Magazinrundschau
Der Mensch muss inkonsequent sein
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.07.2009. In Poets & Writers erklärt der Verleger Jonathan Galassi den Vorteil digitaler Bücher. Das TLS nennt ihren Nachteil: Man kann nicht dran riechen. In der Gazeta Wyborcza überlegt Leszek Kolakowski, für welche Wahrheit er sterben würde. Im New Statesman möchte John Gray den Begriff "Fundamentalismus der Aufklärung" wieder einführen. In Le Journal du Dimanche fordert BHL die Beerdigung der Sozialistischen Partei Frankreichs. Der New Yorker kennt schon unsere nächste Steuer. Im Spectator fragt Iason Athanasiadis die Iraner: Warum diese Angst vor den Engländern? Foreign Policy verkündet den Tod des Machos.
Poets & Writers (USA), 01.07.2009

Shell Fischer stellt uns Flarf vor, eine Bewegung für experimentelle Poesie. Nie gehört? Absurd. "Bis heute wurden schon sechzehn Flarf-Bücher veröffentlicht. Seit 2006 veranstaltet der Bowery Poetry Club in Manhattan jährlich ein dreitägiges Flarf-Festival, dass Poesie präsentiert ebenso wie 'flarfige' Musik, Theater und Film. Letzten September war eine Gruppe von Flarf-Dichtern eingeladen, im Walker Art Center in Minneapolis zu lesen. Im April veranstaltete das New Yorker Whitney Museum of American Art seine eigene Flarf-Lesung. Und im November wird der in Washington DC ansässige unabhängige Verlag Edge Books eine vierhundertseitige Anthologie veröffentlichen. 'Flarf: Eine Anthologie des Flarf', der die Arbeit von 25 bis 30 Dichtern enthält."
Gazeta Wyborcza (Polen), 18.07.2009
Die Gazeta druckt ein bisher unveröffentlichtes Interview mit dem am Freitag verstorbenen Philosophen Leszek Kolakowski, der sich mit Anna Bikont unter anderem darüber unterhielt, ob es eine Wahrheit gibt, die es wert wäre, dafür zu sterben. "Vielleicht ist die einzige Wahrheit, die es wert wäre, die, dass es eine Wahrheit gibt - ohne festzulegen, worin sie besteht. Die christlichen Märtyrer sind für ihren Glauben gestorben, und auf dem Scheiterhaufen sind die Menschen gestorben, die ihren eigen Glauben bewahren wollten. Ich möchte weder das eine noch das andere verurteilen. Der tiefe Glaube an eine wertvolle Sache macht uns reicher. Selbst wenn der Glaube schreckliche Folgen für seine Anhänger hat - und wir sehen das tagtäglich - sind diese doch oft unerschütterlich davon überzeugt, dass er ihr Leben bereichert. Aber natürlich weiß man nicht, ob er auch das Leben anderer bereichert, weil gerade diese Werte etwas Unmenschliches haben können. Die Frage müsste also ein wenig anders formuliert werden. Nicht ob es eine Wahrheit wert ist, sondern ob es eine Wahrheit nicht wert ist (für sie zu sterben). Und hier sind wir schon im Dickicht der Unsicherheit. Ist es das Vaterland wert, dafür zu sterben? Ja."
Außerdem: Kolakowski war für die demokratische Opposition gegen den Kommunismus eine große Autorität, auch wenn er zuerst selbst überzeugter Marxist war, wie Tadeusz Sobolewski in einem biografischen Abriss erklärt: "Zu seinen wichtigsten Themen gehörten der Marxismus und die Religion. Der Marxismus erschien ihm in seiner Jugend als Chance, und wurde später von ihm als Falle enttarnt. Und die Religion, die Kolakowski zuerst als Falle erschien, wurde in seinen späteren Arbeiten als Chance behandelt". Dieser Wandel faszinierte auch Gesine Schwan, die in den späten 60ern ihre Dissertation über ihn schrieb: "Er war ein Verfechter der Toleranz und des Kampfs gegen den Absolutismus in jedweder Gestalt. Er schrieb, der Mensch müsse inkonsequent sein, weil dies menschlich sei." Und Adam Michnik, der seinerzeit Kolakowskis Vorlesungen an der Warschauer Universität besuchte, erinnert sich: "Damals, in Zeiten der Finsternis und des Hasses, stand er für hellen Verstand und Leben in Würde."
Außerdem: Kolakowski war für die demokratische Opposition gegen den Kommunismus eine große Autorität, auch wenn er zuerst selbst überzeugter Marxist war, wie Tadeusz Sobolewski in einem biografischen Abriss erklärt: "Zu seinen wichtigsten Themen gehörten der Marxismus und die Religion. Der Marxismus erschien ihm in seiner Jugend als Chance, und wurde später von ihm als Falle enttarnt. Und die Religion, die Kolakowski zuerst als Falle erschien, wurde in seinen späteren Arbeiten als Chance behandelt". Dieser Wandel faszinierte auch Gesine Schwan, die in den späten 60ern ihre Dissertation über ihn schrieb: "Er war ein Verfechter der Toleranz und des Kampfs gegen den Absolutismus in jedweder Gestalt. Er schrieb, der Mensch müsse inkonsequent sein, weil dies menschlich sei." Und Adam Michnik, der seinerzeit Kolakowskis Vorlesungen an der Warschauer Universität besuchte, erinnert sich: "Damals, in Zeiten der Finsternis und des Hasses, stand er für hellen Verstand und Leben in Würde."
Boston Review (USA), 01.07.2009
Julius Purcell erzählt in einer Reportage über den so schmerzhaften Umgang mit den Opfern des spanischen Bürgerkriegs. Letzten September hatte der spanische Richter Baltasar Garzon - der einen Haftbefehl gegen Pinochet erließ - angekündigt, dass er nach den Überresten der "Verschwundenen" des Spanischen Bürgerkriegs suchen lassen wolle und ebenso nach den Republikanern, die in der Franco-Ära der Nachkriegszeit exekutiert wurden. Sein Ziel war es, Francos Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzuweisen. Das hat in Spanien eine riesige Debatte ausgelöst. Selbst die Sozialisten äußerten nur schmallippige Zustimmung. Von den Konservativen und der Kirche ganz zu schweigen. "Während der 50er Jahre ließ das Franco-Regime so viele wie möglich von 'seinen' Massengräbern exhuminieren und begrub die Toten erneut mit allen Ehren. Diese Toten - das waren die sechzig- bis siebzigtausend Soldaten und zivilen Franquisten, die in der republikanischen Zone während des Krieges ermordet worden waren. Für die unterlegenen Republikaner wurden niemals ähnliche Anstrengungen unternommen. Und das ist die emotionale Crux der Debatte, ohne die man die Leidenschaft und den Zorn nicht verstehen kann, den die Gräber heute noch auslösen."
New Statesman (UK), 20.07.2009

