Magazinrundschau

Der Mann zeigte mir seine Liebe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
18.01.2011. In The Nation singt Roberto Bolano das Lied vom Leiden des Exils nicht mit. Czeslaw Milosz litt laut Polityka gerade an der Schönheit des Exils. Al Ahram verirrt sich in einen literarischen Workshop mit Ingenieuren. In The Morning News erinnert sich Tyler Stoddard Smith daran, wie er als Neunjähriger Allen Ginsberg erschoss. In Le Monde wirft Antonio Tabucchi BHL und Fred Vargas Verachtung der italienischen Justiz vor. Prospect erklärt den Architekten der chinesischen Firewall, Jiang Zemin, zu einem Mann der Zukunft. Newsweek feiert die tunesischen Blogger. Die NYT versucht eine fliegende Kuh vorauszusehen.

The Nation (USA), 31.01.2011

The Nation bringt eine Rede, die Roberto Bolano im Jahr 2000 auf einem Symposium der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien hielt und in der sich strikt weigerte, über Literatur und Exil zu sprechen. Er glaube nicht an das Exil, und schon gar nicht in Zusammenhang mit der Literatur: "In ganz Europa hört man das immergleiche Lied, es ist das Lied vom Leiden des Exils, es ist eine aus Beschwerden und Klagen und einer verblüffenden Nostalgie komponierte Musik. Kann man sich nach einem Land zurücksehnen, in dem man beinahe gestorben wäre? Kann man sich zurücksehnen nach Intoleranz, Arroganz, Unrecht? Dieses Lied, das Lateinamerikaner ebenso anstimmen wie Schriftsteller aus anderen verarmten und traumatisierten Regionen, beharrt auf der Nostalgie, auf der Rückkehr in das Geburtsland. Für mich hat es immer wie eine Lüge geklungen. Bücher sind die einzige Heimat des wahren Schriftstellers, Bücher, die im Regal oder im Gedächtnis ihren Platz haben."

Alexandra Schwartz hat Nicole Krauss' neuesten Roman "The Great House" ("Das große Haus") mit wenig Begeisterung gelesen: "Wo ist der Humor?" Greg Mitchell listet noch einmal detailliert auf, welche Erkenntnisse wir WikiLeaks verdanken: über die saudischen Finanziers des Terrors, Korruption bei Boeing oder Papst Benedikts Widerstand gegen die Untersuchung von Kindesmissbrauch.
Archiv: The Nation

Polityka (Polen), 14.01.2011

Andrzej Franaszek, Autor einer im Frühjahr 2011 erscheinende Czeslaw-Milosz-Biografie, erzählt Justyna Sobolewska (hier auf Deutsch), wie schwer es Milosz fiel, irgendwo heimisch zu werden, nachdem er Polen 1951 verlassen hatte. 1960 landete er in Amerika, wo er eine gut bezahlte Stelle an der Berkeley University erhielt. "Kalifornien war nicht der Ort seiner Träume; in der idyllischen, sonnigen Landschaft empfand er noch stärker, dass sein Leben 'Entsetzen, Strafe, Vernichtung' ist. Kalifornien war für ihn ein Land vollkommener Entfremdung und geistiger Leere. Hier entsteht 'Ziemia Ulro' [Das Land Ulro], ein Buch über das Verschwinden der religiösen Vorstellungskraft. 'Ich hatte nicht vermutet, wie religiös Milosz war', sagt Franaszek. 'Anfangs hatte ich den Eindruck, dass er ein Künstler ist, der Fragen der Religion von außen portätiert. Erst bei der Lektüre seiner Briefe begriff ich, dass er ein zutiefst gläubiger Mensch war. Mit der Zeit sieht man auch, dass es Milosz immer stärker nicht auf literarische Erfolge, sondern auf die eigene Erlösung ankam.'"
Archiv: Polityka
Stichwörter: Milosz, Czeslaw, Kalifornien

New Statesman (UK), 13.01.2011

Gabriel Josipovici singt ein Liebeslied an Thomas Bernhard, dessen gerade auf Englisch erschienenen Essayband "Meine Preise" er mit großem Vergnügen gelesen hat: "Das Komitee für den Literaturnobelpreis hat in der Begründung für die Verleihung an Elfriede Jelinek 2005 angedeutet, dass es ein Fehler war, Bernhard nicht ausgezeichnet zu haben, als es erklärte, der Preis sei auch eine Auszeichnung für die ganze österreichische Tradition der Satire und Subversion - von Nestroy bis Jelinek. Aber damit steckt man Bernhard in die falsche Schublade. Jelinek ist, wie ihr Meister Theodor Adorno, eine scharfe und intelligente Polemikerin, nur für sich selbst und ihre eigenen Werte hat sie keinen Blick. Bernhard auf der anderen Seite ist viel beunruhigender, weil man unmöglich sagen kann, wo er steht."
Archiv: New Statesman

