Magazinrundschau

Trotzdem - was für ein Hund!

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
22.06.2010. Walrus stellt Flaneure in Johannesburg vor. In Telerama erklärt Olivier Bomsel: das Digitale ist eine Schrift. Die LRB ist pikiert, dass Christopher Hitchens so viel Spaß hat. In Osteuropa weben ungarische Intellektuelle am großen, tödlichen Nichts. Der New Statesman liest Wassili Grossmans Roman "Alles fließt". Al Ahram warnt die europäischen Muslime vor dem Salafismus. Salon fragt, warum Adrian Lamo den mutmaßlichen Whistleblower Bradley Manning verpfiffen hat und welche Rolle Wireds Kevin Poulsen dabei spielt.

Walrus Magazine (Kanada), 01.09.2010

Richard Podlak stellt drei südafrikanische Autoren vor, die auf ganz neue Art das heutige Johannesburg beschreiben: der 2004 gestorbene Phaswane Mpe mit seinem Roman "Welcome to Our Hillbrow", Kevin Bloom mit seinem Johannisburg-Buch "Ways of Staying" und Ivan Vladislavic in seinem Essayband "Portrait with Keys" (Johannesburg, Insel aus Zufall). Alle drei schreiben aus der Perspektive des Flaneurs - wie es schon Herman Charles Bosman und Lionel Abrahams taten: "Sie waren alle Flaneure (und das obwohl Abrahams an den Rollstuhl gefesselt war), beschäftigt mit dem, was der Philosoph Michel de Certeau 'das lange Gedicht des Gehens' nannte, die Kunst, eine Stadtlandschaft zu vermessen, wie Baudelaire es ursprünglich beschrieb. Doch Bosman - verurteilter Mörder, Frauenheld und harter Trinker - war nicht der vornehme Flaneur Baudelaires. Seine Detektiv-Reportagen aus den dreißiger und vierziger Jahren fügen sich zu einer langen Elegie für eine Minenstadt, die wild entschlossen ist, die ersten fünfzig Jahre ihrer Geschichte auszulöschen. Bosman bekämpfte diesen kollektiven Impuls; er begriff, noch vor der Einführung der Apartheidsgesetze 1948, dass das Vergessen ein Akt des Bösen war."

Weitere Artikel: Der Kanadier John Schram, der in den Sechzigern in Ghana studiert hatte und später im auswärtigen Dienst viel in Afrika war, beschreibt Ghanas erfolgreichen Übergang von der Diktatur in eine Demokratie, an dem einige seiner damaligen Kumpels nicht unbeteiligt waren. Andre Alexis beklagt den Niedergang der Literaturkritik in Kanada: "Besprechungen haben sich in eine Unterart der Autobiografie verwandelt, das besprochene Buch ist nur noch der Anlass für persönliche Enthüllungen. Wenn ich einen kanadischen Autor für diesen Zustand verantwortlich mache, dann ist das der Romancier und Kritiker John Metcalf" und der britische Kritiker James Wood, der allerdings Anzeichen zur Besserung zeige.
Archiv: Walrus Magazine

Telerama (Frankreich), 17.06.2010

Emmanuel Tellier unterhält sich mit dem Wirtschaftswissenschaftler und Medientheoretiker Olivier Bomsel, der an einer der berühmten großen Schulen in Paris lehrt und Begriffe für den Medienwandel sucht: "Ich mag das Wort Revolution nicht, aber Bruch, ja, das scheint mir zutreffend. Das Internet ist ein Bruch, die Vorstellungen der Zeit davor sind nicht mehr gültig. Die Frage, die mich umtreibt, ist: Was ist das Digitale? Nach einer Diskussion mit dem Altorientalisten Jean-Jacques Glassner bin ich zu der These gelangt, dass das Digitale eine Schrift ist. Hieraus lassen sich viele Folgerungen ziehen. Auf ein Mal kommt man zu der extravaganten Idee, dass Schrift nicht über das Wort laufen muss, die Idee, dass die Einsen und Nullen eine universale Sprache darstellen... Zum ersten Mal seit 3000 Jahren erfinden wir einen neuen Standard weltweiter Kommunikation. Das ist nicht nichts!"
Archiv: Telerama
Stichwörter: Medienwandel

