Magazinrundschau

Schwierigkeit ist künstlerisch wünschenswert

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23.12.2008. Das Zeitalter des Buchs ist zu Ende, verkündet der Lektor Tom Engelhardt in The Nation. Im New Statesman macht sich Jonathan Derbyshire Gedanken zum Konzept der Weltliteratur seit Goethe. In Polityka lobt Adam Michnik die Kommunisten für das bestandene Examen in polnischem Patriotismus. Schwierig sind heute nicht mehr Bücher, sondern Computerspiele, erklärt John Lanchester in der London Review of Books. Der Economist würdigt H.M., den Mann ohne Erinnerungen. Standpoint kritisiert die Auswüchse der deutschen Russlandliebe. Die New York Times erzählt, wie Mexiko erfolgreich die Kultur der Armut bekämpft.

The Nation (USA), 05.01.2009

Das Zeitalter des Buchs ist zu Ende, glaubt der Lektor (u.a. von Art Spiegelman) und Blogger Tom Engelhardt, während er um sich herum die entlassenen Kollegen betrachtet und den dramatischen Rückgang der Buchverkäufe in Amerika. Bücher schienen von der großen Krise nie wirklich bedroht, "bis man sich die vielen schillernden Unterhaltungsmöglichkeiten vor Augen führte, die in der Zwischenzeit die amerikanischen Haushalte erreicht hatten, zu Preisen, die mehr als günstig waren, verglichen mit dem Buch. Jetzt können Amerikaner endlos im Internet lesen, Videospiele spielen, Musik herunterladen, Filmen ansehen und sogar ihre eigenen Romane schreiben ohne rauszugehen; ganz abgesehen davon sind die 27,95 Dollar teuren gebundenen Bücher und die 15,95 Dollar teuren Taschenbücher auf den Regalen der Malls nicht mehr die günstigen Objekte von einst."
(Nachtrag: Auch Andre Bernard, früher Verleger von Hartcourt, fürchtet in der Washington Post "dass etwas schrecklich Trauriges passiert, eine grundsätzliche Verschiebung in der kulturellen Landschaft verändert auf eine unbestimmte Art, wie und was wir lesen; dass ein verschrobenes, knirschendes, finanziell unerträgliches Geschäft, dass die begehrenswertesten und perfektesten Objekte produziert - Bücher - untergeht und dass wir das ganze Ausmaß dieses Verlustes noch begreifen müssen.")
Archiv: The Nation

New Statesman (UK), 18.12.2008

Wird Englisch die Sprache der Weltliteratur? Oder ist die angelsächsische Literatur provinziell? Der Schriftsteller Jonathan Derbyshire macht sich einige grundsätzliche Gedanken zum Konzept der Weltliteratur seit Goethe: "Es gibt einen entscheidenden Haken an Goethes Theorie der Weltliteratur: Goethe reservierte eine besondere Rolle für eine spezielle Nationalliteratur - die deutsche. Er schrieb, dass es die 'Bestimmung' der deutsche Sprache sei, stellvertretend für alle Bürger der Welt zu werden. Mit der zentralen Rolle, die Übersetzungen in der deutschen Literatur spielten, bräuchte niemand, der gut genug Deutsch kann, Griechisch, Latein oder Italienisch zu lernen, die Leser könnten Homer, Vergil oder Dante in deutscher Übersetzung lesen, die genauso gut, wenn nicht besser als die Originale wären. Daher sei Deutschland der literarische Marktplatz par excellence. Und Weltliteratur, so stellt sich heraus, bedeutet gar nicht so sehr die Überwindung nationaler Grenzen, sondern die Globalisierung einer nationalen Sprache. Man könnte sagen, dass heute die USA (oder die 'Anglosphäre', wenn man Großbritannien mit einschließen möchte) die Rolle spielen, die Goethe für Deutschland vorschwebte."
Archiv: New Statesman

