Magazinrundschau

Die Hände der Schergen des Bischofs

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.05.2010. Die NYRB löst das Kuba-Dilemma. In Eurozine unterhalten sich Martin Simecka und Laszlo Rajk, über ihre Väter,  Kommunisten, die von Kommunisten verfolgt wurden. Für das TLS liest Julian Barnes das Tagebuch von Eugene Delacroix. Odra fragt: "Warum ist Bogdan Wojdowski vergessen?" In Le Point  erklärt BHL, warum er die Initiative JCall unterstützt. Der New Yorker porträtiert Andrei Ternowski, den 17-jährigen Erfinder von Chatroulette. Wired ruft nach einer Alternative für Facebook.

Eurozine (Österreich), 07.05.2010

Der slowakische Journalist Martin M. Simecka und der ungarische Architekt Laszlo Rajk waren in jungen Jahren Dissidenten unter den kommunistischen Regimen ihrer Länder. Außerdem waren sie beide Söhne überzeugter Kommunisten, die wegen abweichlerischer Meinungen verurteilt worden waren: Milan Simecka 1968, Laszlo Rajk senior 1949. Die Söhne unterhalten sich über ihre Väter und über die Frage, warum es bis heute schwer ist, Dissident zu sein.

Dazu Martin M. Simecka: "Ich war praktisch mein ganzes Leben umgeben von ehemaligen Kommunisten, die ja immer charmante Menschen sind. Meine Frau Marta kommt aus einer kommunistischen Familie: ihr Vater war während des Zweiten Weltkriegs in Moskau und in den Fünfzigern Chefredakteur der kommunistischen Zeitung. Wir kommen alle aus kommunistischen Familien. Unsere Familien waren Opfer anderer Kommunisten, böser Kommunisten. Sogar heute finde ich es problematisch zu sagen, ich sei ein Antikommunist. Ich mag dieses Wort nicht. Ich hatte einen Mordskrach mit Adam Michnik über die Kundera-Affäre [die Simecka in seiner Zeitschrift Respekt publik machte], und er sagte zu mir: 'Weißt du, was mit dir los ist? Du gehörst jetzt zu den Antikommunisten. Das ist die schlimmste Sache von der Welt.' Es gibt sie also immer noch, diese linke intellektuelle Mafia in Europa, wenn ich mal so sagen darf. Es gibt eine tiefe Verbundenheit, nicht nur gemeinsame Erfahrungen, aber eine Weltsicht, ein Bekenntnis zu sozialer Gleichheit und Freiheit, die natürlich viele Kommunisten am Anfang teilten. Es ist an der Zeit, diese Fragen aus einer neuen Perspektive zu diskutieren, vor allem jetzt, wo die Linke in Europa an Ideenmangel leidet und nicht mehr die Freiheit verteidigt."

Laszlo Rajk: "Es gibt zwei fundamentale Elemente in der politischen Wende, die in der Vergangenheit wurzeln, und kein postkommunistisches Land konnte damit wirklich umgehen. Das sind die Privatisierung und die Nomenklatura. Jedes Land hat verschiedene Methoden der Privatisierung oder Teilprivatisierung probiert und keine war erfolgreich. Keine. (...) Man kann dieses Element nicht auslassen, wenn man über die Nomenklatura spricht und wie sie sich in die neue Ära katapultiert hat. Das sind zwei Schlüsselfragen, die das gegenwärtige politische Leben beeinflussen und es auch in Zukunft tun werden."
Archiv: Eurozine

London Review of Books (UK), 13.05.2010

In einem wunderbar subtilen Stück philologischer Gelehrsamkeit geht Altmeister Frank Kermode (Jahrgang 1919) dem "Schauder" - gemeint ist ein Schauder des Angerührtseins - bei T.S. Eliot nach. Den fand der britische Dichter Dante wie bei Baudelaire: "Eliot bestand streng darauf, dass Gedichte stets als Ganzes behandelt werden müssen: 'Dantes Gedicht ist ein Ganzes ... man muss zuletzt alles verstehen, um irgendetwas zu verstehen.' Das ist eine Doktrin, die er von Baudelaire gelernt haben könnte, der sie auf 'Die Blumen des Bösen' anwendete: 'Je repete qu'un livre doit etre juge dans son ensemble.' ... Die Absätze, die Eliot in seiner Deutung jedoch auswählt, die Zeilen, die den Schauder auslösen, werden offenkundig herausgelöst und ihre Auswahl ist durch ihren Beitrag zu einer Erfahrung religiöser Verzweiflung gerechtfertigt, aber auch durch ihre technische Raffinesse, die im je besonderen Fall studiert werden muss und durch den leisen Schauder der Entdeckung, den sie beim Leser auslöst, belohnt werden kann."

