Magazinrundschau
Alle reden nur noch über Salvador
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
16.11.2010. In Walrus erzählt Dave Cameron von den Zeitreisen seines krebskranken Vaters. The Nation liest Gal Beckermans fesselnde Geschichte der Juden in der Sowjetunion. Tehelka erklärt, warum arme Alte in Indien ihre Kinder fürchten müssen. Was erhofft man sich eigentlich von einer Übersetzung, fragt Julian Barnes in der LRB. Prospect findet heraus, wie Rupert Murdoch die Iraner mit Fernsehschmonzetten von der Revolution ablenkt. In Guernica erklärt John Updike, wie man klaut.
The Nation (USA), 10.11.2010

Weitere Artikel: John Nichols und Robert W. McChesney beklagen "die radikale Verwandlung der US-Politik durch einen Geld-und-Medien-Wahl-Komplex, der das Geschehen heute stärker definiert als irgendein Kandidat irgendeiner Partei". Die große (aber auch wieder begrenzte) Retrospektive der feministischen Künstlerin Nancy Spero im Centre Pompidou in Paris nimmt Barry Schwabsky zum Anlass, über die Rolle ihres Werks in der amerikanischen Nachkriegskunst nachzudenken.
Tehelka (Indien), 20.11.2010
Während die europäischen Rentensysteme langsam zusammenbrechen, untersucht Shahina KK, was Altersarmut in Indien bedeutet, wenn die Jungen die Alten nicht mehr versorgen können. Das tamilische Wort für Gnadentod ist "Thalaikoothal". Er kann die Form eines liebevoll zubereiteten Ölbads annehmen oder die brutalere Form eines Munds voll Schlamm. Er liegt "in dem undefinierbaren Bereich zwischen Verbrechen und verzweifelten Taten aus Armut": "Kasi, ein Tagelöhner, zog aus dem Haus seines Sohnes aus, nachdem seine Frau gestorben war. Er weiß nicht genau, ob er 65 oder 70 Jahre alt ist, aber seine weißen Haare, der weiße mächtige Schnurrbart und die dunkelbraune faltige Haut bezeugen sein langes und beschwerliches Leben. Kasi entschloss sich auszuziehen, als er merkte, dass seine Kinder es müde wurden, ihren Vater zu versorgen. 'Ich mag sie sehr gern und kann mir nicht vorstellen, dass sie mich töten würden', sagt er. 'Aber ich wollte sie auch nicht zu extremen Schritten provozieren.' Ob auch er in ein paar Jahren zu einem entspannenden Ölbad eingeladen worden wäre, weiß Kasi nicht. Und er war auch nicht neugierig, es herauszufinden." Die Autorin sagt leider nicht, wohin Kasi und andere in seiner Lage gehen.
Außerdem: Altaf Tyrewala, Autor von "No God in Sight", erzählt, wie ihm im zarten Alter von 33 Jahren Ebooks die Lust am Lesen wiedergegeben haben.
Außerdem: Altaf Tyrewala, Autor von "No God in Sight", erzählt, wie ihm im zarten Alter von 33 Jahren Ebooks die Lust am Lesen wiedergegeben haben.
Rue89 (Frankreich), 14.11.2010

London Review of Books (UK), 18.11.2010

Weitere Artikel: David Bromwich zeichnet das nicht sehr freundliche Porträt Barack Obamas als eines an den eigenen Ansprüchen ebenso wie an mangelndem Mut gescheiterten Halbzeit-Präsidenten. Peter Campbell liest die ursprünglich fürs Radio formatierte Buchausgabe von Neil McGregors "A History of the World in 100 Objects", eine Folge von Essays zu im British Museum ausgestellten Gegenständen. Die Frage, seit wann einzelne Jahrzehnte im Rückblick ihren je distinkten Charakter zugeschrieben bekommen, beschäftigt Andrew O'Hagan.
Elet es Irodalom (Ungarn), 12.11.2010