London Review of Books (UK), 24.06.2010

David Runciman liest Christopher Hitchens' Autobiografie "Hitch-22" (Verlagsseite), die er in weiten Teilen eher langweilig findet. Zur Analyse des Phänomens Hitchens kommt sie ihm jedoch gerade recht. So versucht Runciman einerseits nachzuweisen, dass Hitchens ziemlich genau dem entspricht, was Carl Schmitt einen "politischen Romantiker" genannt hat (also einem Menschen, der nicht genuin politisch denkt, sondern nur politische Gesten vollzieht). Andererseits zeigt er sich durchaus beeindruckt. Drittens dann auch wieder nicht so sehr: "Das klingt schon so, als wäre es ein Riesenspaß gewesen. Sein Leben war beneidenswert: nicht nur der Schnaps und der Sex und das Reisen und die Kameradschaft und der mittlere Ruhm (ganz sicher die beste Art), sondern auch die endlosen Aufregungen und Kontroversen, das Schlachtenschlagen und die Zerwürfnisse und das Zürnen und das Begleichen von Rechnungen, die Talkshow-Siege, das demonstrative Verlassen diverser Partys und der Spontan-Radau. Christopher Hitchens hatte ohne Frage großes Vergnügen daran, Christopher Hitchens zu sein. Aber - und ich will jetzt nicht zu mürrisch klingen - sollte irgendjemands Leben ein solches Vergnügen sein, ganz besonders dann, wenn es in irgendeiner Form ein politisches Leben sein will?"

Weitere Artikel: "Durchaus fair" kommt Bernard Porter das Buch "Die stille Allianz" (Verlagsseite) von Sasha Polakow-Suransky vor, in dem der Autor eine langjährige Nähe Israels zum Apartheid-Südafrika beschreibt. Ob sie so weit reichte, dass Israel Südafrika sogar Atomwaffen zu verschaffen versprach - wie der Autor des Buches behauptet -, lässt sich, so Porter, wohl nicht mehr abschließend klären. Terry Eagleton bespricht Craig Raines Roman "Heartbreak", Jeremy Harding hat ein Buch übers das Essen in der Literatur der Renaissance von Rabelais bis Shakespeare gelesen und Michael Wood hat Werner Herzogs jetzt erst in die britischen Kinos gelangten "Bad Lieutenant"-Film gesehen.

Osteuropa (Deutschland), 18.06.2010

In einem Interview mit Osteuropa spricht der Übersetzer (u.a. von Kertesz, Bartis, Örkeny und Darvasi) und Regisseur Laszlo Kornitzer über Ungarns Rechte und die träge politische Kultur, in der sie gedeihen konnte: "Einige Schriftsteller setzen sich zur Wehr, nicht zuletzt die fortwährend angefeindeten. Es gibt aber auch noch andere hochbegabte Leute, Künstler, Wissenschaftler, Handwerker, Theaterleute. Warum sie keine Front gegen rechts bilden, ist mir ein Rätsel. Die massive Resistenz gegen die Notwendigkeit aufzuklären, erscheint mir irgendwie uneuropäisch, weit entfernt von demokratischen Strukturen... Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Schriftstellern, Journalisten und anderen Nihilisten, die von vornherein mit den Rechten am gleichen Strang ziehen und mit am großen, tödlichen Nichts weben. Rechte Medien und Internetforen beherrschen weitgehend die öffentliche Meinung. Zu ihren offen erklärten Feinden zählen neben Zigeunern, Juden sowie Linken auch Intellektuelle, und sie tragen erheblich dazu bei, dass Esterhazy, Nadas, Konrad, Lajos Parti Nagy, Laszlo F. Földenyi und etliche andere vom ungarischen Normalverbraucher gehasst werden; ob für ihr Weltbürgertum oder ihre Brillanz als Intellektuelle und Schriftsteller weiß ich nicht."
Archiv: Osteuropa

