Magazinrundschau

Das Leben ist fröhlicher

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
30.11.2010. Keine Informationen, Staats-PR liefert das russische Fernsehen, ruft der Journalist Leonid Parfjonow bei einem Auftritt im russischen Fernsehen (und auf Open Democracy). Im ungarischen HVG ruft Agnes Heller die bürgerlichen Kräfte Ungarns auf die Barrikaden. Der Guardian liest Wassili Grossman. In Rue89 fürchtet sich Emanuel Todd vor der Senildemokratie in Europa. In Literaturen verkündet der Theologe Gerd Lüdemann: Christus war ein Exorzist. Der New Yorker kennt das ultimative Statussymbol.

Open Democracy (UK), 26.11.2010

Der russische Fernsehjournalist Leonid Parfjonow nutzte eine live übertragene Preisrede, die man nicht einfach unterbrechen oder zensieren konnte, um die Zustände im russischen Staatsfernsehen anzuprangern. OpenDemocracy bringt ein Video und eine Übersetzung der Rede. Hier ein Ausschnitt: "Nach einigen wirklichen und angeblichen Sünden wurde das 'nationale' Fernsehen in den neunziger und nuller Jahren mit zwei Zielen verstaatlicht: um Medien-Oligarchien auszuschalten und um eine Front im Krieg gegen den Terror zu bilden. Mediengeschichten - aber auch alle andere Geschichten im Fernsehen - fallen seitdem in zwei unverrückbare Kateogrien: solche, die gesendet werden können, und solche, die nicht gesendet werden können. Jede Sendung wird als ein Zeichen des Staatswillens und der Haltung und Launen der Regierung gelesen. Institutionell gesehen ist das nicht einmal Information, sondern eher Staats-PR."
Archiv: Open Democracy

Rue89 (Frankreich), 28.11.2010

Große Angst hat man bei rue89. Ob die demografische Entwicklung dazu führen wird, dass es in den kommenden Jahren vor allem Rechtsregierungen gibt, fragen Pascal Riche und David Servenay den Demografen Emmanuel Todd: "Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Die Rechtskurve in Europa war massiv. Aber wir sind nicht am schlimmsten dran. In Frankreich liegt das Durchschnittsalter bei 40 Jahren, in Deutschland bei 44. Die am weitesten fortgeschrittene Senildemokratie ist Deutschland... Die mehr als 70-jährigen sind dabei ökonomisch gesehen bevorzugt. Aber es werden 'neue Alte' kommen, deren Berufsleben härter war und deren Einkommen in der Rente sinken werden. Die goldenen Nachkriegsjahre waren nur eine Parenthese. Wie wird es für die 'neuen Alten' wie mich ausgehen? Ich bin nicht sehr optimistisch."
Archiv: Rue89

London Review of Books (UK), 02.12.2010

James Harkin resümiert mehrere Bücher zur Rolle sozialer Medien bei der Revolte im Iran - und stellt fest, dass die Wirkung von Twitter massiv überschätzt worden ist. Harkin erzählt zugleich mit ziemlich skeptischem Unterton die Geschichte des Jared Cohen, der - als jüngstes Mitglied jemals - von Condoleeza Rice mit 24 Jahren in den Planungsstab des US-Außenministeriums berufen wurde und fortan als Propagator neuer Medien, insbesondere von Twitter, für viel Aufmerksamkeit sorgte. Eine faszinierende Figur ist Cohen (hier sein Twitter-Account), seit diesem Jahr der Chef des neuen Google-Thinktanks "Google Ideas", aber allemal: "In Oxford war er mit einem Rhodes-Stipendium und unternahm unter dem Vorwand von Recherchen für seine Dissertation ausgedehnte Reisen durch den Nahen Osten. In seinem Buch 'Kinder des Dschihad', das er zwei Jahre nach Antritt seines Jobs im Außenministerium veröffentlichte, erzählt er seine gefährlichen Abenteuer im Stil eines 'Fünf Freunde'-Romans. In Beirut freundet er sich in einem McDonald's mit Hizbollah-Unterstützern an; in Teheran lädt man ihn zu Untergrund-Parties ein ('Ich trinke normalerweise nicht so viel, aber wer könnte der Gelegenheit zu einem Saufgelage widerstehen, wenn die Mullahs gerade nicht hinsehen?'); in Syrien schläft er auf dem Rücksitz eines Taxis ein und erwacht im Irak. Und immerzu stellt er Fragen, manchmal auch laut."