Polityka (Polen), 19.12.2008

Adam Michnik erklärt im Interview mit Jacek Zakowski (hier auf Deutsch), warum er sich nicht davon abbringen lässt, dass die Kommunisten auch einige Verdienste um die 3. Republik erworben haben: "Ich habe die Formulierung 'ehrenwerter Mann' schon einmal gebraucht und bin heute lieber vorsichtig. Ich bin nicht dafür zuständig, Zertifikate auszustellen. Aber erinnere dich daran, dass ich schon vor dem Runden Tisch von der anderen Seite den Vorwurf hörte, wir kümmerten uns nicht um die Polen in Litauen, die von den Litauern diskriminiert würden. Als Staatspräsident hatte Jaruzelski genügend Mittel, um solche Emotionen zu schüren. Wenn die Kommunisten damals die ukrainische Frage so gehandhabt hätten, wie es die Radio-Maryja-Rechte heute tut, hätten sie die ethnischen Emotionen anheizen können. Aber sie taten es nicht. Bei aller Verdammung des kommunistischen Systems und sämtlichen Verbrechen der volkspolnischen Zeit sowie den Sauereien, die einen großen Teil der polnischen Gesellschaft demoralisierten, muss man klar sagen: 1989 haben diese Leute das Examen in polnischem Patriotismus bestanden."
Archiv: Polityka

London Review of Books (UK), 01.01.2009

John Lanchester widmet sich der Welt des Computerspiels, zu der er erst einmal feststellt, dass sie weiten Teilen der gebildeten Bürger komplett unbekannt ist. Und das, obwohl in den Verkäufen das Videospiel die Musik und das Kino gerade überholt. Auch andere Vergleiche sind interessant: "Die Videospiele sind ein viel widerständigeres, frustrierenderes Medium als ihre kulturellen Wettbewerber. Die älteren Medien haben die Idee, dass Schwierigkeit eine Tugend ist, weitgehend aufgegeben; ja, wenn ich eine hoch-kulturelle Vorstellung nennen sollte, die in der Zeit meines Erwachsenenlebens gestorben ist, dann wäre das die Idee, dass Schwierigkeit künstlerisch wünschenswert ist. Es scheint mir doch eine gewisse Ironie darin zu liegen, dass das Schwierige im jüngsten aller Medien eine solche Renaissance erlebt - und es ist keineswegs ein Zufall. Eine der am häufigsten gehörten Beschwerden von Gamern, wenn sie über Neuerscheinungen schreiben, lautet: das ist zu leicht. (Wäre eigentlich schön, wenn ein wenig von diesem Ethos in die Buchwelt hinüberschwappte.)"

Weitere Artikel: Die Romanautorin Hilary Mantel erinnert sich an ihre Zeit im saudi-arabischen Jeddah vor fünfundzwanzig Jahren. Sara Roy schildert die Lage im Gaza-Streifen, Adam Shatz kommentiert die Unruhen in Griechenland. Besprochen werden John Updikes Roman-Sequel "The Widows of Eastwick" und Gus van Sants neuer Film "Milk".

Economist (UK), 19.12.2008

Zu dieser sehr auf wissenschaftliche Erkenntnisse konzentrierten Weihnachtsausgabe passt es, dass der Nachruf einem Mann gilt, dem die Wissenschaft manche Einsicht in das Funktionieren des Gedächtnisses verdankt. Der im Alter von 82 Jahren verstorbene H.M. nämlich verlor nach einer Operation vollständig die Möglichkeit, Erinnerungen zu speichern. Alles war für ihn immer aufs Neue vollständig fremd: "Man hat oft gesagt, dass ein Mann ohne Erinnerungen keinen Sinn für das eigene Selbst haben kann. Die behandelnden Ärzte widersprechen. H.M. hatte einen Sinn für Humor, auch wenn er einem dieselbe Anekdote drei Mal in fünfzehn Minuten erzählen konnte. Er war höflich und er hakte sich bei seiner Ärztin unter, wenn sie auf dem Campus des MIT unterwegs waren. Jeder mochte ihn, wenngleich die Versuchung groß war, ihn wie ein Lieblingskind oder Lieblingstier zu behandeln, einfach, weil der Unterschied zwischen dem, was er über sich und was, die anderen über ihn wussten, so groß war."

Im großen wissenschaftslastigen Weihnachts-Special geht es unter anderem um die Einsamkeit chinesischer Vogelbeobachter und unser Shopping-Hirn. Vorgestellt wird eine medizinische Studie, die zum Ergebnis kommt, dass Ecstasy gegen das Post-Traumatische-Stress-Syndrom hilft. Außerdem werden wir sehr ausführlich über biologische Spekulationen aufgeklärt, die zum Ergebnis kommen, dass Musik als Zeichen prächtiger Reproduktionsfähigkeit evolutionäre Vorteile gebracht hat.
Archiv: Economist
Stichwörter: Einsamkeit, Wissenschaft

Weltwoche (Schweiz), 18.12.2008

Wolfgang von Mecklenburg, ehemaliger Anzeigenchef der Weltwoche, erklärt im Interview zur Zeitungskrise: "Ich glaube nicht, dass die Zeitungen überflüssig werden, aber die Branche verändert sich. ... Samstag und Sonntag gewinnen als Lese-Tage an Bedeutung. Während der Woche übernehmen Radio und Internet die Grundversorgung an Nachrichten. In der Schweiz sind es die Pendlerzeitungen. Die Gratiszeitungen bewirtschaften die Jungen als Zielgruppe. Was lesen die, wenn sie älter werden? Dieses Produkt müssen die Verleger jetzt entwerfen."

Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Radio Echo Moskau, dem letzten unabhängigen Radiosender Russlands beschreibt den steigenden Druck auf die Journalisten in Putins Russland: "Es gibt objektive Zeichen für einen negativen Trend in den letzten acht Jahren. Insgesamt wurden 43 Gesetzesnovellen erlassen, welche alle die Pressefreiheit einschränken, und keine einzige Novelle, die unsere Möglichkeiten erweitern würde. In den letzten zehn Jahren wurden zwölf bis siebzehn Journalisten ermordet, aber in keinem Fall wurde bis zu Ende ermittelt. Es geht nicht darum, dass wir umgebracht werden, dies ist Teil unseres Berufsrisikos. Entscheidend ist, dass die Behörden diese Fälle nicht so untersuchen, wie sie es sollten. Hier wird der Journalist nicht als eine öffentliche Institution betrachtet, sondern vielmehr als Instrument in den Händen von jemandem."
Archiv: Weltwoche

Standpoint (UK), 01.01.2009

Der Osteuropakorrespondent des Economist, Edward Lucas (hier sein Blog), geht hart ins Gericht mit Auswüchsen einer falsch verstandenen deutschen "Russlandliebe", die er auch in Michael Stürmers neuem, auf Englisch verfassten Buch "Putin and the Rise of Russia" am Werk sieht. "Das Problem ist, dass die halb-koloniale Beziehung, die sich Deutschland mit Russland zu wünschen scheint, in Wirklichkeit keine Einbahnstraße ist. Wie andere imperiale Länder gut wissen, beginnt man damit, die eigenen Werte und Ansichten zu exportieren, und importiert am Ende die der Anderen. Die deutsche Wirtschaft war schon vor ihrem großen Vorstoß nach Osten, der dem Kollaps des Kommunismus folgte, überraschend korrupt. Die Beschäftigung mit Russland hat dies zur Geltung gebracht. Das deutsche Engagement für die atlantische Allianz sah schon seit den 80er Jahren wackelig aus; jetzt ist es abgenutzt und verfault. Anstatt deutsche Tugenden nach Russland zu exportieren, besteht jetzt die Gefahr, dass die Deutschen russischen Filz, Korporatismus und Antiamerikanismus importieren. Das ist schlecht für Russland, schlecht für Deutschland und erschreckend für die Länder dazwischen."
Archiv: Standpoint

Times Literary Supplement (UK), 17.12.2008

Beschwingt von der Lektüre stellt Susannah Clapp Michael Holroyds Buch "A Strange Eventful History" über das dramatische Leben der Schauspieler Ellen Terry, Henry Irving und ihrer Familie vor: "Er war ein elektrisierender Hamlet und ein Impressario, der das Publikum in Scharen ins West End zog. Sie war eine Schauspielerin, die 'Kritiker in Liebhaber verwandelte'. Sein Manager schrieb 'Dracula'. Ihr Sohn erfand das Bühnenbild neu. Und ihr Großneffe, John Gielgud, nutzte die Innovationen dieses Hamlets und den eloquenten Charme seiner Verwandten, um einer der vornehmsten Schauspieler des 20. Jahrhunderts zu werden. Michael Holroyds unglaubliches neues Buch beschreibt eine Dynastie von Dramatikern, eine Dynastie, die zum Teil aus dem Erbgut und zum Teil aus der Imitation geformt wurde. Während er das Leben von Ellen Terry, Henry Irving und ihrer (biologisch nicht gemeinsamen) Kinder erzählt, erhellt er eine Theaterperiode, in der die Ästhetik der britischen Bühne umgewandelt wurde, und Schauspieler einen neuen Status errangen: Irving war der erste theatralische Ritter."