Al Ahram Weekly (Ägypten), 13.01.2011

Während eines literarischen Workshops in der Kotob-Khan-Buchhandlung fand sich Youssef Rakha plötzlich von Ingenieuren umzingelt. Kein Wunder, es ging um den Roman "Kawkab Anbar" von Mohammed Rabie, der im Brotberuf selbst Ingenieur ist. Dahinter steckt aber noch eine andere Geschichte, erzählt Rakha. "Cyberspace: Bis März 2008 gab es tatsächlich einen anderen Mohammed Rabie, der kein Ingenieur war, sondern ein Kairoer Autor skandalöser Romane über Sex und Religion, die er kopierte und per Hand verteilte. Jener andere Rabie starb im Alter von 33 Jahren in einem camusianischen Unfall. Dieser Rabie dagegen ist eigentlich ein Blogger. Er fing im Internet an - eine Konsequenz vielleicht aus seinem nicht-literarischen Hintergrund. ... Und anders als sein Namensvetter ist Rabie weniger interessiert an der unmittelbaren Wirkung von Sprache als an ihrer Fähigkeit, eine stimmige Welt zu schaffen. Anders als viele arabische Autoren - tatsächlich die große Mehrheit seit den Sechzigern - will er eine Geschichte erzählen."

Angesichts des Terroranschlags auf die koptische Kirche in Alexandria beklagt Khalil El-Anani die religiöse Bigotterie auf allen Seiten (auch wenn kein Terroranschlag von Kopten auf Moscheen bekannt ist) und sieht den Staat in der Pflicht: "Statt politische Institutionen zu stärken, statt Parteien zu ermutigen und zivilgesellschaftliche Bewegungen zuzulassen, hat der Staat sie zurückgewiesen und in den Schlamm gezerrt. Die einzigen, die sich halten konnten, waren die traditionellen Strukturen der Kirchen und Moscheen, deren Macht nun beispiellos ist. Als Ergebnis sehen wir jetzt die primitivsten Formen religiöser Diskurse erblühen."
Archiv: Al Ahram Weekly

Slate (USA), 15.01.2011

Der britischen Filmindustrie geht's nicht gut, berichtet Esther Bintliff, obwohl sie eine lange und geachtete Filmtradition hat. Der Grund: Es ist nie gelungen, eine sich selbst finanzierende heimische Filmproduktion aufzubauen. Klingt vertraut für deutsche Ohren, nicht? Kann Frankreich ein Vorbild sein, dass seine heimischen Filme als Kultur hochhält und fördert? "Wenn das Ziel einfach finanzielle Unabhängigkeit ist, werden einige sagen, dann sollte die Regierung lieber aufhören, Filmproduktionen zu fördern und statt dessen versuchen, das voranzutreiben, was Großbritannien jetzt schon ziemlich erfolgreich tut: Als Service-Industrie für internationale Filmemacher bereitzustehen. Beispielhaft dafür sind Studios wie Pinewood und der starke Postproduktions-Sektor in Londons Bezirk Soho. Aber der [britische Filmproduzent] Kris Thykier meint, staatliche Unterstützung sei lebenswichtig, damit die Briten ihre Fähigkeiten erhalten. 'Wenn wir neue britische Talente heranziehen sollen, dann ist es unwahrscheinlich, dass wir dies organisch und ohne staatliche Unterstützung tun können.'"

Außerdem: Simon Doonan ruft ein hipp-hipp-hurra auf "gals currently sporting sequins, satins, and lame during the day" im allgemeinen und Alber Elbaz im besonderen.
Archiv: Slate

Magyar Narancs (Ungarn), 06.01.2011

Ungarns Regierungschef Viktor Orban will dem Land bis Ostermontag eine neue Verfassung geben. Die liberale Wochenzeitschrift Magyar Narancs erklärt, warum die Oppositionsparteien (Sozialisten und Grüne) die Verfassungsgebung im Parlament boykottieren sollten: "Weil sie auf einer Lüge basiert. Auf jener komplexen Lüge, wonach der Grund für die wirtschaftliche und moralische Krise der ungarischen Gesellschaft und Politik letztendlich die Verfassung von 1989 sei, und dass die Wähler im April diese alte Ordnung, das Chaos der Freiheit abgeschafft hätten. Jeder Zusammenhang, in dem diese Behauptung auftaucht, ist verlogen und eine Manipulation; wie auch die neue Verfassung keine andere Aufgabe hat, als den Orban-Staat zu legitimieren und die Legitimität, den überwältigenden Volkswillen hinzuzudichten. Wenn sich die beiden demokratischen Parteien daran beteiligen, dann werden sie der neuen Ordnung die noch fehlende Legitimität verleihen. Dabei sind sie deshalb im Parlament, damit sie für solch eine Sache ihren Namen nicht hergeben. Und auch den ihrer Wähler nicht."
Archiv: Magyar Narancs

