auch die weitverbreitete Annahme, dass Optimisten es besser haben. Helen Kirwan-Taylor singt ein Loblied auf den wenn nicht misanthropischen, so doch skeptischen Briten. "'Ich würde sagen, dass es bei der heutigen Marktlage von Nachteil ist, ein Optimist zu sein', sagt Bryan Gibson, ein Sozialpsychologe an der Michigan University, der die guten Seiten des Pessimismus erforscht. Wenn ein Optimist einem Strom schlechter Nachrichten ausgesetzt wird, dann reagiert er mit verstärkten Anstrengungen. Ein Pessimist dagegen lässt es sein. Auch wenn Optimismus sich gut dafür eignet, Erkältungen zu bekämpfen, ist er beim Glücksspiel oder beim Anlegen fehl am Platz, sagt Gibson. Pessimisten wurde oft nachgesagt, ihre Wahrnehmung sei verschoben. Aber auch das wird mittlerweile in Frage gestellt. In zwei getrennten Studien wurden Optimisten und Pessimisten aufgefordert, eine Reihe von Tests zu absolvieren. Die Forscher fanden heraus, dass sogenannte 'depressive Realisten' eine Lage treffender einschätzten als Optimisten, die Ergebnisse oft überbewerteten."
Archiv: Spectator
Stichwörter: Optimismus, Pessimismus

Literaturen (Deutschland), 01.11.2008

Die Literaturen-Website war immer schon ein Muster an Unübersichtlichkeit! Mit dem Novemberheft ist das schlimmer denn je.

Im aktuellen Heft zum Titelthema "Vorwärts ins Mittelalter" - davon aber, scheint es, nichts online - finden sich (nach längerem Suchen) Betrachtungen der Noch-Chefredakteurin Sigrid Löffler über Kunstmarkt-Krimis von Jonathan Santlofer und Peter Carey (nichts leider zu Charles Willefords Klassiker "Ketzerei in Orange"). In der avantgardistischen Netz-Aufbereitung stehen dazu leider Sätze wie dieser: "Dieser,einFettkloß, ist zugleich dementundvif,undseine schrullige Suada,vonBernhard RobbenmitVerveundSprachwitzübersetzt,bestätigtden Autor als einenMeister der Bauchrednerei." (sic!)

Weitere Artikel: Sibylle Berg denkt über den disziplinfreudigen Herrn Bueb und den Kriegszustand nach, der Schule heißt. Roland Düker hat den Schriftsteller Ulrich Holbein im Knüllgebirge besucht. Von schweizerischen Diskussionen, über die Buchpreisbindung vor allem, berichtet Julian Schütt. In der "Was liest..."-Reihe liest Angela Krauß nichts - oder jedenfalls unregelmäßig. Besprochen werden - komplett absatzlos - Günter Grass' Roman "Die Box", Katrin Passigs und Sascha Lobos Prokrastinations-Ratgeber "Dinge geregelt kriegen" und Julian Jarrolds "Wiedersehen in Brideshead"-Verfilmung. Naturgemäß darf auch eine Besprechung von Uwe Tellkamps "Meisterwerk" (so Andreas Nentwich) "Der Turm" nicht fehlen. Nur im Print gratuliert Stefanie Peter gratuliert Ethnologen Claude Levi-Strauss zum runden, nämlich hundertsten Geburtstag.
Archiv: Literaturen

Prospect (UK), 01.11.2008

Unter dem provozierenden Titel "Wer braucht Privatheit im Internet?" stellt Peter Bazalgette Visionen der Zukunft vor, in denen das Internet ganz genau weiß, was seine Benutzer (wissen, kaufen, denken) wollen. Google ist ohnehin fast schon so weit: "Wenn man auf 'persönliche Suche' stellt, wird Googles Service gleich viel spezifischer. Gibt man das Wort 'rosemary' (dt.: Rosmarin) ein, dann wird Google wissen, ob man sich jetzt eher für Gärtnerei, Kochrezepte oder für eine DVD von 'Rosemary's Baby' interessiert. Auch andere Google-Produkte können einem da Sorgen machen. Demnächst wird es bei StreetView Fotografien von sämtlichen Straßen in Großbritannien geben. Googles Desktop-Suche kennt den Inhalt meines Rechners. Am weitesten geht Gmail, der kostenlose Email-Service, der meine Korrespondenz ständig auf Schlüsselwörter durchsucht, um dann die passenden Werbeanzeigen zu liefern. Ich habe von einem Paar gehört, das sich einen scharfen Email-Wechsel lieferte und prompt automatische Werbeanzeigen von Eheberatern bekam."