The Nation (USA), 05.07.2010

Für absolut kontraproduktiv hält Bernard Avishai Sanktionen gegen israelische Universitäten. Israel ist nicht Südafrika, und Sanktionen seien so sinnlos wie die Blockade des Gaza-Streifens, um die Hamas kleinzukriegen. "Sie sagen, sie wollen die israelischen Eliten dazu zu bringen, die Besatzung zu beenden. Aber nehmen wir die Berkeley Initiative, die sich dem Boykott israelischer Universitäten durch Englands Akademiker-Gewerkschaft angeschlossen hat. Wie will man etwas erreichen, wenn man die progressivsten Kräfte in Israel von globalen Unternehmungen und akademischen Veranstaltungen abschneidet? Selbst generelle Handelssanktionen, wie etwa Israel aus der OECD zu halten, würde hauptsächlich Israels geschätzte 25 Milliarden Hightech-Exporte benachteiligen, keine ausbeuterische, postkoloniale Industrie wie in Südafrika. Umfragen zeigen, dass ungefähr 40 Prozent der israelischen Juden feste säkulare und weltläufige, wenn nicht liberale Einstellungen haben. Wer hätte etwas von einem wirtschaftlichen Niedergang und der unvermeidbaren Konsequenz, dass die am besten ausgebildeten Israelis in die, nun ja, Bay Area fliehen? Würden nicht die Rechten, auch um die 40 Prozent, äußerst zufrieden sein, wenn Israel ein kleines jüdisches Pakistan würde?"

Nur im Print: Ein Briefwechsel der Historiker Jonathan Israel und Samuel Moyn, der sich vermutlich auf Moyns Besprechung von Israels Buch "A revolution of the mind" bezieht.
Archiv: The Nation

Elet es Irodalom (Ungarn), 18.06.2010

Vor gut einer Woche haben zwei Abgeordnete der Regierungsfraktion im Budapester Parlament überraschend eine Gesetzesvorlage zur Änderung des Mediengesetzes eingebracht, die heftig debattiert wird. Denn dieses neue Gesetz soll nicht nur die Ernennungspraxis in den Rundfunkräten zugunsten regierungskonformer Leute ändern und ihre Amtszeit auf neun Jahre verlängern - die Gesetzesvorlage sieht auch eine "Informationspflicht" vor, in deren Rahmen unter anderem eine "Berichterstattungs-Relevanz" verlangt wird. Dies ist ein Eingriff in die Autonomie der Redaktionen und öffnet der Zensur Tür und Tore, meint der Medienwissenschaftler Peter Bajomi-Lazar: Das neue Gesetz würde "die Kritik an den Machthabern einschränken wie auch das Prinzip, dass der Gründer einer Zeitung (oder eines Nachrichtenportals) über das Ziel und die Art seines Blattes selbst bestimmen kann. Damit könnte eine widerspruchsvolle, aber die freie Meinungsäußerung mehr oder weniger verlässlich gewährleistende Epoche zu Ende gehen. [...] Ganz zu schweigen davon, dass die Beschneidung der Pressefreiheit mit politischen Mitteln ein zweischneidiges Schwert ist, das leicht gegen die jetzigen Machthaber gerichtet werden kann - sollten sie sich einst in der Opposition wiederfinden. Die Gesetzesvorlage will die freie Meinungsäußerung aufgrund der durch die Medien verursachten vermeintlichen Kränkungen reglementieren. Dabei bedeutet die freie Meinungsäußerung gerade, dass man auch das sagen darf, was anderen nicht gefällt."