Sholto Byrnes bespricht mit großer Sympathie das neue Buch der Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong, "The Case for God: What Religion Really Means", in dem sie den erklärten Atheisten Richard Dawkins, Christopher Hitchens und Sam Harris Paroli bietet: "Armstrong schreibt über einen Gott, dessen Existenz nicht zu rationaler Zufriedenheit bewiesen werden kann, weder durch die ontologischen Argumente Anselms und Descartes noch durch wissenschaftliche, wie Newton noch glaubte. Schon alleine von seiner 'Existenz' zu sprechen, ist schwierig. Von Anfang an macht Armstrong klar, dass Sprache, die notwendigerweise der menschlichen Auffassungsgabe unterliegt, Gott nicht gerecht werden kann."
Journal du Dimanche (Frankreich), 19.07.2009
Die sozialistische Partei Frankreichs, in der sich einige aus Zeiten des großen Korrumpators Mitterrand übrig gebliebene "Elefanten" müde bekriegen, ist für Bernard-Henri Levy mausetot. Er plädiert im Interview mit dem Journal du Dimanche für ihre Selbstauflösung und Neugründung. Als Gründe für den Niedergang der französischen Sozialisten gibt er an: "Diese Europasache, wo viele an einen Chauvinismus aus der Zeit Jules Guesdes angeknüpft haben. Dieser pawlowsche Antiliberalismus, diese Unfähigkeit, ganz wie bei der italienischen Linken, zwischen einem guten 'Liberalismus' (dem der Arbeiterautonomie, der Kämpfe für die Freiheit) und einem schlechten Liberalismus (Marktgesetz überall, sogar in der Kultur) zu unterscheiden. Oder der Hass auf Amerika, ein untrügliches Zeichen dafür, dass man in der Gegenaufklärung gelandet ist."
London Review of Books (UK), 23.07.2009

Weitere Artikel: In einem Essay, der "eigentlich" die Besprechung eines Buchs von Alain Badiou über Nicolas Sarkozy ist, kommt der Allesdenker Slavoj Zizek irgendwo zwischen Sarkozy, Ahmadinedschad, den Marx Brothers, dem Animationsfilm Kung Fu Panda, Niels Bohr, einem Kastrationswitz von Putin und dem "vernünftigen Antisemitismus" des Robert Brasillach auch auf Silvio Berlusconi als Menetekel zu sprechen. Adam Shatz denkt über "laute Musik" als Folter und Waffe nach. Peter Campbell fragt sich, was es bedeutet, dass der Codex Sinaiticus jetzt teilweise im Netz lesbar ist. Mary Beard bespricht auf sehr aufschlussreiche Weise eine Biografie des denkenden Kaisers Marc Aurel, die sie unbefriedigend findet.
Frontline (Indien), 18.07.2009