Weitere Artikel: Ex-UN-Mitarbeiter Michel Soussan erklärt, warum seiner Ansicht nach die Vereinten Nationen inzwischen ein irreparables Desaster sind. Jim Giles erzählt am Beispiel des Schmerzmittels "Vioxx", welchen Schaden die immer aggressiveren Verteilungskämpfe auf dem Arzneimittelmarkt anrichten. Jason Burke fordert den Westen dazu auf, mehr Verständnis für die Taliban zu entwickeln.

Außerdem gibt es ein großes Symposion (Übersicht) zur Finanzkrise, dessen Diagnosen von Mark Hannams lässigem Schumpeterianismus "Welche Krise? Das ist kreative Zerstörung" bis zu Alex Rentons Erfahrungsbericht "Ich hab mein Geld in Island verloren" reichen.
Archiv: Prospect

Odra (Polen), 01.10.2008

In einem sehr anregenden Essay erklärt Anna Nasilowska, warum postmoderne Theorie und Literatur eine so schwierige Rezeption hatten. "Die polnische Postmoderne kam nicht nach der Moderne, sondern nach dem Realsozialismus. Es fehlte dadurch nicht nur der Bezug zur einheimischen Modernetradition, sondern auch das Bewusstsein einer Kontinuität der ästhetischen Wandlungen". Hier bringt Nasilowska Stanislaw Lem ins Spiel, der sich in beiden Welten bewegte: "Er ist ein beißender Kritiker der Postmoderne, der mit postmodernen Ästhetik-Konzepten spielt. Sein Schaffen belegt dieses polnische Paradox der Postmoderne-Rezeption: Die Polemik kommt vor der eigentlichen Aufnahme, und erst recht vor dem Versuch, die durch diese Strömung angebotenen Interpretationen auf polnische Realitäten anzuwenden. Die postmoderne Ästhetik wurde verwässert - als sie nach Ende des Realsozialismus benutzt werden konnte, war sie nicht mehr neu."

Außerdem: Marta Mizuro bespricht die polnische Ausgabe von Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten". Sie hält dem Autor zugute, seinen Helden als wenig vertrauenswürdig konstruiert zu haben: "Es ist ein großartiger Roman, weil unvollkommen. Man kann kaum erwarten, dass das Geheimnis des Genozids und seiner Vollstrecker ein für allemal gelöst wird. Maximilian Aue versucht es zwar, aber der Leser traut ihm nicht. Das macht Littells Buch glaubwürdiger." Und Arkadiusz Zychlinski denkt über Slavoj Zizek nach, von dem in Polen 2008 drei Bücher erschienen sind: "Hinter der Maske des Ultra-Linken versteckt sich ein gemäßigter Sozialdemokrat im westeuropäischen Sinne."
Archiv: Odra

Observator Cultural (Rumänien), 27.10.2008

In der englischen Sektion des Observator cultural blickt die Literaturwissenschaftlerin Carmen Musat in einem vor Informationen und Autorenhinweisen strotzenden Text auf die rumänische Literatur der achtziger Jahre zurück, die ihrer Meinung nach durchaus als postmodern gelten kann. "Die subversiv-politische Dimension der rumänischen Postmoderne führte wie in den anderen exkommunistischen Ländern zur Ausbildung spezieller ästhetischer Strukturen, die sich von denen der amerikanischen Postmoderne erheblich unterschieden. Ich denke an den 'Neuen Humanismus', den Alexandru Musina theoretisch begründete und den Liviu Petrescu für das entscheidende Merkmal der Literatur in den achtziger Jahren hält. Die rumänische Postmoderne war das Ergebnis spezifischer Erwartungen und entsprang nicht so sehr einem ökonomischen und politischen Kontext, sondern, wie Magda Carneci in ihrem Essay schreibt, einer Vielzahl von soziokulturellen und psychologischen Gründen, unter denen die Ablehnung des von der Partei propagierten Neuen Menschen eine äußerst bedeutende Rolle spielte. Die Romanciers der 80er Jahre zeigten ein unverhülltes Interesse an der Authentizität der Sprache und des täglichen Lebens, an den einfachen Leuten, aber auch an den gebildeten und gelehrten... Eine neue Sensibilität richtete sich auf das alltägliche Leben, auf das Treiben in der Stadt, auf die Wiederentdeckung des Menschlichen an sich nach Jahrzehnten, in denen Literatur sich ausschließlich für bloße Individuen zu interessieren schien."