Jeremy Harding schildert in einem umfassenden, fast schon buchartigen Essay die Anfälligkeit der britischen sowie der weltweiten Nahrungsmittelversorgung, aber auch die massiven Probleme, die die aktuellen Produktions- und Konsumgewohnheiten hervorbringen. Darunter die Ausbeutung, auf der sie beruhen: "Dann ist da die Situation der 1,1 Milliarden Agrararbeiter: Mehr als die Hälfte von ihnen besitzen weder Land noch Maschinen und leben in einem Zustand der Semi-Sklaverei. Inzwischen werden die Arbeitsbedingungen dieser neuen globalen Unterschicht auch als ökonomisches Problem erkannt: Die weltweite Nahrungsmittelproduktion nimmt ab, weil die unhaltbaren Zustände die Arbeitskraft schwächen und immer mehr Menschen in die Städte treiben."

Weitere Artikel: In einer recht scharfen Abrechnung beschreibt David Bromwich, wie sich Barack Obama, der als Gegner des Establishments antrat, längst zu dessen bestem Mann entwickelt hat. In einer gründlichen und sehr US-kritischen Analyse erklärt Gareth Pierce, warum die USA noch immer bei weitem nicht Rechtsstaat genug sind, um eine Auslieferung von Terroristen dorthin zu rechtfertigen. Peter Campbell bespricht die Ron-Arad-Ausstellung im Barbican und Jenny Diskis liest ein Buch, in dem die rechte Kolumnistin Melanie Phillips alles, was ihr liberal und links vorkommt, als Macht des Irrationalen und Bösen verdamm.

Polityka (Polen), 07.05.2010

Der Geschichtsdidaktiker Adam Suchonski untersucht die Art und Weise, wie ausländische Schulbücher die Geschichte Polens beschreiben: Nicht immer zufriedenstellend, meint er im Interview (hier auf Deutsch), aber daran seien die Polen zum Teil selbst schuld. "1992 verfassten zwölf europäische Historiker eine 'Geschichte Europas', die bis Ende 1990 reicht. Aus unserem Teil von Europa war unter ihnen nur ein tschechischer Historiker. Heute ist das ein Lehrbuch für fast 90 Millionen Schüler. Vor drei Jahren trafen sich in Istanbul die Bildungsminister der Mitgliedstaaten des Europarats, um die Arbeiten an einer neuen Version des europäischen Geschichtsbuchs zu koordinieren. Alle waren dafür, nur der damalige polnische Minister Roman Giertych sagte, dass uns ein gemeinsames Lehrbuch nicht interessiere, weil man eine gemeinsame Sicht der Geschichte der europäischen Staaten nicht untereinander ausmachen könne."
Archiv: Polityka
Stichwörter: Schulbücher, Europarat

New York Review of Books (USA), 27.05.2010

Daniel Wilkinson und Nik Steinberg von Human Rights Watch skizzieren das Kuba-Dilemma: Das Handelsembargo der Vereinigten Staaten hält viele - zum Beispiel Gabriel Garcia Marquez, den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva oder Chiles Präsidentin Michelle Bachelet - davon ab, Castro wegen seiner Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen. Und Menschenrechtsverletzungen gibt es auf Kuba viele, wie die beiden sehr eindrücklich beschreiben. Ihr Vorschlag: "Präsident Obama sollte Verbündete in Europa und Lateinamerika suchen und vorschlagen, das Embargo aufzuheben, wenn gleichzeitig eine Koalition Druck auf Kuba ausübt, eine einzige konkrete Forderung zu erfüllen: die Freilassung aller politischen Gefangenen. Einige Regierungen, vor allem in Lateinamerika, werden diesen Vorschlag sicherlich ablehnen. Aber für viele andere wird die Aussicht auf ein Ende des Embargos das Haupthindernis abbauen, das sie so lange davon abgehalten hat, die Misshandlungen der kubanischen Regierung öffentlich zu verurteilen. Und die Konzentrierung des multilateralen Effekts ausschließlich auf die politischen Gefangenen wird es für die Staatsmänner, die behaupten, sie respektierten die Menschenrechte, sehr schwer machen, weiterhin zu schweigen."

