Magazinrundschau

Demokratie ist eine Sünde

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.03.2009. In Salon.eu.sk kritisiert Jaroslav Formanek die Arroganz des BHL. Prospect erliegt der Verbindung von Schurken, Charme und Chablis in Odessa. In Dissent beschreibt der Historiker Michael B. Katz seine Erfahrungen als Geschworener in einem Mordprozess. Philosophen haben sogar eine eigene Art zu sterben, stellt Europa fest. In Edge.org erklärt Denis Dutton unseren Kunstsinn zum Produkt der Evolution. Frieden mit den Islamisten sucht Fareed Zakaria in Newsweek. In Outlook India erklärt uns der Islamist Maulana Sufi Mohammed, wie er sich diesen Frieden vorstellt. Der Observator Cultural lässt uns Stefan Agopian lesen.

Salon.eu.sk (Slowakei), 02.03.2009

Im tschechischen Magazin Respekt ärgert sich Jaroslav Formanek (von Salon ins Englische übersetzt) über Bernard Henri Levy, der Milan Kundera (hier) und Bernard Kouchner (hier) gegen journalistische Recherchen verteidigte. Zur Vorgeschichte: Kundera war vorgeworfen worden, 1950 einen Kurier des amerikanischen Geheimdienstes denunziert zu haben. Bernard Kouchner, Arzt und Außenminister in Frankreich, wurde in einem Buch von Pierre Pean vorgeworfen, er habe von der Regierung von Gabun Geld angenommen (mehr dazu hier). Beide Male erregte sich Levy über die Angreifer, diese "Einfaltspinsel und Niemande", die einen großen Mann in den Dreck ziehen wollten. Formanek findet diese Argumentation hochnäsig: "Innerhalb von wenigen Monaten hat ein führender Intellektueller Europas zum zweiten Mal eine elitistische Vorstellung davon definiert, wer und wer nicht das Recht hat, über überragende Genies zu schreiben. (...) 'Nein, ich kann mir den Autor des 'Buch der lächerlichen Liebe' nicht in der Rolle des Denunzianten vorstellen, nicht einmal in seinem früheren Leben', schrieb Levy über Kundera. Aber warum nicht? Warum sollte die Fähigkeit gute Bücher zu schreiben ein makelloses Leben garantieren? Und ist man durch die logistische Fähigkeit, medizinische Hilfe für Entwicklungsländer zu organisieren, lebenslang gegen die Versuchung gefeit, sich illegal zu bereichern?"

Außerdem: Die kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugresic denkt über die Karaokekultur nach.
Archiv: Salon.eu.sk

Prospect (UK), 01.03.2009

Julian Evans ist dem Zauber Odessas erlegen, das die "Vulgarität einer Stadt am Meer und die Kriminalität eines Hafens" aufs Schönste miteinander verbindet, zum Beispiel bei Sasha, der sich jedes Jahr den neuesten Mercedes kauft, in diesem Jahr einen E55 AMG: "Während des Mittagessens gab er mir das Ding, das er aus dem Wagen geholt hatte, um meinen Sohn damit spielen zu lassen. Es war eine Pistole. Ich hatte gehört, dass Sasha zu einer der beiden Mafiafamilien gehörte. Er hatte als Fahrer und Bodyguard begonnen und war dabei, als die beiden Clans in demselben Restaurant in Simferopol zusammenstießen. Nach dem Kampf hatte er 28 Messerstiche. Aber er war unwiderstehlich. Er erschien an diesem Wochenende ganz in Weiß gekleidet und verteilte freigiebig Chablis und Charme."

