Magazinrundschau

Die Quelle meiner Zungenängstlichkeit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.08.2010. Der New Yorker weiß nach Lektüre der Wikileaks-Dokumente nicht mehr, wer Freund, wer Feind ist. In Ungarn werden nur garnierte Dokumente veröffentlicht, berichtet Elet es Irodalom. In der NYRB beruhigt Malise Ruthven: Dem Islamismus geht es nur um Symbole. In Eurozine fragt sich der britische Künstler Victor Burgin: Wenn schon Bioläden bei Juden kaufen, welche Hoffnung gibt es dann noch für die Kunst? Ein Fest für Systemtheoretiker bietet der Merkur. Open Democracy fragt, wann die Linke rechts wurde. Philosophy Now richtet die Überwachungskamera auf Eva.

New Yorker (USA), 09.08.2010

So so, die von Wikileaks veröffentlichten Afghanistan-Dokumente erzählen nichts Neues? Amy Davidson bittet, noch mal hinzugucken und zum Beispiel zu beachten, in welche Kategorie ein Dokument eingeordnet ist: "Freund" oder "Feind". Wie schwierig die Unterscheidung ist, veranschaulicht dieser Report über einen Vorfall in der Provinz Balkh: "Die Bewohner dieser Gegend hatten 'eine negative Einstellung' gegenüber den afghanischen Sicherheitskräften, bemerkt der Berichterstatter. Ein Bezirkspolizeichef soll erzwungenen sexuellen Kontakt mit einer 16-Jährigen AC [Afghan civilian] gehabt haben. Als die AC sich beim Distriktkommandanten der ANP [Afghan National Police] über den Vorfall beschwerte, befahl der Distriktkommandant seinem Leibwächter, auf die AC zu feuern. Der Leibwächter weigerte sich, woraufhin ihn der Distriktkommandant vor den Augen der AC erschoss. [...] Der Report aus Balkh ist unter 'Feind' sortiert und berichtet auch von Aufständischen, die einen Fahrer getötet haben. Aber die Sortierung dieses und anderer Berichte wirft eine größere Frage auf: Wissen wir, wer in Afghanistan unser Freund und wer unser Feind ist? Al Qaida ist natürlich unser Feind, aber danach wird es verschwommen. Ist ein Polizeichef, der Aufständische verfolgt, aber gleichzeitig mehr von diesen erzeugt, indem er die einheimische Bevölkerung gegen sich aufbringt, unser Feind oder unser Freund? Wenn unsere Soldaten in das Dorf dieses Polizeichefs kommen und feindlich empfangen werden, in wessen Kampf marschieren sie da?"

Außerdem: Alex Ross stellt neue Chopin-Aufnahmen vor, eine Einspielung von Thomas Larchers Klavierkonzert "Böse Zellen" und Aufnahmen von Partiten und Fugen von Bach mit der Geigerin Isabelle Faust, die Ross so gut findet wie die von Gideon Kremer 2005. Jill Lepore erzählt die Geschichte des Detektivs Charlie Chan. Rebecca Mead betrachtet Iggy Pops Torso an- und ausgezogen. Anthony Lane sah im Kino Aaron Schneiders "Get Low" mit Bill Murray, Robert Duvall und Sissy Spacek und Todd Solondz' "Life During Wartime".

Nur im Print: Nicholson Baker untersucht Gewaltvideos.
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.07.2010

Die von Wikileaks veröffentlichten Afghanistan-Dokumente waren zwar keine allzu große Sensation, glaubt der Publizist Janos Szeky. Dennoch war es eine echte Leistung, verglichen mit der in Ungarn gängigen, zumeist auf zentral gesteuerten Veröffentlichungen basierenden Praxis der Enthüllungen vergleicht: "Nach dem in Ungarn üblichen Fahrplan lassen die Quellen - altgediente Leute der Staatssicherheit, die durch die juristische und politische Praxis vollkommen geschützt sind - dem nach ihrem Geschmack geeignetsten Organ Dokumente zukommen, die zuvor für die Veröffentlichung präpariert wurden. Der Empfänger freut sich und lässt alles umgehend und zusammen mit der beigefügten ideologischen Garnierung veröffentlichen." Der Plan der Fidesz-Regierung, "investigative Journalisten und ihre Quellen künftig besser zu schützen, wäre in einem normalen Land absolut in Ordnung - aber Entschuldigung, angesichts der Staatssicherheits-Öffentlichkeit und des ungarischen Classifying-Systems ist er nur ein sehr, sehr böser Scherz."
Stichwörter: Der Plan, Fidesz, Staatssicherheit