Weitere Artikel: Sheila Fitzpatrick erinnert sich an ihre Studentenaustauschjahre in der Sowjetunion der späten 60er - einer Zeit, in der jeder Ausländer verdächtigt wurde und jeden Inländer verdächtigte, ein Spion zu sein. Mehrere Bücher über die italienische Malerei des 17. Jahrhunderts, insbesondere über Caravaggio und seinen Zirkel, hat Julian Bell gelesen. Christopher Prendergast porträtiert den französischen Ökonomen Frederic Bastiat, der im 19. Jahrhundert lebte und ziemlich vergessen war, von amerikanischen Konservativen und jetzt auch der Tea Party als ihr Held wiederentdeckt wurde. T.J. Clark besucht die Cezanne-Ausstellung in der Londoner Courtauld-Galerie.

Literaturen (Deutschland), 29.11.2010

Auf dem Titel, als wäre es die Weihnachtsausgabe des Spiegel: kein Geringerer als Jesus Christus. Im Gespräch dazu der Theologe Gerd Lüdemann, der den Herrn freilich gehörig herunterputzt. 95 Prozent der Jesusworte aus dem Neuen Testament hält er für Mumbo-Jumbo, die Judenfeindlichkeit der Evangelien kritisiert er und fasst seine für gläubige Christen etwas ernüchternde Botschaft so zusammen: "Alles spricht dafür, dass Jesus in erster Linie ein Heiler und Exorzist gewesen ist. Und das hängt miteinander zusammen, weil Krankheiten im Verständnis der Zeit nichts anderes waren als die Besessenheit von Dämonen. Beim ältesten in den Evangelien überlieferten Wunder handelt es sich um eine Dämonenaustreibung, und die allermeisten Theologen halten diese Exorzismen für historisch verbürgt. Dabei muss man nicht an Zauberei glauben. Ich gehe davon aus, dass Jesus ein psychosomatisches Einfühlungsvermögen gehabt hat, eine besondere heilerische Fähigkeit, die ihm und seinen Zeitgenossen als magische Eigenschaft erschienen ist."

Weitere Artikel: Zum fünfzigsten Geburtstag seiner Schöpfung Jim Knopf porträtiert Frauke Meyer-Gosau den Autor Michael Ende, der gerne ein Dramatiker in der Brecht-Nachfolge geworden wäre, dann aber mit seinen Kinder- und Jugendbüchern zum weltweit meistgelesenen deutschen Autor seiner Zeit avancierte. Ronald Düker blättert durch einen Band mit Fotografien von Fred Herzog.
Archiv: Literaturen

New Yorker (USA), 06.12.2010

Kelefah Sanneh stellt Bücher vor, die sich einer bisher nicht ausreichend gewürdigten Textgattung widmen: HipHop- und Rap-Texte, darunter Adam Bradleys Anthologie "Book of Rhymes: The Poetics of Hip Hop" und Jay-Zs "Decoded". Letzteres "ist ein Prestigeobjekt - ihm werden unausweichlich schnell Imitationen anderer Rapper folgen, die erkennen, dass das selbstverfasste Coffeetable-Book den Lamborghini Murcielago als ultimatives Statussymbol abgelöst hat. In seinen frühen Jahren beharrte Jay-Z gern darauf, Rappen sei nur ein Mittel zum Zweck - wie Crack verkaufen, nur sicherer. 'Ich war ein gieriger Gauner und ein widerwilliger Künstler', schreibt er. 'Aber die Ironie besteht darin, dass man, damit die Sache läuft, langfristig auch ein echter Künstler sein muss.'"
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Hiphop, Rap, Jay-Z, Lamborghini