David Edmonds und Nigel Warburton erklären den neuen Trend zur experimentellen Philosophie: der x-phi, deren Emblem ein Lehnstuhl in Flammen ist. Vor dem 20. Jahrhundert sei es für Philosophen wie Descartes, John Locke und David Hume selbstverständlich gewesen, ihre Theorien mit Experimenten zu belegen. "Trotzdem ist vielen Philosophen die experimentelle Philosophie noch immer ein Dorn im Auge. In den vergangenen 100 Jahren war die theoretische Anlyse die dominante Richtung der angelsächsischen Philosophie. Eine solche Philosophie überlegt nicht so sehr, wie die Dinge sind, sondern wie wir über sie denken, die Art, wie wir die Welt wahrnehmen, die Grenzen der Bedeutung dessen, was Sinn ergibt. Aber für x-Phi-Anhänger ist empirische Forschung nicht nur eine Stütze der Philosophie, sie ist Philosophie."
Archiv: Prospect

Polityka (Polen), 02.03.2009

Ein niederschmetterndes Bild der polnischen Politikerkaste zeichnet (hier auf Deutsch) Adam Krzeminski. Einen weltläufigen und gebildeten Mann wie Bronislaw Geremek findet man dort nicht mehr. Und die Politiker haben auch kein Interesse daran, einen solchen hochkommen zu lassen. "Der aggressive Provinzialismus und die nationale Eigenbrötelei der PiS haben den Stil der polnischen Politik der letzten Jahre bestimmt. Es sind nicht allzu viele Politiker der jüngeren Generation auf der Bildfläche erschienen, obwohl es Tausende gut ausgebildeter junger Leute gibt, die polnische und ausländische Hochschulen absolviert und sich in internationalen Institutionen bewährt haben. Doch es gibt kein System, sie für die politischen Parteien anzuwerben, um von einer langfristig angelegten Steuerung ihrer Karrieren nach anderen als rein klientelistischen Prinzipien gar nicht erst zu reden. Vor einigen Jahren antwortete ein führender Politiker einer unserer Parteien auf die Frage, wie viele Stipendiaten seine Gruppierung zu Stiftungen von Schwesterparteien in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien geschickt habe, amüsiert: Bin ich denn ein Selbstmörder, dass ich mir einen Henker heranziehe, der mit irgendwann einmal den Kopf abschlägt?"
Archiv: Polityka

Dissent (USA), 01.03.2009

Michael B. Katz lebt seit fast 30 Jahren in West Philadelphia. Er lehrt Geschichte an der University of Pennsylvania und hat u.a. über Armut und die Transformation von Städten geschrieben. Dann wurde er Geschworener in einem Mordprozess. Das Verfahren, dass er sehr anschaulich beschreibt, stürzte ihn in eine Krise: "Ich fand die Erfahrung frustierend. Ich wollte das Verfahren unterbrechen, Fragen stellen, auf Dinge aufmerksam machen, die die Anwälte übersehen hatte. Als jemand, der Seminare hält, bin ich es gewohnt, das zu tun. Ich konnte nicht. Ich war auch frustiert, weil es so vieles gab, das wir über [den Angeklagten] Manes und [das Opfer] Monroe nicht wussten. Wer waren diese Männer, über deren Leben wir nur Bruchstücke erfuhren? Was hat sie in die Straßen von Nord Philadelphia gebracht? Warum waren zwei erwachsene Männer willens sich wegen 5 Dollar zu töten? Wie konnte aus der West Oakland Street ein Ort werden, an dem ältere Männer in Zimmern leben, über deren Eingang sie ein Messer aufbewahren? Und an dem die meisten Einwohner sich weigerten, als Zeugen der Tötung einer vertrauten Person auszusagen?" Katz hat Jahrzehnte über Armut, ihren Kontext und Ideen zu ihrer Erklärung und Abschaffung geschrieben. "Aber es gibt so viel Abstraktion in der Literatur und in dem, was ich geschrieben habe." Darum entschloss er sich, den freigesprochenen Manes in Nord Philadelphia zu besuchen ...
Archiv: Dissent
Stichwörter: Abstraktion, Pennsylvania