New Statesman (UK), 18.06.2010

Leo Robson rühmt Wassili Grossmans ins Englische und Deutsche neu übersetzten Roman "Alles fließt". Grossman spannt darin den Bogen von der Russischen Revolution bis zu Stalins Tod und versucht, die gusseiserne Logik hinter dem großen Terror zu ergründen: "Grossman wollte den Sinn in Stalins Russland erkennen, und dies beinhaltete auch, sich diejenigen zu erklären, die mit dem Staat kollaboriert haben - die ihre Freunde und Nachbarn als Parasiten, Kosmopoliten, jüdisch-bourgeoise Nationalisten, Diener des Westens denunzierten. Grossman zeigt einen Schauprozess, mit einem Ankläger, der Informanten befragt. 'Denken wir nach, empfiehlt er, 'bevor wir das Urteil verkünden'. Nachdem er die Umstände erklärt, aber nicht wegerklärt hat, die einen Menschen dazu bringen zu denunzieren, ruft er: 'Trotzdem - was für ein Hund!' Und als sein moralischer Zorn ein wenig zu weichen beginnt, schließt er, dass eine bestialische Atmosphäre aus Menschen Bestien macht. Die russische Geschichte ist die Beklagte, aber dies ist kein Freispruch für den Einzelnen in Russland."

In einem kurzen Interview spricht zudem Grossmans Tochter Jekaterina Korotkowa-Grossman (mehr hier) über das Buch, dessen Kapitel über den "Hunger-Terror" sie für das stärkste im Werk ihres Vaters überhaupt hält: "Aber dies war kein von den Russen an den Ukrainern ausgeübter Genozid. Es war ein Angriff gegen die gesamte bäuerliche Bevölkerung der Sowjetunion", meint sie. "Die fruchtbaren Gegenden an Don und Kuban litten genauso schwer wie die Ukraine." Und in einem Interview über die Finanzkrise, Cameron und wer schuld ist an der Finanzkrise platzt der Epistomologe und schwarze Schwan Nassim Nicholas Taleb praktisch vor Selbstbewusstsein: "Viele, aber die größte Schuld gebe ich Ben Bernanke. Er hat die Große Depression studiert, er sollte es besser wissen. Alan Greenspan ist ungelernt. Die Ungelernten nimmt man nicht ernst."
Archiv: New Statesman

Al Ahram Weekly (Ägypten), 17.06.2010

Das geplante Verbot des Niqab in Frankreich ist intolerant, bigott und "ein moralischer Skandal ebenso wie eine Beleidigung westlicher Traditionen", schreibt Khalil El-Anani. Dies gesagt, findet er aber auch die Haltung vieler europäischer Muslime kontraproduktiv: "Einige Mitglieder der islamischen Community, vor allem solche arabischen Ursprungs, benehmen sich in westlichen Gesellschaften, als wären sie immer noch in Peschawar oder Islamabad. (...) Die Schizophrenie europäischer Muslime wird befeuert durch eine falsch verstandene Loyalität mit dem Salafismus oder anderen fundamentalistischen Trends. Wie viele wissen, lehnt die salafische Bewegung Integration ab und will keine konstruktive Koexistenz. Der Salafismus fördert die gegenwärtige Islamophobie und zieht gleichzeitig Nutzen aus ihr."

Außerdem: Nader Habib stellt den arabischen Linguisten Gamal Hammad vor, der erzählerische Strukturen in arabischen Texten entdeckt, die sonst eher für ihre Poesie gerühmt werden. Und Ati Metwaly hört und sieht eine gelungene Aufführung von Donizettis "Liebestrank".
Archiv: Al Ahram Weekly