New York Review of Books (USA), 19.08.2010

Undifferenziert und unausgewogen findet der Historiker Malise Ruthven (mehr hier) Ayaan Hirsi Alis Buch "Nomad" und Paul Bermans "Flight of the intellectuals" (Auszug), in dem Berman über Tariq Ramadan und die ihm wohlgesonnenn westlichen Intellektuellen recherchiert. Er wirft Berman vor, den Islamismus mit dem Faschismus gleichzusetzen: "Auch wenn die Skandale, die europäische Linke und Konservative so aufregen - die Rushdie-Affäre, die Mohammed-Karikaturen, die verbalen Attacken auf Israelis und ihre Unterstützer bei Campus-Treffen - einige der hässlicheren Episoden aus den 1930ern in Erinnerung rufen, so sind sie doch keine logische Folge eines Islamofaschismus oder protomarxistischer Ideologien, sondern Folge von Kämpfen um umstrittene Symbole, die Gruppenidentitäten und gemeinschaftliche Zugehörigkeiten bestimmen. Die islamistische Bewegung ist kein ideologischer Monolith, der von der Macht eines Industriestaates gestützt wird - auch wenn es hässliche Untertöne wie den Export mittelalterlicher Vorurteile gegen Homosexuelle, Frauen und Juden durch ölreiche Länder gab. Alle islamistischen Bewegungen suchen Legitimität, indem sie sich auf das symbolische Kapital alter religiöser Traditionen beziehen. Aber da es - anders als im Christentum - keine zentral organisierten Institutionen gibt, die in der Lage wären, diese symbolische Aufrüstung zu managen und zu kontrollieren, bleibt ein hoher Anteil an Anarchie - zum Teil mit terroristischen Einschlägen - bestehen."

La regle du jeu (Frankreich), 31.07.2010

Laurent David Samama greift eine Meldung des Radio Free Asia über die nordkoreanische Fußballnationalmannschaft auf. "Obwohl sie sich trotz dreier Niederlagen bei der Weltmeisterschaft keineswegs blamiert hat, ist sie gleich nach ihrer Rückkehr nach Pjöngjang einberufen worden, um einen offiziellen Tadel entgegen zu nehmen. Nach chinesischen Quellen soll sich die Szene in einem großen Saal des Kulturpalastes zugetragen haben, wo eine 'große Debatte' anberaumt wurde. Auf einer Tribüne stehend, unter den missbilligenden Blicken der 400 Anwesenden, musste die Mannschaft sich der Kritik der Offiziellen, Kommentatoren und Studenten stellen. Nach sechs Stunden staatlicher Zurechtweisung war der Urteilsspruch gnadenlos: Die Mannschaft hat im ideologischen Kampf versagt."
Archiv: La regle du jeu
Stichwörter: Pjöngjang

Financial Times (UK), 31.07.2010

Es ist zwar eigentlich nicht ganz klar, wovon Simon Schamas Artikel handelt, aber er ist toll geschrieben. Am ehesten geht's wohl um Essen und Schreiben oder Zunge und Sprache, oder, wie die Franzosen sagen würden, la langue (die Zunge) et la langue (die Sprache). Jedenfalls beginnt der Artikel mit Schamas Bekenntnis, dass Zunge eines der wenigen Nahrungsmittel ist, die regelmäßig einen Würgreflex bei ihm hervorrufen. "Lammzungen sind ein besonderes Problem, denn sie sind genau so groß wie unsere eigenen Zungen, und das erhöht die Chance, aus Versehen auf die letztere zu beißen. Da die Zunge dicht besetzt ist mit Nervenrezeptoren, kann das eine schmerzhafte und blutige Erfahrung sein. Aber es hat noch eine andere Bewandtnis mit meiner Lingophobia, die zu tun hat mit den verschiedenen und doch ineinander greifenden Funktionen der Zunge. Sich auf die Zunge beißen, heißt sich etwas zu verbeißen. An der Quelle meiner Zungenängstlichkeit liegt jedoch die Angst, dieses vielfältige Organ des Ausdrucks und des Verzehrs zu verletzen. Will irgendjemand sein eigenes Wort verspeisen?"
Archiv: Financial Times