Außerdem: Ian Buruma bespricht William T. Vollmanns "Kissing the Mask: Beauty, Understatement and Femininity in Japanese Noh Theater, with Some Thoughts on Muses (Especially Helga Testorf), Transgender Women, Kabuki Goddesses, Porn Queens, Poets, Housewives, Makeup Artists, Geishas, Valkyries and Venus Figurines" - hart zu schlucken, wenn Vollmann nicht so einen "warmblütigen Romantizismus" pflegen würde. Richard C. Lewontin nimmt "What Darwin Got Wrong" von Jerry Fodor und Massimo Piattelli-Palmarini auseinander. Orville Schell liest mehrere Bücher über den Klimawandel und das Schmelzen der Gletscher. Und Marc Lilla sieht hinter der Tea-Party-Bewegung einen neuen politischen Typus aufschimmern: "den antipolitischen Jakobiner", der den Institutionen misstraut und ein enormes Selbstbewusstsein hat, alles aus eigener Kraft zu schaffen.

Times Literary Supplement (UK), 07.05.2010

Der Schriftsteller Julian Barnes macht einem sofort Lust, das Tagebuch von Eugene Delacroix zu lesen: "Delacroix war 24 Jahre alt, als er am 3. September 1822 begann, sein Tagebuch zu schreiben. Es beginnt mit einer einfachen Erklärung und einem verführerischen Versprechen: 'Ich führe meinen so oft angekündigten Plan aus, ein Tagebuch zu führen. Was ich mir am meisten wünsche ist, nicht zu vergessen, dass ich es für mich allein schreibe. Darum werde ich immer die Wahrheit sagen, hoffe ich, und mich so verbessern. Diese Seiten sollen mich zurechtweisen, wenn ich meine Ansichten ändere. Ich mache mich frohgemut ans Werk.' Man versteht sofort, warum manche Menschen glauben, alle Tagebücher seien geschrieben worden, damit andere sie lesen. Trotz der Behauptung im zweiten Satz lädt uns dieser Absatz ein mitzulesen. Wenn dies ein Roman wäre, hingen wir bereits am erzählerischen Haken: Wir wollen und müssen wissen, ob der Tagebuchschreiber wirklich die Wahrheit erzählt, ob er sich verbessert, ob er seine Ansichten ändert und ob sein anfänglicher Frohsinn schwindet oder nicht."

Außerdem: Kate Webb bespricht Helen Simpsons Erzählband "In-Flight Entertainment" und Daniel Karlin bespricht zwei Bücher über Lewis Carroll - eins davon sammelt französische Stimmen zu Carroll.

Caffe Europa (Italien), 07.05.2010

Italien, das Land der Verschwörungen. Als finstere Strippenzieher eignen sich wahlweise Silvio Berlusconi, die Mafia oder der Vatikan. Beim verspäteten Start von Alejandro Amenabars Film "Agora" verdächtigten einige letzteren. Der Fim über die von fundamentalistischen Christen im 5. Jahrhundert ermordete Naturwissenschaftlerin und Philosophin Hypatia lief hierzulande am 1. März an. Nach Italien konnte er nicht verkauft werden, woraufhin im Internet 10.000 Menschen mit einer Petition den unverzüglichen Start forderten. Emanuele Rauco berichtet: "Am 7. Oktober gab es in La Stampa einen Artikel von einer gewissen Flavia Amabile mit dem Titel 'Der Film, den Italien nicht sehen wird', in dem sie die Schlacht um die Veröffentlichung des Films nachzeichnet. Eine zentrale Rolle spielt Jan Klaus Di Blasio, der Autor der Online-Petition. 'Ich will nicht von Zensur sprechen, aber man sollte sich den Mangel an Texten über den Neoplatonismus und Hypatia einmal vor Augen halten. Zum Beispiel die Folge 8 der Reihe über die römische und griechische Philosophie von Giovanni Reale bei Bompiani. Der Band mit dem Titel 'Plotin und der heidnische Neoplatonismus' ist der einzige Band, der nicht mehr erhältlich ist, wie die Di Blasio erklärt. Hinter ihm stehen einige wichtige Persönlichkeiten wie Piergiorgio Odifreddi, ein Wissenschaftler, der für seine antiklerikalen Tendenzen bekannt ist. Er meint: 'Die Figur der Hypatia ist exemplarisch, sie war Mathematikerin, eine Frau von großer Kultiviertheit, die die erste Schlacht zwischen Wissenschaft und Glauben austrug. Sie starb durch die Hände der Schergen des Bischofs von Alexandria, Kyrill, und wurde die erste Märtyrerin der Wissenschaft. Seitdem sind 1600 Jahre vergangen, und wir sind immer noch am gleichen Punkt.'" Mittlerweile ist "Agora" übrigens auch in Italien angelaufen, und Band 8 wird nach Informationen von Umberto Eco demnächst nachgedruckt.
Archiv: Caffe Europa