Espresso (Italien), 27.02.2009

In Italien entstand die sagenhaft erfolgreiche Geschäftsidee, Zeitungen zusammen mit irgendeinem Zusatz als Bündel zu verkaufen. Jetzt ist auch Umberto Eco mit dabei. Zusammen mit der Tageszeitung La Repubblica bringt der Espresso das Mittelalter in einer Fortsetzungsreihe an den Mann. Der Führer durch den 81 Seiten starken ersten Band ist natürlich der Autor von "Der Name der Rose". In der im aktuellen Heft in Auszügen abgedruckten Einleitung für die Buchreihe bemüht sich Eco, den schlechten Ruf seiner Lieblingszeit aufzupolieren. Ja, manche "mystisch inspirierten" Terroristen der Gegenwart würden uns gerne in das Mittelalter zurückbomben, aber: "In den Städten entstanden damals die unterschiedlichsten Formen des Wirtschaftens und die Banken, zusammen mit Kreditverschreibungen, Scheck und Wechsel. Und dann gibt es da noch alle jene mittelalterlichen Erfindungen, die wir heute noch als Erscheinungen unserer Zeit benutzen: der Kamin, das Papier als Ersatz fürs Pergament, die arabischen Zahlen, im 12. Jahrhundert notiert im 'Liber Abaci' von Leonardo Fibonacci, die doppelte Buchführung, die Musiknoten von Guido d'Arezzo - Außerdem zu verzeichnen sind Knöpfe, Unterhosen, Hemden, Handschuhe, Schubladen, Hosen, Spielkarten, Schach und Fensterglas. Im Mittelalter begannen wir uns an den Tisch zu setzen (die Römer speisten im Liegen) und mit der Gabel zu essen."
Archiv: Espresso

New Yorker (USA), 09.03.2009

In einem sehr ausführlichen Porträt schreibt D.T. Max unter der Überschrift "Der Unvollendete" über den amerikanischen Schriftsteller und Professor für Englische Literatur David Foster Wallace, der sich im vergangenen September das Leben nahm. Nach seinem Durchbruch mit dem als höchst komplex geltenden Roman "Infinite Jest" kämpfte der an starken Depressionen leidende Autor darum, diesen noch zu übertreffen. In der Kurzgeschichte "The Depressed Person" über eine unglückliche narzisstische junge Frau hatte Wallace geschrieben: "Paxil, Zoloft, Prozac, Tofranil, Wellbutrin, Elavil, Metrazol in Kombination mit unilateralem ECT (während einer freiwilligen zweiwöchigen stationären Behandlung in einer örtlichen psychologischen Klinik), Parnate mit und ohne Lithium, Nardil mit und ohne Xanax. Nichts davon befreite in irgendwie signifikanter Weise von der Qual und den Gefühlen emotionaler Isolation, die der depressiven Person in jeder wachen Stunde eine unbeschreibliche Hölle auf Erden bescherte."

Ergänzt wird das Porträt um Wallace' Erzählung "The Wiggle Room".

Zu lesen ist außerdem eine nachgelassene Rezension von John Updike über eine Biografie des Schriftstellers John Cheever von Blake Bailey "Cheever: A Life" (Knopf). Anthony Lane sah im Kino die Verfilmung von Alan Moores Comic "Watchmen" und eine restaurierte Fassung von John M. Stahls Klassiker "Leave Her to Heaven" ("Todsünde") von 1945.
Archiv: New Yorker

Europa (Polen), 02.03.2009

"Ein guter Philosoph ist ein toter Philosoph" stellt Maciej Nowicki in der Europa-Beilage der Tageszeitung Dziennik fest. Anlass ist das neue Buch des englischen Philosophen Simon Critchley "The Book of Dead Philosophers", das die Frage aufwirft, welches Verhältnis Philosophen zum Sterben haben, wobei Critchley daraufhin 20 Sterbefälle berühmter Philosophen untersucht. Besonders angetan hat es Nowicki folgende Episode: "Diderot segnete das Zeitliche nach der Rückkehr aus St. Petersburg, nach einem Aufenthalt am Hof von Katharina der Großen. Er war entkräftet, wurde krank und verbrachte einige Zeit im Bett. Als er sich endlich besser fühlte, setzte er sich mit seiner Ehefrau an den Abendbrottisch. Er aß Suppe, Lammragout und ein bisschen Endivie. Dann griff er nach einer Erdbeere. Aber seine Frau wollte ihn davor bewahren. 'Zum Teufel, was soll mir schon mit einer Erdbeere passieren?!', fragte Diderot genervt. Und in dieser Sekunde verstummte er. Er war bereits tot."
Archiv: Europa