Caffe Europa (Italien), 26.07.2010

Jedes Jahr laden Autoren aus Sardinien Kollegen auf ihre Insel ein und feiern das Literaturfest "Isola delle storie". Es überzeugt nicht durch seine Größe, sondern eher durch seine globale Intimität, meint Mitorganisator und Schriftsteller Marcello Fois im Gespräch mit Flavio Iannelli. "Das Publikum ist voll dabei, wenn ein sardischer Dichter und ein polnischer Poet über die Kluft sprechen,die zwischen geschriebener und gesprochener Dichtung liegt, zwischen der Überzeugung und der Täuschung. Das war das Kernthema des diesjährigen Festivals. Diese Autoren zeigen uns, dass es ein lokales Modell geben kann, das gleichzeitig anschlussfähig ist. Viele von uns, viele Sarden, fühlen sich verstümmelt weil sie auf einer Insel leben, als würde uns ein Arm oder ein Bein fehlen. Dank dieser Treffen sehen wir, dass es in der ganzen Welt diese Verstümmelten gibt und dass sie alle zumindest eines ihrer Gliedmaßen vermissen (....) Wir bitten die Autoren, die ganzen drei Tage zu bleiben, in der Gegend und in dem Ort zu leben. Der größte Teil macht das auch, nimmt an anderen Veranstaltungen teil und vor allem am Abendessen mit den Schäfern, einem einzigartigen Ereignis, das jedes Jahr das Festival beschließt. Wir bitten alle zu bleiben, weil wir glauben dass die Autoren sich kennenlernen, sich unterhalten und sich austauschen müssen. Viele sind auf dieses Weise Freunde geworden und haben sich nicht mehr aus den Augen verloren."
Archiv: Caffe Europa
Stichwörter: Sardinien, Intimität

London Review of Books (UK), 05.08.2010

"Au revoir to all that" lautet der sarkastische Titel von Michael Steinbergers Buch (Leseproben hier und hier) , das - wieder einmal, und wohl auch nicht ohne Argumente - das Ende der großen französischen Küche herbeischreibt. Die Gründe hierfür sind vielfältig, resümiert Steven Shapin in seiner sehr ausführlichen Besprechung. Einer von ihnen heißt Paul Bocuse. "Die Revolution der Nouvelle Cuisine brauchte einen Trotzki. Was sie mit Bocuse bekam, war ein Stalin." Denn Bocuse, so Steinberger habe vor allem das Bild des Kochs als Selbstvermarkter etabliert, während die Innovation stecken blieb. "Bei den Recherchen zu seinem Buch ging Steinberger auch ins immer noch mit drei Sternen ausgezeichnete Restaurant Bocuses in Lyon: 'Das Essen war scheußlich... Jeder Gang war plump und übertrieben', besonders der Hauptgang, die Scholle, 'ein Stück geschmacksneutraler Fisch, der in einer fetten Soße unterging, flankiert von einem Stapel Gumminudeln.' Nouvelle Cuisine war ein Licht, das vorzeitig verlöschte, und trotz einiger Ausnahme ist die französische Küche seit den achtziger Jahren wieder in ihre erschöpften Traditionen zurückgefallen."
Stichwörter: Bocuse, Paul, Lyon, Stalin, Josef

Merkur (Deutschland), 01.08.2010

Der Literaturwissenschaftler Niels Werber hat die aus dem Nachlass veröffentlichte "Politische Soziologe" von Niclas Luhmann aus den sechziger Jahren verschlungen, ein Fest für Systemtheoretiker. Klar wird: Für Luhmann waren nicht der Mensch, nicht Machtbildung, Freiheit oder Gleichheit der entscheidende Bezugspunkt, sondern systemische Komplexität: "Man kann mehrere Parteien als Konkurrenten auf die Problemsuche schicken, sich mit der Problemsensibilität einer szientifisch ausgebauten Ideologie wie dem Marxismus-Leninismus begnügen oder ad hoc der Intuition 'großer Männer' vertrauen. Eine Funktion findet immer alternative Strukturen. Die politische Soziologie Luhmanns will ihre Theorie für alle Fälle modellieren. Die Sowjetunion, die Dritte Welt, die Schweiz, die DDR sind keine Ausnahmen eines normativen, Repräsentations- und Partizipationsmodellen verpflichteten politischen Projekts, sondern Testfälle einer Theorie der Gesellschaft. Dies führt immer wieder zu interessanten Fragestellungen, da die systemtheoretische Analyse immer nach Funktionsäquivalenten fragt: Die Witwenverbrennung tritt dann an die Seite der Rentenkasse."