Salon.com (USA), 18.06.2010

In einem mit weiterführenden Links gespickten Artikel beschreibt Glenn Greenwald die seltsame Beziehung zwischen Adrian Lamo, der den mutmaßlichen Whistleblower Bradley Manning anzeigte, und Kevin Poulsen, der darüber in Wired berichtete. Manning hatte in einem AOL-Chatroom behauptet, er habe das Material über das Apache-Video an Wikileaks weitergereicht. Manning wurde vor zweieinhalb Wochen verhaftet. Insgesamt, so Greenwald, passt diese Verhaftung gut in die Strategie der Regierung, Wikileaks zu diskreditieren. Bei Zeitungen ist das nicht nötig, die sind viel kooperativer: "Was WikiLeaks für die mächtigsten Interessengruppen so bedrohlich macht, ist, dass sie es nicht kontrollieren können. Selbst wenn Whistleblower in der Vergangenheit einem wirklich guten Journalisten bei einer der großen Zeitungen Informationen über Korruption oder kriminelles Verhalten weitergeleitet hat, konnten Regierungsvertreter kontrollieren, wie diese Informationen veröffentlicht wurden. Als die NYT 2004 erfuhr, dass die Bush-Regierung illegal Amerikaner abhörte, bestellte George Bush Herausgeber und Chefredakteur der NYT ins Weiße Haus und verlangte von ihnen, die Geschichte nicht zu publizieren. Die Zeitung blieb ein Jahr darauf sitzen, bis Bush wiedergewählt worden war. Als Dana Priest von der Washington Post erfuhr, dass die CIA ein Netzwerk von Geheimgefängnissen unterhielt, kam sie der Aufforderung von "höheren Regierungsbeamten" nach, nicht die Länder zu nennen, in denen diese Gefängnisse standen, damit die USA diese Länder weiter für derartige Projekte nutzen konnten."

(Siehe zur Verhaftung von Manning auch Jesse Walker in Reason und Xeni Jardin in BoingBoing hier und hier.)
Archiv: Salon.com

Magyar Narancs (Ungarn), 10.06.2010

Seitdem das Gesetz über einen Trianon-Gedenktag verabschiedet wurde, dessen Präambel sich auf "Gott als den Herrn der Geschichte" beruft, ist in Ungarn eine lebhafte Diskussion darüber entbrannt, ob solche Formulierungen nicht eine Indoktrinierung der Gesetze bedeuten. Krisztian B. Simon sprach mit der Philosophin Maria Ludassy und dem Religionsphilosophen Balazs Mezei und fragte sie, ob Gott heutzutage in den Gesetzestexten oder gar im Grundgesetz säkularer Staaten noch etwas zu suchen hat. Maria Ludassy äußert Bedenken: "Seit Jefferson kann das Bekenntnis zu einer Religion (wie auch ihre Verneinung) unsere Bürgerrechte weder bereichern noch schädigen. Wenn sich ein 'Ungläubiger' verstellen muss, als würde er den Glauben an einen zum verfassungstechnischen Requisit degradierten Gott akzeptieren, dann wird er eingeschüchtert, gedemütigt und - wie dies Benjamin Constant in seinem Essay über die Religionsfreiheit so wunderschön beschrieben hat - zur Heuchelei gezwungen. Wenn wir an der Prozession zum 20. August [dem ungarischen Nationalfeiertag] mit denselben Gefühlen teilnehmen, wie einst an den Aufmärschen zum 1. Mai - nämlich aus Angst vor dem Chef, weil dem, der nicht dabei ist, gekündigt wird -, dann wird damit dem Glauben kaum ein Dienst erwiesen. "

Balazs Mezei sieht das anders. Seiner Ansicht nach sichert gerade die Erwähnung Gottes die Neutralität des Staates: "Der Auftritt des westlichen Menschen stellt eine neue Epoche in der Weltgeschichte dar: Alles, was wir sind, vom Fotoapparat über den Computer bis hin zur Wahrnehmung unserer selbst, dass wir fähig sind, uns als westlichen Menschen zu interpretieren, ist das Ergebnis dieser Tradition. Die Erwähnung Gottes ist nicht anderes, als das Bekenntnis zu dieser Tradition. Dies ist keine Rückkehr zu etwas Altem, sondern die Erkenntnis, dass alles, was wir heute sind - die atheistischen Bestrebungen inbegriffen - das Ergebnis dieser Tradition ist. Wenn wir unsere Geschichte, unsere Tradition, die Rechts- oder Verfassungsgeschichte weiterführen wollen, sollten wir dies tun, indem wir die Ganzheit dieser Tradition begreifen und an ihr anknüpfen. [...] Wenn wir in einem neutralen Staat leben wollen, der es jedem seiner Bürger selbst überlässt, ob er an Gott glauben will oder nicht, oder seine sexuelle Identität selbst bestimmen will, dann ist die Bekenntnis zu dieser Tradition unabdingbar."
Archiv: Magyar Narancs