Standpoint (UK), 01.05.2010

Peter Whittle macht sich Sorgen über die Schwulenfeindlichkeit vieler muslimischer Immigranten in Europa. Bruce Bawer, ein in Oslo lebender schwuler Amerikaner und Autor des Buchs "While Europe slept", "fürchtet, dass im Alltag die Situation für schwule Männer in Städten wie Oslo und Amsterdam immer schwieriger wird. In Oslo steigen die Angriffe von Muslimen auf Schwule. Und statt zuzugeben, dass es ein Problem gibt, erklären prominente Muslime, dass in 'ihrer' Gemeinde muslimische kulturelle Werte gelten sollten. Das heißt, Schwule, die ihr Territorium betreten, sollten nicht Händchen halten. Bei einem Vorfall wurde ein schwules Paar, das sich vor einem Kebabladen küsste, von anderen Kunden die Straße runtergejagt. Später sagte einer der beiden zu einem Reporter: 'Es war vielleicht dumm von uns, das zu tun. Ich provoziere nicht gern Leute.' Bawer meint dazu: 'Das ist die herrschende Mentalität. Schwule geben sich selbst dafür die Schuld, andere 'provoziert' zu haben, sie zusammenzuschlagen.'"
Archiv: Standpoint
Stichwörter: Schwulenfeindlichkeit, Oslo

Odra (Polen), 01.04.2010

"Warum ist Bogdan Wojdowski vergessen?", fragt Konrad Oprzedek. Er erinnert an den Schriftsteller (hier ein kurzes Porträt auf Englisch), der als Holocaustüberlebender "in einen Abgrund von Fremdheit, Einsamkeit und Schweigen fiel. Er schaffte es jedoch, dieses Schweigen zu durchbrechen, indem er die individuelle Erfahrung der Vernichtung in Textform brachte. Wenn wir seine Prosa lesen, tauchen wir ein in das Wesen des größten zivilisatorischen Traumas - wir entdecken den Holocaust nicht als historisches Ereignis, sondern als universelle Erfahrung." Wojdowskis ganzes Schaffen sei der Versuch gewesen, eine Erzählweise für das Unbeschreibbare zu finden, so Oprzedek. Für die Erinnerung reicht Geschichte allein nicht aus, "wir brauchen Literatur, die uns hilft, uns der Zeit zu widersetzen, also Menschen in der Vergangenheit zu begegnen. Dabei hilft uns Wojdowski, der selbst kaum noch in Erinnerung ist."

Online lesen darf man die Rezension einer Anthologie zum deutschen Sonderweg, bzw. den deutschen Debatten darüber, die der polnische Germanist Hubert Orlowski kürzlich herausgab. Nach seiner Lesart handelt es sich dabei um keine Diskussion für oder gegen etwas, sondern um ein verinnerlichtes Identitätsdilemma, so die Rezensentin.
Archiv: Odra

American Interest (USA), 01.07.2010

American Interest hat einige amerikanische Intellektuelle angesichts der Krise in Europa zu Prognosen über die EU und die europäische Idee aufgefordert. Die Ergebnisse fallen nicht immer berauschend aus, auch nicht bei Walter Laqueur, der die auf dem Lissabonner Gipfel von 2000 formulierte rein ökonomische Verheißung für Europa kritisiert. Denn trotz des Wohlstands sieht Laqueur Europa als einen "Fall von subakuter Abulie - das ist ein zuerst im 19. Jahrhundert gebrauchter psychologischer Begriff für Willenlosigkeit. Bisher hat noch niemand, weder auf individueller, noch auf gesellschaftlicher Ebene eine zufriedenstellende Erklärung für diesen Zustand gefunden... Er scheint weniger mit Wirtschaft und mehr mit Glauben zu tun zu haben, einem Glauben an Werte.... Man fühlt sich nicht mehr als Teil einer Mission auf der Suche nach einer besseren Welt. Was einer gemeinsamen noblen Sache noch am nächsten kommt, ist ein kraftloser Umweltschutzgedanke als kleinster gemeinsamer Nenner. Aber das Gebot, grünes von braunem Glas zu trennen, erzeugt an sich wenig gemeinsame Emphase."