Außerdem: In der Literaturkolumne blickt David Wagner auf die Highlights seines Leselebens: Handke war dabei, Proust und Bolano, viel Spiegel Online, Gizmodo, Perlentaucher und Guardian: "Ich serendipitiere so durchs Netz, den großen Text, der keine Ufer hat." Remigius warnt vor dem Verlust des Individuums durch Schwarmintelligenz und zuviel Gleichheit. Der Historiker Egon Flaig rekonstruiert die kulturelle Genese des Rassismus und hält fest: "Die erste Textflut, in denen Schwarze als minderwertig vorkommen, entströmt der arabisch-islamischen Kultur."
Archiv: Merkur

Open Democracy (UK), 29.07.2010

In einem sehr interessanten Essay gehen die dänischen Autoren Jens-Martin Eriksen (mehr hier) and Frederik Stjernfelt (mehr hier) der Frage nach, warum die Linke in Dänemark und in Europa das zutiefst konservative Modell des Kulturalismus übernahm, der die kulturelle Identität über die individuelle stellt. Dabei schlagen die Autoren den Bogen von den marxistischen Bewegungen über den Antiimperialismus bis zu den Mohammed-Karikaturen und erkennen im Multikulturalismus eine Art "anthropologische Konterrevolution". Eine Erklärung ergibt sich für sie aus der Solidarität mit der Minderheit: "So wird für die Unterdrückten nach einer linken Devise aus den siebziger Jahre politisch Partei ergriffen: 'Das unterdrückte Volk hat immer recht.' Dies wurde sehr wörtlich verstanden, mit Implikationen, die weit darüber hinausgingen, dass ein unterdrücktes Volk das Recht hat, befreit zu werden. Es hatte jetzt in jeder Hinsicht recht, auch in der Verteidigung seinen kulturellen Dogmen. Unabhängig davon, ob diese Dogmen gerecht und wahr sind. Was zählt, ist, dass sie zur Kultur eines unterdrückten Volkes gehören. So wurde die Arbeiterklasse durch die 'unterdrückte Kultur' ersetzt - auch wenn dies bedeutete, dass Emanzipation durch einen Kulturalismus ersetzt wurde, der antiquierte und vormoderne Normen aufrechterhält - also eine absolute Umkehrung all dessen, wofür die Linke in Hinsicht auf Überzeugung und Werte einst stand."

Elena Strelnikowa erklärt die schwer geprüfte und anhaltende Liebe der Russen zu ihren Datschen: "Auf der Datscha ist die Luft frisch, die Vögel singen fröhlich, der Wein ist gekühlt." Und Flüge an die Strände Südeuropas sind eh zu teuer.
Archiv: Open Democracy

Eurozine (Österreich), 01.08.2010

"Wir verlassen die diskursive Sphäre der Massenmedien nie, wir blättern nur um oder wechseln den Sender." In einem aus der aktuellen Printausgabe von A Prior Magazine übernommenen Interview geht der britische Künstler Victor Burgin (mehr hier und hier) mit der derzeit angesagten dokumentarischen Kunst hart und wortreich ins Gericht. Am Schluss aber ist er sprachlos, als seine Gemüseverkäuferin ihm die Dominanz der von den Medien propagierten Wirtschaftstheorien über die Kunst und das Leben aufzeigt. "Ich ging in den Bioladen um die Ecke, um Süßkartoffeln zu kaufen. Ich hatte in der vorherigen Woche welche gekauft, und als Ursprungsland war Spanien angegeben. Ich nahm mir zwei und ging zur Kasse, als ich bemerkte, dass der Hinweis auf das Ursprungsland fehlte. Ich fragte die Frau hinter dem Tresen, ob diese Kartoffeln auch aus Spanien seien. 'Sie sind aus Israel', sagte sie. 'Dann will ich sie nicht', sagte ich. 'Oh', sagte sie, 'die Bauern sind nicht die Regierung. Die wollen doch nur Geld verdienen, wie wir alle.' Sie sagte das in einem Ton und mit einer Miene, die klar machte, dass sie überzeugt war, dass dieses Argument eine Erwiderung ausschloss - und tatsächlich war ich sprachlos. Was konnte ich sagen? 'Geld zu verdienen', das ist unser grundlegendes Verlangen und unveräußerliches Recht, das ist es, was jedes atomische Individuum mit 'allen' verknüpft - welche Hoffnung gibt es da noch für die Kunst oder die Universität, wenn dieses Denken obsiegt?"