Nouvel Observateur (Frankreich), 26.02.2009

In einem Interview spricht der französisch-libanesische Schriftsteller Amin Maalouf über die "Regellosigkeit der Welt" und seinen jüngsten Essay "Le Dereglement du monde. Quand nos civilisations s'epuisent" (Grasset). Darin beklagt er den "zeitgleichen Ausverkauf" der arabisch-muslimischen und westlichen Kulturen. Die muslimische Welt befinde sich in einer traumatischen Krise, die in vielen Ländern Schikanen, Diskriminierung und Rassismus nach sich zöge. "Man hätte erwartet, dass der religiöse Glaube das Moralempfinden schärft. Doch er erzeugt oft das Gegenteil. Als wäre man, indem man seinen Glauben proklamiert, zugleich seiner 'zivilen' Werte enthoben. Meine Kritik am Westen ist auf einer anderen Ebene angesiedelt. Dort redet man unablässig über Werte. Man wähnt sich stets im Kampf für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Aber zu oft werden diese Begriffe selektiv gebraucht, wie es gerade passt. (...) Deshalb ist moralische Glaubwürdigkeit heutzutage ein seltenes Gut geworden. Der Westen hat zunehmend weniger davon und der Rest der Welt nicht genügend."

Zu lesen ist außerdem ein Interview mit Christopher Hitchens, der in seinem Buch "Der Herr ist kein Hirte" den – vergiftenden – Einfluss der Religionen auf unsere Welt untersuchte; Hitchens erklärt unter anderem, dass er keine Sekunde lang glaube, der Papst hätte keine Ahnung von der Holocaust-Leugnung des Pius-Bruders Richard Williamson gehabt.

Edge.org (USA), 02.03.2009

Unser Geschmack an Kunst ist nicht einfach nur ein kulturelles Konstrukt, er hat sich vielmehr evolutionär entwickelt. So lautet die These von Denis Duttons Buch "The art instinct". Im Interview mit edge.org erklärt der in Neuseeland lehrende Philosophieprofessor und Gründer von Arts and Letters Daily das etwas näher. Drei Faktoren sind laut Dutton für die menschliche Entwicklung von Einfallsreichtum, Ausdrucksfähigkeit und Kreativität bestimmend: Vergnügen, Spontanität und Universalität. "In den letzten vierzig Jahren herrschte im akademischen Leben eine Ideologie, wonach die Künste sozial konstruiert und daher einzigartig nur in ihrer lokalen Kultur sein können. Ich nenne es eine Ideologie, weil sie nicht mit Argumenten belegt wird, sondern in den meisten ästhetischen Diskursen einfach vorausgesetzt wird. Hand in Hand damit geht die Vorstellung, dass wir nur selten oder vielleicht sogar nie die Künste anderer Kulturen verstehen können; umgekehrt können andere Kulturen unsere Künste nicht verstehen. Jeder lebt in seiner eigenen, sozial konstruierten, hermetisch abgeschlossenen, speziellen kulturellen Welt. Aber natürlich muss man nur eine Sekunde nachdenken, um zu begreifen, dass das unmöglich wahr sein kann. Wir kennen Brazilianer, die japanisches Design lieben, wir wissen, dass Chinesen sich an italienischer Oper erfreuen. Beethoven hat die Welt ebenso überwältigt wie das Hollywood Kino. Das Wiener Musikkonservatorium wurde durch eine Kombination aus japanischen, koreanischen und chinesischen Pianisten gerettet. Die Universalität der Künste ist eine Tatsache, eine Tatsache, die nach Erklärungen verlangt."