Besprochen werden außerdem Mary Beards für den Besucher "unentbehrliches" Buch über Pompeji und Jean-Pierre Ohls Dickens-Roman "Mr. Dick or the Tenth Book".
Stichwörter: Bühnenbild, Pompeji, Beard, Mary

Salon.eu.sk (Slowakei), 10.12.2008

Wie ist das, wenn man jemanden wie ein Idol bewundert hat, es Jahrzehnte später nur noch peinlich findet und dann feststellt, dass der Rest der Welt dieses Idol immer noch mehr respektiert als einen selbst? So geht es dem Schriftsteller Stefan Chwin mit Lech Walesa. Und er ahnt, warum das so ist: "Seine große Karriere, sein glamouröser Aufstieg in die höchsten Höhen der polnischen Republik demonstriert das Versagen der polnischen Intelligentsia, das Versagen der polnischen Opposition, das Versagen Jacek Kurons, Adam Michniks, Litynskis, Modzelewskis, der Kaczynskis, Macierewicz und anderer, das Versagen der sichtbaren und unsichtbaren Eliten, ja, das Versagen der gesamten polnischen Elite, die es nicht geschafft hat, in einem historischen Schlüsselmoment einen intellektuellen Führer von der Statur Vaclav Havels aufzustellen, der auch noch von der Mehrheit der Polen gemocht wird. Und die Tschechen mochten ihren Havel. ... Der gegenwärtige panische Kult um Walesa ('Wir müssen die Legende verteidigen!') ebenso wie die panische Dekonstruktion des Mythos ('Die Legende muss demaskiert werden!') ist ein weiterer Beweis für das Versagen unserer Intelligentsia, deren Mitglieder nicht fähig sind, ihren Führungsanspruch zu formulieren."
(Salon.eu.sk hat Chwins unbedingt lesenswerten Text aus Tygodnik Powszechny ins Englische übersetzt.)
Archiv: Salon.eu.sk

New York Times (USA), 21.12.2008

Mexiko hat in den letzten zehn Jahren mit dem Programm Oportunidades eine Form der Armutsbekämpfung entwickelt, die so erfolgreich ist, dass sie inzwischen von vielen Ländern übernommen wird, berichtet Tina Rosenberg. Es ist eine Art tough love: Man bekommt finanzielle Unterstützung und muss dafür seinen Kindern eine Zukunft geben. "Bis vor kurzem zum Beispiel gingen Kinder wie Maleny nicht auf die High School. Obwohl Malenys Schule eine öffentliche ist, scheuten die Familien davor, Gebühren, Schulessen oder Fahrtkosten zu bezahlen. Wichtiger noch - wenn sie nicht in die Schule gingen, konnten die Kinder auf den Feldern helfen. Das war vor allem üblich bei den Mädchen, deren Erziehung man im ländlichen Mexiko für Geldverschwendung hält. Warum jemanden ausbilden, der sowieso heiratet? Jetzt geht Maleny zur Schule, weil ihre Mutter Solis sich bei Oportunidades angemeldet hat. Solis bekommt 61 Dollar im Monat von der mexikanischen Regierung unter der Bedingung, dass Maleny - regelmäßig! - zur Schule geht (Wenn sie auf dem Feld arbeiten würde, würde sie etwa 7,40 Dollar pro Tag verdienen). Solche Beihilfen erhöhen sich mit jedem Schuljahr und sie sind am höchsten für Mädchen, was den Familien einen zusätzlichen Anreiz gibt, sie zur Schule zu schicken." Das Programm ist so erfolgreich, dass New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg es in einigen Vierteln von New York testen will. (Mehr über Oportunidades hier auf Spanisch, auf Englisch und hier Informationen auf Englisch zur Evaluation.)

Außerdem: Lynn Hershberg porträtiert den Schauspieler Philip Seymour Hoffman - oder vielmehr: sie lässt ihn erzählen und flicht nur die notwendigsten Informationen ein, was sehr viel spannender ist als ein Porträt, weil Hoffman wirklich was zu sagen hat. Mark Leibovich schickt einen Bericht über die Pressestrategie Obamas und seinen Pressesprecher, Redneck und Bulldogge Robert Gibbs.

In der Bookreview gehts unter anderem - in einer Doppelbesprechung - um Ingo Schulzes "Neue Leben" und Christoph Heins "Landnahme", Stewart O'Nans Roman "Songs for the Missing", Ingrid D. Rowlands Biografie Giordano Brunos, Gustav Niebuhrs Buch "Beyond Tolerance" über den interreligiösen (interfaith) Dialog in den USA und Christopher Plummers Erinnerungen "Inspite of Myself".
Archiv: New York Times