Tomas Venclova erzählt in einem sehr schönen Text die litauische und zum Teil polnische und ruthenische Geschichte von Vilnius.
Archiv: Eurozine

Philosophy Now (UK), 02.08.2010

Angenommen, Eva hätte den verbotenen Apfel nicht gegessen - weil sie gerade noch rechtzeitig die Überwachungskamera bemerkt hätte, die auf den Baum der Erkenntnis gerichtet war. Wäre Gott mit ihrer Entscheidung zufrieden gewesen? Nein, ist der Philosophieprofessor Emrys Westacott überzeugt, denn Gott war Kantianer! "Laut Kant sind unsere Handlungen richtig, wenn sie den moralischen Regeln entsprechen, die uns unser Verstand diktiert. Und sie haben moralischen Wert, wenn sie von unserem Respekt für das moralische Gesetz motiviert sind. Mit anderen Worten, meine Handlungen haben dann einen moralischen Wert, wenn ich das Richtige tue, weil ich das Richtige tun will."
Archiv: Philosophy Now
Stichwörter: Moralische Werte

Magyar Narancs (Ungarn), 22.07.2010

Auf der Webseite der südostungarischen Stadt Hodmezövasarhely werden neuerdings Name und Anschrift jener Bürger veröffentlicht, die "die Unterstützung der Stadt missbraucht haben" - indem sie beispielsweise ihre Arzneimittelzuschüsse oder ihr Mittagessen in der Armenküche nicht abgeholt haben oder bei der Vermittlung einer gemeinnützigen Arbeit abwesend waren. Das liberale Magazin Magyar Narancs hat seine Zweifel an der erwünschten Wirkung dieser Veröffentlichungen, die, zusammen mit der Übernahme der amerikanischen "Three Strikes"-Regel eine "neuen Ordnung" einläuten sollen: "Kann jemand mit gesundem Menschenverstand wirklich annehmen, dass die Repressionen und die Entrechtung, die den untersten Schichten der Gesellschaft zuteil werden, früher oder später nicht auch die Welt der besser Gestellten beeinträchtigen wird? [...] In welche Richtung das Gefängnis die Sozialisation dieser Kinder beeinflussen wird, ist absehbar. Die meisten von ihnen werden nach einigen solcher Einsperrungen, das kann bereits jetzt prophezeit werden, zu Feinden der gesellschaftlichen Ordnung - und zwar jeglicher gesellschaftlichen Ordnung. Und so werden wir eines Tages in einem Land aufwachen, in dem wir uns vor den gedemütigten und wütenden Bewohnern der virtuellen und realen Ghettos werden fürchten müssen."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Repression

The Nation (USA), 23.08.2010

Im April veröffentlichte Wikileaks Videomaterial, das die Tötung von irakischen Zivilisten und zwei Reuters-Korrespondenten durch amerikanische Soldaten zeigt. Drei Soldaten aus dem Infanterie-Regiment, das verantwortlich ist für den Tod dieser Zivilisten, haben jetzt öffentlich erklärt, dass diese Art von Kriegsführung Methode hat, berichten Sarah Lazare und Ryan Harvey: "Einer nach dem anderen wurden Soldaten, die gerade in Bagdad angekommen waren, in einen Raum gebracht und von ihrem kommandierenden Offizier befragt: 'Alle Fragen führten zu der einen großen Frage', erklärt der frühere Army Spc. Josh Stieber. 'Wenn jemand auf einem Marktplatz voller unbewaffneter Zivilisten eine Waffe zieht, würdest du das Feuer eröffnen, auch wenn du weißt, dass du viele unschuldige Menschen dabei verletzen wirst?' Es war eine Trickfrage. 'Sie wollten nicht nur, dass du Ja sagst, du musstest ohne zu zögern Ja sagen', erklärt Stieber. 'Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand, der nicht mitzog, zusammengeschlagen wurde', fügt er hinzu. 'Sie brachten dich in einen Raum, schlossen die Tür und schlugen dich, wenn ihnen deine Antwort nicht gefiel', sagt der ehemalige Army Spc. Ray Corcoles, der mit Stieber diente. Lauter dieser ehemaligen Soldaten war dies ein typischer Moment beim Training der Bravo Kompanie 2-16 (2. Bataillon, 16. Infanterie-Regiment), die Bodentruppe, die involviert war in das berühmte 'Collateral Murder'-Video". Stieber und der dritte Kollege, Ethan McCord, haben sich in einem offenen Brief bei den Irakern entschuldigt, die bei dem Vorfall Angehörige verloren haben.
Archiv: The Nation
Stichwörter: Irak, Reue