Magyar Narancs (Ungarn), 29.04.2010

Der Philosoph Miklos Tamas Gaspar, einst Mitbegründer der liberalen Partei SZDSZ, ist heute Sympathisant der Ultra-Linken und der Globalisierungsgegner. Ferenc M. Laszlo fragt ihn, warum die systemfeindlichen Kräfte in Ungarn im Wesentlichen von rechts kommen. Darauf antwortet Gaspar: "Der Hass gegenüber dem Liberalismus - der sich zumindest verbal von Zeit zu Zeit für die Minderheiten und für die Schwachen einsetzte - hat seinen Ursprung vor allem in der Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg und nimmt in Westeuropa einwandererfeindliche, hierzulande hingegen romafeindliche Formen an. Die Rebellion gegen das System ist nicht emanzipatorisch, sondern regressiv, und die Wut richtet sich nicht nach oben, sondern nach unten, gegen die Parias der Gesellschaft. Gleichzeitig werden die Ideen und Bestrebungen, die auf den Schutz der Schwächeren abzielen, ausschließlich mit dem Liberalismus identifiziert - mit jenem Liberalismus, der dieses System erschaffen hatte. Die Anführer der Rechtsextremen sind wiederum intelligent genug, um die ultralinken Bewegungen und Gemeinschaften damit zu kompromittieren."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Liberalismus, Mittelschicht

Point (Frankreich), 06.05.2010

In seinen Bloc-notes erklärt Bernard-Henri Levy, weshalb er den "Appell an die Vernunft" von JCall unterstützt, dem europäischen Ableger der jüdisch-amerikanischen Lobbygruppe JStreet, die sich im Gegensatz zu anderen mächtigen Gruppierungen strikt für eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten und einen sofortigen Stopp des israelischen Siedlungsbaus aussprechen. Auch wenn Levy glaubt, dass der Appell bei denen, an die er gerichtet ist, wohl nur ein "schwaches Echo" auslösen wird. "Die Fascho-Islamisten der Hisbollah und ich sprechen, gelinde gesagt, nicht dieselbe Sprache; die Chance, dass ein Appell an die Vernunft die Mauer ihres gnadenlosen Hasses überwindet, geht, das weiß ich, gegen Null; mit einem israelischen Parteigänger über die Weiterverfolgung des Siedlungsbaus zu diskutieren oder auch mit einem Religiösen, der entschlossen ist, in der Jerusalem-Frage nicht nachzugeben, erscheint mir dagegen im Bereich des Möglichen und deshalb in dieser Lage im Bereich des absolut Notwendigen."
Archiv: Point

Wired (USA), 07.05.2010

"Facebook ist zum Schurken geworden", schreibt Ryan Singel in einem Aufsehen erregenden Artikel über das heftig expandierende soziale Netzwerk, das in seinen Standardeinstellungen nach und nach immer mehr private Daten seiner Nutzer freigibt und ausbeutet. Es wäre technisch sehr leicht möglich, so Singel, den Nutzern transparente Auswahlmöglichkeiten über das persönlich gewünschte Ausmaß an Öffentlichkeit zu geben: "Facebook könnte mit einer sehr einfachen Optionenseite starten. Ich bin eine Privatperson. Ich möchte gewisse Dinge teilen. Ich möchte mein Leben öffentlich leben. Je nach Präferenz könnte dann eine Menge an Auswahlmöglichkeiten geboten werden, und jeder hätte die Möglichkeit, später in seine Optionentafel zurückzugehen, um seine Entscheidungen zu revidieren. Dies wäre ein Design, das die Nutzer respektiert. Aber Facebook geht es nicht um Respekt. Es will die Begriffe der Welt von Privatheit und Öffentlichkeit neu definieren." Singels Schluss: ein Aufruf an Programmier - "It's Time for an Open Alternative".
Archiv: Wired
Stichwörter: Soziale Netzwerke