Morning News (USA), 05.01.2011

Tyler Stoddard Smith erinnert sich daran, wie er Allen Ginsberg kennenlernte, der sofort das Herz des damals neunjährigen Tyler gewann, weil er The Clashs "Rock the Casbah" liebte. "Ich inszenierte eine Modenschau für Ginsberg, bei der ich, in alte Klamotten aus dem Army surplus store-cum-saloon in Galveston gekleidet, 'Combat Rock' auf meinem Ghetto Blaster spielte. Mein wertvollster Besitz in diesem Moment war eine alte Plastik-Kalaschnikow, die wie ein Maschinengewehr Rata-tat-ratatat-ratata machte. Und während ich vor Ginsberg paradierte, feuerte ich meine Waffe auf ihn, was er zu genießen schien - mit Todesröcheln und Kriegsschreien. Noch begeisterter war ich, als ich erfuhr, dass Ginsberg von The Clash angeworben worden war, das Herz-Sutra in 'Ghetto Defendant' zu singen. Als Schlafenszeit war, las er mir Shel Silversteins "Where the Sidewalk Ends" vor. Unser Lieblingsgedicht war 'Captain Hook'. Er sagte, er kenne Silverstein, sagte, der Mann sei 'fucking crazy - vielleicht erzählst du deiner Mama und deinem Papa besser nicht, dass ich dieses Wort gesagt habe.' 'Das ist okay, sie sagen 'fucking' die ganze Zeit.' 'Schön.'"
Archiv: Morning News
Stichwörter: Ginsberg, Allen, Plastik

Eurozine (Österreich), 10.01.2011

Die Pianistin Elisabeth Klein erinnert sich im Gespräch mit dem britischen Komponisten John Moseley mit Sympathie, aber total unsentimental an Bela Bartok, der sie 1934 unterrichtete. "Bartok kam zum Konzert der an der Hochschule Zugelassenen - es war sein letztes Jahr an der Musikakademie - und sagte mir, dass er mich bei ihm zuhause unterrichten würde, obwohl mein Spiel ein wenig zu romantisch sei. Er gab mir wöchentliche Stunden, zusammen mit zwei anderen Pianisten, György Sandor und Pal Fejer. Beide waren jüdisch. Sandor emigrierte in die USA und machte große Karriere, aber Fejer, der beste von uns, verschwand im Krieg. Die allerbesten Schüler wie Annie Fischer gingen aber gar nicht zu Bartok, sondern zu Dohnanyi, dem Direktor der Akademie." Das Interview ist aus The Hungarian Quarterly übernommen.
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Bartok, Bela, Fischer, Annie

Guardian (UK), 15.01.2011

Kapka Kassabova empfiehlt den britischen Lesern German Sadulajews Roman "Ich bin Tschetschene": "Dies ist das erste Buch eines tschetschenischen Autors, das es geschafft hat, in der jüngeren Vergangenheit ins Englische übersetzt zu werden. Und es ist ein willkommenes Antidot gegen unsere kollektive Ignoranz." (Bei uns hatte man an diesem Antidot kein Interesse: Der 2009 auf Deutsch erschienene Roman ist nur einmal besprochen worden - von der kosmopolitischen NZZ.)

In einem sehr schönen Artikel über die Filme von Howard Hawks beschreibt David Bromwich, wie der amerikanische Regisseur kleinere Dreh-Unfälle - wie ein abgebrochener Absatz Katherine Hepburns oder ein versehentlicher Purzelbaum James Cagneys - zu nutzen und in die Handlung zu integrieren wusste. "Hawks hat nie versucht, jede Bewegung anzuweisen. Er war die Art Regisseur, in dessen Gegenwart solche Dinge passierten."

Weitere Artikel: Zu Kafkas Geburtstag hat John Banville noch einmal "Der Prozess" gelesen und schließt sich der Meinung Elias Canettis über den Ursprung des Romans an: "'Der Prozess ... zwischen ihm und Felice ... verwandelte sich in diesen anderen Prozess ...'" Amerikanische Schriftsteller schreiben am liebsten über einsame Farmer, die fast abgeschnitten von der Welt leben. Mit Fernsehen und Internet wollen sie nicht belästigt werden, spottet Laura Miller in einem Essay über die amerikanische Gegenwartsliteratur. Bloß keine Gegenwart! Inzwischen gibt es aber Autoren, die sich durchaus mit dem Internet beschäftigen - Jonathan Lethem, Jess Walter, Nick Laird, Jonathan Franzen, Gary Shteyngart, Jennifer Egan -, die sie näher betrachtet. Besprochen werden u.a. Philip Mansels Geschichte der Städte Alexandria, Beirut und Izmir (Smyrna): "Levant: Splendour and Catastrophe on the Mediterranean".
Archiv: Guardian