New Yorker (USA), 20.07.2009

Nepszabadsag (Ungarn), 18.07.2009

Al Ahram Weekly (Ägypten), 16.07.2009

Reem Leila beschreibt die Reaktionen auf den Mord in der muslimischen Welt und berichtet, der ermittelnde Staatsanwalt habe eine Nachrichtensperre verhängt, nachdem das Magazin Focus berichtet hatte, der Mord sei vorbereitet gewesen. "Al-Sherbinis Familie reagierte verärgert auf die Sperre und beschrieb sie als einen Versuch, die Medien zum Schweigen zu bringen und die Wahrheit zu verbergen. 'Die Sperre hat uns überrascht', sagte Marwas Vater Ali al-Sherbini. 'Ich bin sicher, dass sie versuchen Informationen zu verbergen, etwa über die Verzögerung, mit der das Gericht die Polizei rief, nachdem meine Tochter angegriffen worden war, und über den Sicherheitsmann, der auf meinen Schwiegersohn Elwi Ali Okaz schoss.' Okaz, der ernstlich verletzt wurde, war versehentlich von einem Gerichtswärter angeschossen worden, als er seine Frau zu verteidigen suchte. Ali al-Sherbini fügte hinzu, er glaube, die Nachrichtensperre solle Deutschlands Ansehen im Ausland schützen statt das Interesse an dem Fall zu fördern. 'Deutschland erlaubt den Medien nicht über den Fall zu berichten um die Verurteilung durch andere Länder zu vermeiden', sagte er."
Warum gelingt es den Arabern nicht, einen modernen Staat aufzubauen? Am Westen liegt es jedenfalls nicht, meint Hussain Abdul-Hussain. "Es ist wahr, Amerika und westliche Hauptstädte haben gravierende Irrtümer im Umgang mit Arabern begangen, aber immer nur andere für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen, kann kaum die Lösung sein. Schließlich hat Indien - jetzt eine aufsteigende Macht - seine Unabhängigkeit vom imperialen Britannien 1947 gewonnen, einige Jahre, nachdem die meisten arabischen Länder - die immer noch versuchen herauszufinden, wie man heute einen Staat aufbaut - bereits unabhängig waren."
Nehad Selaiha zeigt sich überrascht von der Menge an Klassikern, die beim Ägyptischen National Theater Festival aufgeführt wurden, das in früheren Jahren sehr abenteuerlustige und unkonventionelle Arbeiten gezeigt hat. "Es scheint als seien die jungen Regisseure etwas ängstlich geworden", grummelt sie. Bestimmt hat sie Recht, aber wir sind trotzdem tief beeindruckt von der Liste der aufgeführten Autoren: Sechs mal Shakespeare, Ionesco, Max Frisch, Eugene O'Neill, Nazim Hikmet, Tankred Dorst, Friedrich Dürrenmatt, Victor Hugo, Harold Pinter, Alfred Farag, Tawfiq El-Hakim, Bahig Ismail, Mahmoud Diab und Nagib Mahfouz. In Deutschland gibt es kein Theaterfestival mit einem vergleichbaren Angebot an nichteuropäischen Autoren. Autoren.
Spectator (UK), 18.07.2009