Salon.eu.sk (Slowakei), 05.05.2010

Wie will Victor Orban, der selbst vollkommen unberechenbar ist, die Ungarn regieren, fragt sich der slowakische Journalist Martin M. Simecka. "Eine breit angelegte internationale Erhebung über geteilte Werte hat enthüllt, dass die Ungarn (neben Russland, Moldavien und der Ukraine) zu den geschlossensten Gesellschaften überhaupt gehören. Ihre Sehnsucht nach bürgerlichen und politischen Rechten ist deutlich geringer als die der Tschechen, Slowaken oder Polen, und von allen europäischen Nationen misstrauen die Ungarn ihren Institutionen oder anderen Menschen am meisten. Auf der anderen Seite liegen sie nach den Griechen an zweiter Stelle mit ihrer Sehnsucht nach sozialer Gleichheit. Für den Soziologen György Istvan Toth ist dieses trostlose Ergebnis verursacht von der Geschichte eines Landes, in dem 'die Entwicklung der Mittelklasse immer wieder unterbrochen wurde'. ... Wie soll Victor Orban eine Gesellschaft regieren, die auf der einen Seite vom Staat erwartet, dass er für sie sorgt, und auf der anderen Seite zutiefst misstrauisch ist gegenüber der Macht?"
Archiv: Salon.eu.sk
Stichwörter: Orban, Viktor, Mittelklasse

New Yorker (USA), 17.05.2010

Julia Joffe porträtiert Andrei Ternowski, einen 17-jährigen Gymnasiasten aus Moskau, der im November 2009 das nach wenigen Monaten enorm populäre Internet-Videochat-Portal Chatroulette einrichtete, dessen Besucher nach dem Zufallsprinzip mit anderen Besuchern verbunden werden. "Wie viele junge Russen mit Programmierkenntnissen, wandte sich Ternowski zunächst dem Hacken zu. Mit elf Jahren stieß er auf das von einem jungen Mann namens Sergei (a.k.a. Terminator) geleitete Hackerforum zloy.org (übersetzt etwa wütend.org), der seine Anhänger im Cyberkrieg ausbildete. Unter dem Decknamen Flashboy beherrschte Ternowski bald die Kunst der 'denial of service'-Attacke, bei der ein angepeilter Server lahmgelegt wird, indem man ihn mit Millionen von Anfragen bombardiert. Als nächstes war das Hacken von Websites und E-mails dran, ein Service, den er gern für Mädchen leistete, die nett fragten. 2007, im Alter von fünfzehn, lernte Ternowksi das, was Hacker 'social engineering' nennen - man bekommt, was man will, mittels List oder Manipulation. Indem er sich als Lehrer ausgab, erhielt Ternowski Zugang zu einigen Übungsprüfungen, bevor sie an seine Schule übermittelt wurden."

Weiteres: Claudia Roth Pierpont ist begeistert von Harvey G. Cohens Duke-Ellington-Biografie (hier spielt Ellington "Take the A Train"). Peter Schjeldahl besichtigt die neue, höchst repräsentative Zentrale der Investmentbank Goldman Sachs. Sasha Frere-Jones hörte das "Midlife"-Album "Love and Its Opposite" der britischen Sängerin und Songwriterin Tracey Thorn. Und David Denby sah im Kino "The Oath", Laura Poitras' Filmporträt des ehemaligen Leibwächters von Osama Bin Laden, und Thomas Balmes Dokumentation "Babies" über das erste Lebensjahr von vier Babies in Namibia, San Francisco, Tokio und in der Mongolei. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Free Fruit for Young Widows" von Nathan Englander und Lyrik von Susan Wheeler, Kathleen Graber und Sophie Cabot Black.
Archiv: New Yorker