Dass die radikal islam- und EU-feindliche PVV des Geert Wilders nach den Wahlen im Juni zur drittstärksten Kraft im niederländischen Parlament wurde, wertet der Soziologe Paul Scheffer als historische Wende in der niederländischen Politik, die gleichzeitig das Dilemma ganz Europas veranschaulicht. Tibor Berczes fragte den niederländischen Soziologen, was gegen Bewegungen wie die von Wilders unternommen werden sollte. Dessen Antwort: "Europa müsste gleichzeitig ein Freiheitsideal und eine Sicherheitsgemeinschaft sein. Dazu müssen aber Antworten beispielsweise auf die Probleme der grenzüberschreitenden Kriminalität oder der illegalen Einwanderung gefunden werden. Europa sollte sich nicht als ein Gebilde betrachten, das die Nationalstaaten ablöst, sondern den Nationalstaaten die Möglichkeit verschafft, auch in Zeiten der Globalisierung effektiv zu handeln. Man muss deutlich machen, dass der Schutz nationaler Eigenheiten und Offenheit beziehungsweise Freiheit und Sicherheit einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen."
Walrus Magazine (Kanada), 01.12.2010

La vie des idees (Frankreich), 12.11.2010
Olivier Alexandre bespricht eine soziologische Studie von Laurent Jullier und Jean-Marc Leveratto über Cineasten und Filmkunst ("Cinephiles et Cinephilies", Armand Colin). Ausgehend von einer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des bewegten Bilds entwickeln sie eine Art zeitgemäße Präzisierung der inzwischen zunehmend privatisierten Sehgewohnheiten: Die Liebe zum Kino, so die These, lasse sich nicht mehr mit Kennerschaft oder Wissen erklären und auch nicht mehr auf die Anzahl von Kinobesuchen reduzieren. "In diesem Kino-Universum 2.0 weichen die klassischen Unterscheidungen (Autorenfilme/kommerzielle Film, Kino/Fernsehen, Paris/Provinz, Form/Inhalt, männlicher Raum des Kinos vs. weiblicher Raum des Wohnzimmers etc.) einer von Mitbestimmung geprägten und relativistischen Zusammengewürfeltheit. 'Star Wars', Videoclips, die Mashups auf Youtube oder der letzte Autorenfilm, der auf dem koreanischen Filmfest von Pusan ausgezeichnet wurde - als dies wird unterschiedslos von Zuschauern konsumiert, die von einem Filmobjekt zum nächsten springen, mit dem einzigen Ziel, Spaß aus ihren Umherreisereien zu ziehen."
Prospect (UK), 20.10.2010
In einem "Brief aus dem Iran" schildert Christopher de Bellaigue die spektakulären Erfolge, die der im Besitz von Rupert Murdoch befindliche, aus Dubai sendende Satellitensender Farsi 1 im Iran feiert. Die politische Widerstandskraft scheint ermüdet, man fiebert, so de Bellaigue, lieber mit den die Grenzen der Züchtigkeit berührenden, aber nie überschreitenden Figuren der Soap Operas aus Dubai: "Das Phänomen 'Farsi 1' ist ein Symptom der Enttäuschung, die die verwestliche Mittelschicht, also die hauptsächlichen Unterstützer von Moussavi, erfasst hat... Seine Anhänger sind sich uneins und das Minimalziel - Ahmadinedschad aus dem Amt zu entfernen - ist spektakulär gescheitert. Das hat zum Teil mit den Repressionen des Regimes zu tun, aber eher banale Probleme sind auch ein Grund. Ein Taxifahrer in Teheran erzählte mir neulich, dass seine Teilnahme an den Protesten ihn in seinen Mietzahlungen weit zurückgeworfen hat. Jetzt macht er Überstunden. Kurz gesagt: Die Iraner der Mittelschicht, die nach Jahren der Entpolitisierung, sich plötzlich und dramatisch wieder engagieren, haben jetzt wieder abgeschaltet. Amir Mohebbian, ein konservativer Politexperte, der eine neue politische Bewegung zu starten versucht, erklärte mir ganz beglückt: 'Letztes Jahr war alles Moussavi. Heute reden alle nur noch über Salvador", den spektakulär gebauten Helden der Soap "Body of Desire" (Kostprobe bei Youtube).