Bei Youtube findet man einen einstündigen Vortrag Duttons im Google-Hauptquartier. Und hier stellt Dutton sein Buch bei Stephen Colbert vor.
Archiv: Edge.org

Newsweek (USA), 02.03.2009

Eine langsame Entwicklung im Umgang mit den Islamisten schlägt Fareed Zakaria vor. Die Islamisten gewinnen bei der lokalen Bevölkerung an Boden - in Pakistan, Afghanistan, Nigeria, Indonesien, Somalia, Bosnien etc. Und warum? Weil die Alternativen säkularere, aber durch und durch korrupte, Chaos und Ungerechtigkeit produzierende Regime sind. Vielleicht macht es Sinn - die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen - zwischen "gewalttätigen und nur extremen" Islamisten zu unterscheiden. Erstere propagieren den globalen Jihad, letztere beschränken sich darauf, die eigene Bevölkerung zu knechten. Zakaria zitiert den CIA-Analysten Reuel Marc Gerecht: "Wir müssen begreifen, dass das eigentliche Ziel die Niederlage des bin Ladenismus ist, von da aus muss die Entwicklung anfangen. Moderate Muslime sind nicht die Antwort. Schiitische Kleriker und sunnitische Fundamentalisten sind unsere Rettung vor einem zweiten 11. September." (Es ist wirklich ein Kreuz, dass die Osteuropäer gerade so in ihre - zugegeben schrecklichen - innenpolitischen Themen verstrickt sind, denn zu dieser Debatte könnten sie so viel beitragen!)

Außerdem: Josef Joffe über den Antisemitismus in den arabischen Ländern: Wie geht man mit zivilen Gesellschaften um, die in keiner Weise zivilisiert sind?
Archiv: Newsweek

Outlook India (Indien), 09.03.2009

Als extrem aber nicht mehr gewalttätig würde Fareed Zakaria wohl den Talibankämpfer und Kleriker Maulana Sufi Mohammed bezeichnen, der im Swat-Tal mit Genehmigung der pakistanischen Regierung die Scharia eingeführt hat. Dafür will er jetzt Frieden halten, erklärt er im Interview. "Wir haben hier unser Friedenscamp aufgebaut und die Taliban aufgerufen, die Waffen abzulegen und die Checkpoints abzubauen, die sie im Tal errichtet haben. Die Antwort der Taliban ist positiv. Ich habe auch die Regierung gebeten, alle unnötigen Kontrollen entlang der Straßen zu entfernen. Jetzt vermittle ich zwischen beiden Seiten um sicherzustellen, dass gefangene Militante und Sicherheitskräfte freigelassen werden." Was dieser Frieden für seine eigenen Leute bedeutet, kann man diesem Satz entnehmen: "Demokratie ist eine Sünde und nichts als Unglaube."

Der Titel ist dem Bollywood-Komponisten und Oscargewinner A.R. Rahman gewidmet. Vinod Mehta ärgert sich über die englischsprachige Mittelschicht, die so leicht mit dem hübschen Bild anfreunden konnte, das Danny Boyd von den Slums zeichnet. "Die Supermacht Indien hat sich endlich mit dem Mangel abgefunden. Sie findet ihre Armut behaglich. Offen gesagt, das ist Mist!"
Archiv: Outlook India

Dawn (Pakistan), 02.03.2009

Absurd findet Mushfiq Murshed die Vereinbarung mit Maulana Sufi Muhammad über die Einführung der Scharia im Swat-Tal. "Das zeigte sich bei dem kaltblütigen Mord an dem Journalisten Musa Khankhel und der Entführung des Swat DCO. Letzterer wurde kurz darauf im Austausch gegen einige inhaftierte Militante freigelassen. Die Abmachung sieht die Wiederherstellung der Gerichte und Strafen der Scharia vor. Dieser heikle Waffenstillstand basiert auf einer Logik, die an Absurdität grenzt. Eine demokratisch gewählte Regierung ist eine Vereinbarung eingegangen, wonach das Gesetz buchstäblich in die Hände einer Gruppe von Klerikern gelegt wird, die Demokratie für unislamisch halten. Sufi Muhammed soll gesagt haben: 'Von Anfang an habe ich Demokratie als ein System empfunden, dass uns von Ungläubigen aufgezwungen wurde. Der Islam erlaubt weder Demokratie noch Wahlen.'"