Nouvel Observateur (Frankreich), 23.10.2008

In einem Interview spricht Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel über sein neues Buch "Le cas Sonderberg" ("Der Fall Sonderberg"; hier eine Inhaltsangabe bei Arte), und erklärt, was er vom Plan von Nicolas Sarkozy hält, jedem französischen Grundschüler das Gedenken an ein deportiertes jüdisches Kind zu überantworten. "Ich bin überzeugt davon, dass die Absicht gut ist. Aber in welchem Alter kann ein Kind dieses Ereignis begreifen? Manche fragen mit acht, andere mit vierzehn, aber hat man das Recht, ein Kind zu zwingen? Nein. Wenn eine Lehrerin bemerkt, dass da in der Ecke ein kleiner Junge steht, der nichts darüber hören will, darf man ihn auch nicht zwingen. Nicolas Sarkozy hat das damit verbundene Drama nicht erfasst. Seine Idee hat mich berührt, aber auch entrüstet."

Salon.eu.sk (Slowakei), 26.10.2008

Seit Mitte letzter Woche ist die englischsprachige Version des slowakischen Internetmagazins Salon online. Salon bietet Presseschauen mit Schwerpunkt auf den zentraleuropäischen Ländern, sprich Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei. Außerdem werden ganze Artikel von Autoren aus diesen Ländern ins Englische - und später auch ins Deutsche - übersetzt. Links zu den Originalversionen findet man am Ende jedes Artikels. Eine der Inspirationen für dieses Projekt war übrigens Perlentaucher. Wir sind stolz wie Oskar!

Und was gibt's zu lesen? Neben Artikeln zur Kundera-Affäre widmen sich die ersten ins Englische übersetzten Texte den gespannten Beziehungen zwischen Ungarn und der Slowakei (mehr hier und hier). In beiden Ländern gibt es starke rechtsextremistische Strömungen, die gegen Minderheiten hetzen. Der slowakische Politikwissenschaftler Miroslav Kusy findet das vollkommen irrational: Jan Slota, "der Vorsitzende der slowakischen Nationalpartei, die Teil der regierenden Koalition ist, hat jetzt die letzten Reste von Selbstkontrolle verloren und, immer undeutlicher klingend, die ungarische Außenministerin beleidigt (wie alle Trunkenbolde war er nicht sehr erfinderisch und wiederholte immer wieder das Wort 'zerzaust'). Die Premierminister beider Länder beschuldigen sich gegenseitig, den Streit angefangen zu haben und die Opposition versucht die Situation auszunutzen, in dem sie sich noch patriotischer gibt als die Nationalisten." Kusy erinnert daran, dass die Slowaken tausend Jahre Teil der ungarischen Nation waren: "Mit den Ungarn teilen wir eine längere Geschichte als mit jeder anderen Nation". (Man kann diesen Artikel auch hier auf Ungarisch lesen.)

Was kann der homo intellectualis in dieser verfahrenen Situation tun, fragt Rudolf Chmel, letzter Botschafter der Tschechoslowakei in Ungarn und slowakischer Kulturminister von 2002 bis 2005. Er sollte, so Chmel, den Politikern sagen, was er von ihnen denkt: "Politiker, die an einem Minderwertigkeitskomplex leiden, die bis jetzt - vielleicht nicht durch eigenes Verschulden - nie ihr Bergdorf verlassen haben, versuchen jetzt, ihre atavistischen Stereotype und Traumata auf das ganze Land zu übertragen."

Der ungarische Philosoph Gaspar Miklos Tamas stellt das Problem in einen gesamteuropäischen Zusammenhang: "Nachdem die Konföderationen (Sowjetunion, Tschechoslowakei, Jugoslawien) sich aufgelöst haben, wurden die Angehörigen einst dominierender Nationen (Russen, Serben), die außerhalb ihrer Staatsgrenzen, etwa in Kroatien oder den baltischen Staaten lebten, hart diskriminiert. (...) Die einzige verbleibende multinationale Struktur (Bosnien unter der Aufsicht der Nato und EU) steht kurz vor dem Zerfall. Im österreichischen Kärnten verfolgt die Provinzregierung Slowenen, während die Slowenen wiederum zehntausende ihrer Einwohner - ehemalige Bürger Jugoslawiens ohne slowenischen Pass - angewiesen hat, das Land zu verlassen. In Mazedonien bedroht die slawische Mehrheit die albanische 'Minderheit', die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Der Frieden wird gewahrt durch die USA und andere Nato-Kräfte. Die EU, die die Minderheiten schützen soll, hat sich als hilflos erwiesen."
Archiv: Salon.eu.sk