Times Literary Supplement (UK), 18.06.2010

Jeremy Adler stellt ausführlich Rüdiger Safranskis "Goethe und Schiller" und Gustav Seibts "Goethe und Napoleon" vor, die nun auch auf Englisch erschienen sind und seiner Ansicht nach ein faszinierendes Bild von Goethes verbindlicher Persönlichkeit zeichnen: "Ob er mit Schriftstellern, Forschern, Wissenschaftlern oder Männern von Einfluss zu tun hatte, Goethe wusste den größtmöglichen beidseitigen Nutzen zu erzielen. Dass er so oft in der Lage war, eine produktive Beziehung mit den führenden Persönlichkeiten seiner Zeit aufzubauen, besonders mit Schiller, seinem einzigen Konkurrenten als Schriftsteller, und selbst mit dem Kaiser Napoleon, sagt viel über Goethes Kultur, eine Selbstkultur oder Bildung, die er selbst in seinen Schriften verkündete. Erstaunlicherweise suchten sich sowohl Schiller als auch Napoleon Goethe aus, sie hofierten ihn und gewannen ihn mit literaturkritischen Diskursen. Wer heutzutage am Wert der Kritik zweifelt, könnte Schlechteres tun als diese Instanzen zu prüfen."

New York Times (USA), 20.06.2010

Deep Blue mag Garri Kasparow besiegt haben, aber der Schachmeister wusste trotzdem um die Grenzen des Computers. IBMs neuer, Fragen beantwortender Supercomputer heißt Watson, und von ihm erhofft sich die Firma, "dass er den Computer von einer bloßen Rechenmaschine in etwas verwandelt, das die Intelligenz von Menschen erhöhen kann, die Entscheidungen treffen" - in der Medizin zum Beispiel oder - ausgerechnet! - an der Börse. In einem langen Artikel versucht Clive Thompson herauszufinden, wie nah IBM diesem Ziel bereits gekommen ist. Eine Hürde, die der Computer nehmen musste, war der Test seiner Fähigkeiten, auch mit Idiosynkrasien und impliziten Bedeutungen klarzukommen: Er musste in der Quiz-Show "Jeopardy!" antreten. Bei diesem Spiel muss man keine Antworten raten, sondern die Fragen zu den Antworten. Mit hunderten von Algorithmen und Superrechenpower ausgestattet, schlug sich Watson ganz gut. Die Zuschauer entdeckten sogar menschliche Züge: "Viele seiner menschlichen Opponenten fanden den Computer am reizendsten, wenn er klar daneben lag. Wenn er die Hinweise missdeutete, wenn er seltsame Fehler machte, so wie wir, wenn wir im Rampenlicht stehen. Während einer Runde ging es, zufällig, um IBM. Die Frage schien ein Kinderspiel für Watson zu sein... Aber aus welchem Grund auch immer, versagte Watson. Er kam mit falschen Antworten oder solchen, denen er selbst nicht traute. Das Publikum, das zum größten Teil aus IBM-Angestellten bestand, schien völlig in den Bann geschlagen." (Was Joseph Weizenbaum im Himmel vielleicht zum erstenmal provoziert, seine Eliza wie einen Menschen zu behandeln: Guck mal, altes Mädchen, das haben wir doch schon in den Sechzigern hingekriegt.)
Archiv: New York Times