Elet es Irodalom (Ungarn), 26.11.2010

Der polnische Schriftsteller Slawomir Mrozek kehrte 1996, nach langjährigem Exil, nach Krakau zurück und lebte dort zehn Jahre, bis er 2008 nach Nizza zog. So richtig heimisch geworden ist er in Polen nicht mehr, erzählt er im Gespräch mit dem katalanischen Slawisten und Übersetzer Josep Maria de Sagarra Ange: "Damals wusste ich noch nicht, wie sehr ich mich von Polen entwöhnt hatte, das wurde mir erst später bewusst. Natürlich haben viele Entwicklungen und Veränderungen stattgefunden, doch die waren nicht mehr ganz nach meinem Geschmack. Der Entwicklungsprozess fand ohne meiner Beteiligung statt, ich hatte eine zu lange Zeit außerhalb meiner Heimat verbracht, als dass ich mich an sie hätte erneut gewöhnen können."
Stichwörter: Krakau, Mrozek, Slawomir, Nizza

spiked (UK), 23.11.2010

Brendan O'Neill erzählt, was ihm passiert ist, als er auf dem Flughafen von New Jersey an einem Sonntag, um "six o'fucking clock in the morning", lieber nicht durch den Bodyscanner gehen wollte. Er wurde von einem unfreundlichen, aber sehr groß gewachsenen Angestellten der "Diana Ross-Behandlung" unterzogen - das heißt, an allen erdenklichen Körperstellen abgetastet. "Alles, was ich sagen konnte, war 'danke vielmals, bin Laden'. Danke du Höhlenmensch mit Nierenproblemen, dass mir jemand vor hundert hohläugigen Luftpassagieren an meine Eier fasst."

Zum selben Thema auch ein Artikel von Tim Black. Und noch ein Artikel in McSweeney's, geschrieben von Jesse Adelman aus der Perspektive einen Bodyscanners: "Ich bin hier, um ihren Penis zu messen, und glauben Sie mir, da bin ich sehr genau."
Archiv: spiked

Guardian (UK), 27.11.2010

Diese Sammlung sei ein wahrer Schatz, ruft Gillian Slovo nach Lektüre des von Robert und Elizabeth Chandler übersetzten Bandes "The Road" mit Erzählungen und Essays von Wassili Grossman: Die Texte geben dem Leser einen tiefen Einblick in das Leben der Sowjetära und führen ihn zugleich in Grossmans anhaltende Beschäftigung mit Wunder und Terror der Menschheit ein... Fast bis zum Ende seines Lebens, bewahrte sich Grossman, wie Robert Chandler es nennt, seinen 'revolutionären Romantizismus', und dies gibt seinen Schriften den Stachel. Wenn er auf das Wort 'fröhlich' zu einer Zeit stößt, da der Slogan 'Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden' dazu benutzt wurde, um die wachsende Zahl der bei den Säuberungen Getöteten zu verdecken, dann hat man diese zerrissene Gesellschaft förmlich vor Augen."

Houellebecq in Lyrik ist fast wie Houellebecq in Prosa, meint Autor Paul Bachelor, der den bereits 1996 im Original erschienenen Gedichtband "Le Sens du combat" nun in der englischen Übersetzung gelesen hat: "Verloren geht, wie Houellebecq den Leser herausfordert, wie er uns dafür beschimpft, den Trost eines Reims zu erwarten, wenn er uns einige Krumen hinwirft. Oder klingt mit der Unterwerfung unter die poetische Konvention ein Ton der Niederlage an? Wie auch immer, solche Überlegungen sind in der ungereimten Übersetzung nicht möglich."

Weitere Artikel: Wärmstens empfiehlt Alan Hollinghurst, der selbst einst in Oxford Gedichte von Mick Imlah transkribierte, einen Band mit ausgewählten Gedichten des 2009 gestorbenen schottischen Dichters: "Jedes einzelne ist geprägt von seiner außerodentlichen ironischen Intelligenz". Margaret Atwood spricht in einem langen Interview mit Robert McCrum über die Klimaerwärmung und ihre Liebe zu Vögeln und Twitter. Giles Tremlett ist sehr bewegt von Hector Abads Erinnerungen an seinen Vater, der 1987 in Kolumbien ermordet wurde.
Archiv: Guardian

Point (Frankreich), 26.11.2010

Das wird Diskussionen geben: In Frankreich hat der junge Jurist Florent Gallaire den jüngsten Roman von Michel Houellebecq "La carte et le territoire" in sein Blog gestellt - komplett und mit der Begründung, dass Houellebecq darin Textpassagen aus der zwar freien Enzyklopädie Wikipedia übernommen habe, die gleichwohl unter Lizenz der Non-Profit-Organisation Creative Commons stünden, berichtet Julie Malaure. Gallaires kreativer Schluss "'nach juristischer Prüfung des Werks' ist deshalb simpel: da Houellebecq den freien Inhalt von Wikipedia abgeschrieben habe, übernehme der Text von Houellebecq dessen Eigenschaften und werde deshalb seinerseits ebenfalls frei. Diese kuriose Argumentation, diese 'Ansteckung' rechtfertigt demnach laut Gallaire das Onlinestellen des Romans ohne Genehmigung des Autors oder seines Verlags." Selbst die Vereinsvorsitzende der französischen Sektion von Wikipedia, Adrienne Alix, findet Gallaires Begründung "absurd".
Archiv: Point