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.05.2010

Die Blätter für deutsche und internationale Politik bringen ein aktuelles Dossier zum Thema Reformpädagogik. Abgedruckt ist eine Rede Hartmut von Hentigs von Anfang des Jahres, also von vor dem Sturm, die von der SZ noch als "reinigende pädagogische Messe" begrüßt wurde. Die Passage über den "pädagogischen Eros" klingt nach den letzten Wochen ein wenig klebrig. Hentig spricht von "diesem Mögen", das die Lehrer für ihre Schüler aufbringen sollten: "Es muss eine Freude an ihrer Lebhaftigkeit und zunehmenden Freiheit, Neugier auf ihren Wandel, Wohlgefallen an ihrer Wohlgestalt einschließen - und von daher eine Bereitschaft, mit ihnen zu teilen, zu rechten, zu leiden, zu fantasieren, die Zeit zu vergessen, längst Bekanntes neu zu entdecken. Eine solche - nun wage ich das Wort - Liebe zu Kindern erleichtert dem Erzieher seine Aufgabe nicht nur, sie fordert Opfer von ihm, die nur dann taugen, wenn er sie gern bringt."

Micha Brumlik findet sehr kritische Worte für diese Passage macht dann auf drei reformpädagische Strömungen jenseits des Männerbündischen aufmerksam, die sozialistische Reformpädagogik, die von SPD-nahen Kreisen Anfang des Jahrhunderts entwickelt wurde, zionistische Modelle und amerikanisch-pragmatische. "Ihre größte Gemeinsamkeit fand diese internationale Bewegung darin, über den klassischen, paukenden Schulunterricht hinauszugehen. Gleichwohl gilt, dass all diese Strömungen, Ideologien, aber auch Werkstätten miteinander kommunizierten, in den Jahren vor 1939 vor allem im 'Weltbund für Erneuerung der Erziehung'. Der Zweite Weltkrieg ließ dann allerdings die bestehenden Gemeinsamkeiten kaum bestehen und stattdessen die weltanschaulichen Unterschiede der verschiedenen Programme umso mehr hervortreten."

New York Times (USA), 09.05.2010

Brook Larmer schickt eine Reportage aus Sichuan, wo im Mai 2008 87.000 Menschen bei einem Erdbeben starben. Die Regierung lässt sich einiges einfallen, um die Sache in den Griff zu bekommen: Aus dem Erdbebengebiet wird ein Touristenziel und staatliche Agenturen bringen Witwer und Witwen zusammen, auf dass sie sich neu verheiraten. "Indem sie 'Erdbebenhochzeiten' unter Chinas fünf-Sterne-Banner abhält, verwandelte die Regierung den Akt, vorwärts zu schauen und sich neu zu verheiraten, in eine patriotische Pflicht. Wiederverheiratung kann handfeste Vorteile bringen, nicht nur für die Individuen, sondern auch für den Staat. Im armen ländlichen Sichuan hat eine Familie mit zwei Erwachsenen größere Chancen, ohne staatlich Hilfe zu überleben, als ein einzelner Mann oder eine Frau mit Kind. Die Last des Wiederaufbaus wird von zwei Häusern auf eins reduziert. Das Vorwärtsgehen, auf das die Regierung solchen Nachdruck legt, ist auch eine Art des Vergessens. Um Kritik am Zusammensturz tausender instabil gebauter Schulen abzuschwächen, in denen über 5.300 Schüler starben, zahlte die Regierung Eltern, die Kinder verloren hatten, nur eine Entschädigung, wenn diese eine Klausel unterschrieben, wonach sie 'dem Gesetz gehorchen und Ruhe bewahren' müssten - eine indirekte Drohung, die Angelegenheit nie wieder zu erwähnen."

In der Sunday Book Review bespricht Harold Bloom ein Buch von Anthony Julius über die Geschichte des Antisemitismus in England - Bloom ist besonders unglücklich über Shakespeares Zeichnung des Shylock: "Keine Darstellung eines Juden in der Literatur wird Shylock jemals an Macht, negativer Eloquenz und Überzeugungskraft übertreffen." Auch wenn ein Martin Heidegger ein Nazi war, sollte man seine Bücher wirklich aus den Philosophieregalen entfernen und ins Propagandaregal neben Alfred Rosenberg stellen, wie Emmanuel Faye in seinem Buch über Heidegger vorschlägt? Das scheint dem Rezensenten Adam Kirsch etwas zu weit zu gehen, mit Daniel Maier-Katkins Buch über die Freundschaft zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger kann er sich aber auch nicht anfreunden - zu apologetisch. Und auch Francis Fukuyama hat die Biografie eines Mannes gelesen, der politisch unmöglich ist und doch endlos faszinierend: Julian Youngs Nietzsche-Biografie.
Archiv: New York Times