Keine Sympathie hat Arundhati Roy für den englisch-indischen Oscarabräumer "Slumdog Millionär", mit dem sich jetzt selbst die regierende Kongresspartei brüstet. "Die Partei behauptet, sie habe nicht dem 'Leuchtenden Indien' vorgesessen, sondern dem 'Erfolgreichen'. Erfolgreich in was? Im Fall von Slumdog ist Indiens größter Beitrag, oder jedenfalls der größte Beitrag der politischen Parteien, doch sicher der, dass sie für den authentischen Hintergrund von Armut, Brutalität und Gewalt gesorgt haben, vor dem der Oscargewinner gedreht werden konnte. Gilt das jetzt auch als Erfolg? Als etwas, das gefeiert werden muss? Ehrlich, das ist schon jenseits der Farce. Und ja, das ist des Pudels Kern: Slumdog Millionär erlaubt realen Verbrechern, sich mit seinem Erfolg zu brüsten, denn der Film lässt sie vom Haken. Er zeigt nicht mit dem Finger auf sie, er macht niemanden verantwortlich. Jeder kann sich gut fühlen. Und deshalb fühle ich mich schlecht dabei." (Die Website von Dawn ist manchmal ein bisschen langsam, man kann Roy auch hier lesen.)
Archiv: Dawn
Stichwörter: Roy, Arundhati, Scharia

La vie des idees (Frankreich), 26.02.2009

Unter der Überschrift „Das Grummeln des weißen Mannes“ lotet Sylvie Laurent in einem weit ausholenden Essay die Wandlung der Figuren von Clint Eastwood aus. Früher für deren "Brutalität" kritisiert, beweihräuchere man heute seine (und deren) "Erlösung". Dabei geht Laurent neben Exkursen in die amerikanische Identitätsgeschichte besonders auf die Rolle des Walt Kowalski in Eastwoods neuem Film "Gran Torino" ein, der nicht mehr an den Mythos eines post-rassistischen Amerika glaube. "Er weiß nicht einmal mehr, welche Strategie ihm seinen Platz in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft erhalten soll, die unerschütterlich weiß ist. Sein Rassismus ist daher vielleicht, wie Obama und Eastwood meinen, die Frucht einer langen sozialen und ökonomischen Ausgrenzung, übertriebener Ausdruck legitimer Ängste. Aber was, wenn die beiden sich irren? Wenn der Rassismus, wie der Prediger Wright wettert und Akademiker feststellen, nicht zufällig, sondern zutiefst im amerikanischen Bewusstsein verwurzelt wäre?"

Times Literary Supplement (UK), 27.02.2009

So vertraut wie der Historiker Keith Thomas wird nie wieder jemand mit dem England der frühen Moderne sein, konstatiert David Wootton. Für sein Buch "The Ends Of Life" hat sich Thomas durch die Oxforder Bodleian Bibliothek gekämpft, um zu dokumentieren, wie dem Konzept der Selbstverwirklichung zwischen 1530 und 1780 begegnet wurde. Das Ergebnis dieser Recherche ist ein umfassendes Mosaikwerk aus Verweisen und Zitaten, das Wootton ganz wunderbar zu lesen findet, auch wenn er mitunter eine Kommentierung der zusammengetragenen historischen Materials vermisst. Eine ähnlich umfangreiche Arbeitsweise möchte er den Lesern dieses Wälzers unterdessen nicht empfehlen: "Sein Buch trägt in dem Sinne einige Charakteristika von Robert Burtons 'Anatomie der Melancholie' (1621), als es umfassend, tolerant und unendlich gebildet ist, allerdings ist es dünner, geschmeidiger und benutzerfreundlicher als dieses aufgebauschte Sammelwerk. Es ist in der Tat schwer, sich eine bessere Einführung in die frühe moderne Welt vorzustellen. Es wird sofort und allgemein als unentbehrlich erkannt werden, nicht nur für Historiker, sondern für jeden, der ein Interesse an der Vergangenheit hat. Alles, was auf den ersten Blick zu fehlen scheint, ist eine Gesundheitswarnung - Thomas' Arbeitsweise zu imitieren, könnte Ihr Leben in Gefahr bringen."