Boston Globe (USA), 28.11.2010

"Information overload" ist überhaupt nichts Neues, schreibt Ann Blair, Autorin eines Buchs zum Thema. Schon nach der Erfindung des Buchdrucks schlugen die Leute die Hände über dem Kopf zusammen. Als ein früher Medienkritiker erwies sich Erasmus von Rotterdam: Drucker, sagte er, "füllen die Welt mit Pamphleten und mit Büchern, die verrückt, ignorant, bösartig, polemisch, unfromm und subversiv sind. Die Flut ist so groß, dass sogar Dinge, die gut sein könnten, alles Gute einbüßen." Aber, so Blair, "um dieser Herausforderung zu begegnen, entwickelten Drucker und Gelehrte Instrumente, um die Textflut zu managen - Instrumente, die Informationen in Listen und Sortierungen ordneten, verschlagworteten, kompilierten und auswählten." Suchmaschinen und Perlentaucher sozusagen.
Archiv: Boston Globe

HVG (Ungarn), 20.11.2010

Einst nannte sich die heutige Regierungspartei Fidesz "Bürgerliche Partei". Doch ihre jüngsten Aktionen (Verstaatlichung der privaten Rentenkassen-Beiträge, rückwirkende Besteuerung - zu 98 Prozent - von Abfindungen ab einer bestimmten Höhe, Maßregelung des Verfassungsgerichts usw.) sprechen eine ganz andere Sprache. Die Philosophin Agnes Heller will dennoch die Hoffnung nicht aufgeben: "Wo ein Bedarf besteht, werden Kräfte entstehen, oder zumindest entstehen können, die diesen Bedarf befriedigen wollen. Der Bedarf nach einem bürgerlichen Ungarn könnte heute durch Kräfte befriedigt werden, die ich als 'konservativ liberal' beschreiben würde. Wo diese Kräfte zu finden sind? Teilweise in der Fidesz, vielleicht auch bei den Christdemokraten - in erster Linie in den Reihen ihrer Sympathisanten -, teilweise in der ehemaligen MDF, in der ehemaligen SZDSZ und vielleicht sogar bei den Sozialisten. Es gibt viele, die den immer mächtigeren Geist des Populismus verabscheuen, die Rechtssicherheit und Eigentumssicherheit wollen. Viele, die dem freien Wettbewerb viel mehr Raum einräumen würden, als ihm derzeit gegönnt wird und dafür die Macht der Oligarchen und der Monopole einschränken würden. Viele, die das System der Kontrollmechanismen, die Gewaltenteilung, rationale Debatten und Kompromisse als grundlegende Voraussetzungen der Rechtssicherheit anerkennen."
Archiv: HVG

Prospect (UK), 17.11.2010

David Goodhart erklärt den Briten Buch und Debatte von und über Thilo Sarrazin und kommt dann zu folgendem Schluss: "Sarrazins Dickköpfigkeit ist ein willkommener Gegensatz zum Wunschdenken der 68er Generation. Der ehemalige Finanzminister Berlins, der aussieht wie ein Soldat des Kaisers, ist ein Mitglied der unbequemen Truppe. Man kann sich vorstellen, dass er beim Abendessen in liberalen Kreisen Berlins einigen Ärger auslöst. Die meisten seiner Argumente sind weitsichtig und durchdacht, aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit Aussagen über Intelligenz und die Natur der Unterklasse zu provozieren. Dass das Buch trotz der Provokationen so einflussreich ist, zeigt an, dass Deutschland einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht hat - nicht nur, weil es die Fehler der vergangenen Immigrationspolitik zugibt, sondern auch, weil der breite Graben zwischen Volksmeinung und politischer Klasse überbrückt wurde, was einen deutschen Haider verhindert."
Archiv: Prospect
Stichwörter: Sarrazin, Thilo