Guernica (USA), 01.11.2010
Guernica bringt ein unveröffentlichtes Interview mit John Updike, das Lila Azam Zanganeh 2006, zwei Jahre vor seinem Tod, mit dem Schriftsteller führte. Updike spricht über Nabokov, andere literarische Einflüsse und über das Stehlen. "Klar, man ist immer auf der Suche. Es gab ein Bild in einem der ersten Nabokovs, die ich gelesen habe. Da sagt ein Bleistiftanspitzer 'Ticonderoga, Ticonderoga'. Ticonderoga war die Marke des Stifts. Aber zu hören, wie ein Bleistiftanspitzer etwas sagt, das war ein Bild, das ich liebend gern selbst erfunden hätte. Ich würde es wahrscheinlich nicht stehlen, weil es zu speziell ist. Aber ich habe Bilder gestohlen, wenn ich dachte, niemand würde es merken. Klar. Wenn man anfängt zu schreiben, sucht man erst mal nach einem Vorbild. Ich hatte vier oder fünf, die mir in formenden Abschnitten meines Lebens sehr viel bedeutet haben. Aber wenn man geformt ist, dann liest man gewissermaßen nach den Dingen, die so bewundernswert sind, dass man sich wünschte, man selbst hätte sie geschrieben. Und man ist nicht darüber erhaben, sie zu stehlen, wenn man einen guten Platz findet, sie zu verstecken."
Guardian (UK), 13.11.2010
Richard Wolins Geschichte der französischen Maoisten "French Intellectuals, the Cultural Revolution, and the Legacy of the 1960s" inspiriert Julian Jackson zu einer angeregten Nachererzählung: "Andre Glucksmann, heute einer der antitotalitären Neuen Philosophen, von denen Bernard-Henri Levy der berühmteste ist, glaubte in seiner maoistischen Phase, dass Frankreich ein faschistisches Land sei; Sartre forderte Volkstribunale, um der bourgeoisen Justiz etwas entgegenzusetzen. Um nicht hinterherzuhinken propagierte Foucault eine Volksjustiz ohne Gerichte, wie bei den Septembermassakern von 1792. Kurioserweise haben die Maoisten 1968 verpasst. Geblendet vom Dogmatismus glaubten sie, dass einem von Studenten angeführten Ereignis der Ernst fehle. Es müsse sich um einen von de Gaulle und dem französischen Staats ausgeklügelten Vorwand handeln, um das Proletariat zerschlagen. Dieser totale Widerspruch zwischen der Realität auf den Straßen und dem, was die Theorie voraussagte, verursachte bei einem der Maoisten-Führer, Robert Linhart, einen Nervenzusammenbruch."
Kerry Brown erfährt bei Richard McGregor, wie sich Chinas KP heute im Sattel hält, ohne auch nur die geringste organisierte Opposition fürchten zu müssen: "Sie hat dies laut McGregor durch die Kontrolle dreier Schlüsselbereiche geschafft: Information, Militär und ein ausgedehntes Netzwerk von parteinahen Organisation und Positionen, das die Regierung abschirmt."
Kerry Brown erfährt bei Richard McGregor, wie sich Chinas KP heute im Sattel hält, ohne auch nur die geringste organisierte Opposition fürchten zu müssen: "Sie hat dies laut McGregor durch die Kontrolle dreier Schlüsselbereiche geschafft: Information, Militär und ein ausgedehntes Netzwerk von parteinahen Organisation und Positionen, das die Regierung abschirmt."
Espresso (Italien), 14.11.2010

The Atlantic (USA), 01.12.2010

Die Titelgeschichte fragt, ob es vielleicht doch saubere Kohle geben kann. Benjamin Schwartz präsentiert seine Bücher des Jahres, angeführt wird die Liste von Deborah Eisenbergs "Collected Stories" (mehr hier).
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