Außerdem: David Aberbach untersucht die Wurzeln des britischen Dichters Stephen Spender.
Stichwörter: England, Bibliotheken

Eurozine (Österreich), 27.02.2009

Jan Philipp Reemtsma denkt über die Grenzen der Pressefreiheit bei Berichten über Verbrechensopfer nach - selbst wenn diese einem Fernsehauftritt zustimmen. Ausführlich geht er dabei auf den Fall einer 13-Jährigen ein, die entführt, fünf Wochen gefangen gehalten und vergewaltigt wurde. Sie trat mit ihren Eltern, ihrem Anwalt und ihrer Therapeutin in der Talkshow von Johannes Kerner auf. "Sie weiß nicht, worauf sie sich einlässt. Sie ist von dem Wunsch getrieben, zu sprechen, und das Medium nutzt diesen Wunsch aus. Es mag ihr zur Zeit des Interviews tatsächlich einigermaßen gut gehen, aber sie weiß nicht – kann nicht wissen­, dass ihre Empfindung in Wochen, Monaten, vielleicht Jahren wieder eine ganz andere sein könnte. Sie weiß nicht, ob die zweite Exhibition dann einen kumulierenden Effekt haben kann – sie kann es nicht wissen, die Therapeutin muss das wissen. Deren Aufgabe und die des Anwalts wäre gewesen, ihr den Wunsch auszureden, vor den Augen der Öffentlichkeit zu sprechen. Diese Art Öffentlichkeit zu verhindern ist immer richtig, zuzureden, sich gar an solcher Exhibition zu beteiligen, immer falsch. Die Faustregel sollte leicht zu merken sein."
Archiv: Eurozine

Observator Cultural (Rumänien), 02.03.2009

Die Romane und Kurzgeschichten des Schriftstellers Stefan Agopian markieren einen wichtigen Punkt in der Emanzipation der rumänischen Literatur vom sozialen Realismus der fünfziger Jahre, schreibt Jean Harris in ihrer an Eugen Negricis Essay über den Magischen Realismus Rumäniens angelehnten Einführung zum Werk Agopians: "Für rumänische Schriftsteller, die lange Zeit besessen davon waren, die kreative Atmosphäre der Jahre zwischen den Kriegen wiederzuentdecken, führte die Rückkehr der (post-stalinistischen) 'Normalität' zu einer Art Neuerfindung des Alphabets der Dichtung, einem Ereignis nicht unähnlich der Erfindung des Rads. Was vor allem zählte, war das Recht, realistische Prosa mit erzählerischen Techniken zu produzieren und traditionelle Typologien mit sozialen oder psychologischen Motiven, aber ohne gefährliche politische Implikationen ... Die Literatur befreite sich von der 'Tyrannei des Typischen' und ging über zum Außergewöhnlichen, Marginalen, nie Dagewesenen ... Stefan Agopian betrat die literarische Szene und ließ der kreativen Fantasie freien Lauf, er rief unversehens eine konsequente und kreative Irrealität ins Leben, die sich keiner realistischen Bestimmung bewusst war..."