Times Literary Supplement (UK), 17.07.2009
Peter Green annonciert Anthony Graftons Essays "Worlds Made by Words", die mit Blick auf die Renaissance und die Gelehrtenrepublik das Für und Wider der Digitalisierung unseres Wissens behandeln: "Grafton kommt zu dem Schluss, dass die Gegenwart online 'überwältigend zugänglich' werden wird, während wir für die Vergangenheit noch mühsame Handarbeit in den Archiven werden leisten müssen. Die Übertragung selbst der amerikanischen und britischen Archive ins Netz steckt noch immer in den Kinderschuhen, und Grafton liefert starke Argumente für die Notwendigkeit, Originale und nicht nur digitalisierte Bilder anzusehen: Ein Forscher konnte die Geschichte von Cholera-Ausbrüchen verfolgen, indem er in einem 250 Jahre alten Archiv an den Büchern roch, um zu sehen, welche zum Desinfizieren mit Essig besprenkelt waren. Ja, wird der junge Wissenschaftler ermutigt, nutze jeden Vorteil der neuen elektronischen Schatzhöhle. Aber - und hier zeigt Grafton einen seltenen Moment echten und tiefen Gefühl - all die Datenströme, so reich sie auch sind, werden die einzigartigen Bücher, Drucke und Manuskripte, die nur eine Bibliothek bereithalten kann, eher erleuchten als ersetzen."
"Krachend langweilig" findet der Historiker A. N. Wilson Isaiah Berlins Briefe, die Henry Hardy and Jennifer Holmes unter dem Titel "Enlightening" herausgegeben haben. Nur einige davon sind wenigstens boshaft. Am meisten freute sich Berlin über die Pleite, die der Historiker Hugh Trevor-Roper bei seiner Antrittsvorlesung in Oxford erlebte: "Es war schrecklich mitanzusehen, wie betagte Dozenten und weißhaarige Damen rüde von den leeren Stühlen weggedrängt wurden, die darauf warteten, von eleganten Personen aus London gefüllt zu werden. Am Ende kam niemand außer dem Herzog von Wellington und acht Mitgliedern der Familie Astor sowie seiner Frau und seiner Schwester Doria. Die restlichen Stühle wurden von Plebejern besetzt."
"Krachend langweilig" findet der Historiker A. N. Wilson Isaiah Berlins Briefe, die Henry Hardy and Jennifer Holmes unter dem Titel "Enlightening" herausgegeben haben. Nur einige davon sind wenigstens boshaft. Am meisten freute sich Berlin über die Pleite, die der Historiker Hugh Trevor-Roper bei seiner Antrittsvorlesung in Oxford erlebte: "Es war schrecklich mitanzusehen, wie betagte Dozenten und weißhaarige Damen rüde von den leeren Stühlen weggedrängt wurden, die darauf warteten, von eleganten Personen aus London gefüllt zu werden. Am Ende kam niemand außer dem Herzog von Wellington und acht Mitgliedern der Familie Astor sowie seiner Frau und seiner Schwester Doria. Die restlichen Stühle wurden von Plebejern besetzt."
Caffe Europa (Italien), 17.07.2009
Aus der Zeitschrift Reset übernommen ist ein Artikel von Naomi Sakr, die sich über die Stellung der Frauen in den saudischen Medien Gedanken macht. Zwar kommen immer mehr Frauen in den Medien vor, sagt Sakr. Gleichzeitig aber hat sich an ihrer Stellung innerhalb der Medienwelt recht wenig geändert. "Diese Widersprüche reflektieren den Klientelismus im Inneren eines grundsätzlich autoritären Systems, in dem eine oberflächliche Modernisierung stattfindet, lange bevor es eine wirkliche Verschiebung in den Machtverhältnissen gibt. Dass Frauen in den saudi-arabischen Medien in den drei Jahren von 2004 bis 2006 immer präsenter und sichtbarer wurden, lag wahrscheinlich an Initiativen von oben. Mitglieder der königlichen Familie haben sich dafür eingesetzt, das Land vor den Augen der Welt ein wenig moderner erscheinen zu lassen (...) Die erste saudiarabische Schauspielerin, Hind Mohammed, debütierte im Film 'Keif al-hal?' [Wie geht es uns?], der von der [staatlichen] Rotana-Gruppe produziert wurde. Hala Nasser, die Autorin eines Buches über die Schwierigkeiten, mit denen eine saudi-arabische Frau in der Welt der Medien konfrontiert ist, wurde zur ersten Chefredakteurin des Magazins der Rotana-Gruppe. Und es war der [Staats-]Sender Mbc, der sich dazu entschied, die Show von Oprah Winfrey zu importieren, untertiteln und übertragen. Oprahs Art, delikate persönliche Erfahrungen zu behandeln, gefiel dem weiblichen saudischen Publikum."
New Criterion (USA), 01.06.2009

Leider leider leider nur im Print: Joseph Epsteins Besprechung der Briefe George Santayanas.
Elet es Irodalom (Ungarn), 10.07.2009

Foreign Policy (USA), 01.07.2009

"Nicht so schnell", ruft Leser Soren Lerby schockiert in einem Kommentar (bitte runterscrollen). "... es sind genau diese riskanten, allzu selbstbewussten Investitionen oder Unternehmen, die die Grundlage der heutigen entwickelten Gesellschaft und Geschäftswelt geschaffen haben - stellen Sie sich vor, die Welt wäre seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beherrscht von risikovermeidenden, Einfühlungs/Östrogen-erfüllten Frauen - dann würden wir unsere Mails immer noch im Kerzenlicht mit Stiften schreiben und unsere Waren auf (ungepflasterten) behelfsmäßigen kleinen Märkten gegen Naturalien tauschen."
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