Lesen dürfen wir auf Deutsch einen Auszug aus Agopians "Geschichten des Geografen Ioan". Sie beginnt so: "Lang zogen sich damals die Tage dahin, die Dunkelheit scheinbar endgültig von sich gestreift, staubig und wehmütig. Von irgendwo her ließ Er, einen endlosen Blick aufgelegt und engelumgeben, unseren Schritt sich verlangsamen, uns so zur Ruhe kommen. Der Speichel gerann uns letztlich zu einem Gemisch wie fusselige Watte und unsere Worte verendeten langsam. Wir versanken im Gehen in einer Art schlangenhaften Schweigens, während die seitlich abgerutschte Sonne ins Feld ausblutete. Erhaben wollten wir, die Waffen fest an den Leib geschnallt, sein."

Merkur (Deutschland), 01.03.2009

Der Soziologe Heinz Bude versucht, sich das neue Interesse an Karl Marx zu erklären, und stellt fest, dass der Marx von 1968 der einer eingebildeten Krise war, der unserer Tage ist der einer wirklichen: "Jemand muss die Zeche zahlen, wenn alles immer schneller, schmaler und billiger werden soll. Lange hat man glauben wollen, dass die ungeheuren Gewinne des Konsumenten nicht durch schleichende Verluste der Produzenten gezahlt werden müssen. Aber es können nicht Flüge, Handys und Autos immer günstiger zu haben sein und gleichzeitig die Beschäftigten der Lufthansa, bei Nokia oder Opel ungeschoren davonkommen. 'Marx' steht für die Erkenntnis, dass an einem System etwas nicht stimmt, das immerzu alle zu Gewinnern erklärt. Es gibt Grenzen des Wachstums, die nicht in der Ökologie und deren Ressourcen liegen, sondern in der Ökonomie und deren Gesetzen."

Jens Bisky fragt in einer Architekturkolumne, ob die Einkaufszentren, mit denen der Projektentwickler ECE deutsche Städte überzieht, wirklich das eigentliche Problem der Stadtentwicklung sind: "Da liegt die sarkastische Frage nahe, ob es so furchtbar ist, wenn ein scheußlicher Neubau an die Stelle einer scheußlichen Fußgängerzone tritt, in der all die Jahre wenig geschehen ist, dem Elend abzuhelfen. Es gilt auch in diesem Fall, dass keine Bastion fällt, die nicht zuvor von allen starken Kräften verlassen wurde."

Außerdem erklärt Helmut Fangmann mit Luhmann, warum Politik nicht problemorientiert handeln kann. Und von Peter Nadas ist ein seltsamer Bericht über seine psychoanalytische Arbeit an einem Bekannten zu lesen.
Archiv: Merkur

New York Times (USA), 01.03.2009

Hocherfreut zeigt sich Rezensentin Liesl Schillinger über "ein beachtliches literarisches Ereignis des Jahres 2009": Michael Hofmanns englische Übersetzung von Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein". Vorbild für das im Roman beschriebene Berliner Ehepaar, das während des Zweiten Weltkriegs eine Postkartenkampagne gegen Hitler ins Leben rief, war das reale Ehepaar Otto und Elise Hampel, das vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und enthauptet wurden. Übersetzt worden sind auch Falladas "Kleiner Mann - Was nun" und "Der Trinker". Spannend und lehrreich findet Schillinger auch die Nachworte von Philip Brady und John Willet: "Brady zufolge gestand der Autor einmal, dass er 'nur das wiedergeben kann, was er sieht, nicht was geschehen könnte'. Was Fallada im Berlin der 40er Jahre sah, war genug, um als labilerer Mann die Augen zu schließen. Aber Fallada hielt seine weit offen. Er war nicht stark genug um Nazi-Deutschland zu verlassen, obwohl er die Chance dazu gehabt hätte. Aber er war stark genug das niederzuschreiben, was er sah."

Besprochen werden außerdem unter anderem Brad Goochs Biografie der Schriftstellerin Flannery O'Connors und Alexander Waughs Geschichte der Familie Wittgenstein.

Archiv: New York Times