Le Monde (Frankreich), 15.01.2011

Cesare Battisti ist schuldig, schreibt der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi und verteidigt die italienische Justiz gegen ihre Kritiker. Französischen Intellektuellen wie Bernard-Henri Levy, Fred Vargas oder Philippe Sollers, die den italienischen Linksterroristen immer wieder verteidigt und gegen seine Auslieferung nach Italien Front gemacht haben, wirft Tabucchi Arroganz und Ahnungslosigkeit vor: "Sie wissen nicht, welch wertvolle Dienste Richter für die Demokratie und die italienische Verfassung geleistet haben. Sie wissen nicht, dass die Gerichte zahlreiche Mafiosi, Terroristen und korrupte Politiker hinter Gitter gebracht haben. Und sie wissen nicht, dass viele Richter dafür mit ihrem Leben bezahlt haben. Und ganz offensichtlich wissen sie nicht, dass Berlusconi schon bei seinem Amtsantritt den Richterstand als 'ein zu entfernendes Krebsgeschwür' bezeichnet hat. Von seiner Warte aus gesehen, ist das tatsächlich eine Gefahr, denn der Richterstand in Italien ist unabhängig, und unterliegt nicht der Aufsicht des Justiziministers, wie das in Frankreich der Fall ist."

Zu lesen ist außerdem ein Beitrag, in dem der Schriftsteller Yannik Haenel die literarische Vermischung von Realität und Fiktion verteidigt.
Archiv: Le Monde

Chronicle (USA), 17.01.2011

Eines Tages verliebte sich Sherry Turkle vom MIT in einen Roboter namens Cog. Aber ihr wissenschaftlich geschultes Hirn sagte ihr sofort: Quark, berichtet Jeffrey R. Young, und sie forschte 15 Jahre diesem Gefühl hinterher: "Ihre Vorhersage: Firmen werden bald Roboter verkaufen, die Kinder hüten, Krankenschwestern ersetzen und behinderte Menschen mit Gefährten versorgen. Turkle findet das alles erniedrigend, 'übergriffig', und verheerend für unseren Sinn für Menschlichkeit. Sie hat nichts gegen Roboter als Helfer - Autos bauen, Korridore saugen, kranke Menschen baden, das ist eine Sache. Sie fürchtet Roboter, die Kumpel sein wollen, die indirekt eine emotionale Verbindung suggerieren, die sie nie aufbauen können." [Hüstel, der erste Roboter, in den wir uns verknallt haben, war Kismet, Anm. puterroter Perlentaucher]
Archiv: Chronicle
Stichwörter: Behinderte, Roboter

Elet es Irodalom (Ungarn), 14.01.2011

Das neue Mediengesetz und Behördenchefin Annamaria Szalai werden mitunter auf eine Art und Weise kritisiert, die eines seriösen Journalisten unwürdig ist. Von solchen Beleidigungen will sich ES-Chefredakteur Zoltan Kovacs distanzieren und mahnt die Kollegen, einen kühlen Kopf zu bewahren, auch wenn ihre Webseiten auf einem amerikanischen Server liegen: ""Weshalb muss man dort Dinge publizieren, die man mit ein wenig gesundem Menschenverstand nirgendwo veröffentlichen würde? Ein in den 1980er Jahren verbreiteter Schriftstellertyp konnte es kaum erwarten, von der Zensur einen Maulkorb verpasst zu bekommen - oft, weil er ohnehin keinen vernünftigen Gedanken hatte. Offenbar wird heute vom einen oder anderen Kollegen aus Mangel an brauchbaren Gedanken so lange der vollkommene Unsinn verbreitet, bis er endlich an die Behörde gerät und dann behaupten kann, auf den Scheiterhaufen geschickt worden zu sein. Durch diese Kollegen wird die ansonsten immer aussichtslosere Lage der Medienbehörde deutlich verbessert."
Stichwörter: 1980er

Babelia (Spanien), 15.01.2011

Woran denken Politiker? Was sollen sie bedenken? Von einer öffentlichen Diskussion in Paris über diese Frage berichtet der spanische Soziologe Daniel Innerarity. Neben Innerarity auf dem Podium saßen Anthony Giddens, die Philosophin Myriam Revault d'Alonnes und Daniel Cohn-Bendit. Während Letzterer frotzelte, die Politiker dächten weniger an die Zukunft der Bevölkerung als an ihre eigene Zukunft, plädiert Innerarity für einen neuen, zeitgemäßen Blick aufs Politische. Der Expertenblick muss entzaubert werden, ohne dass man auf ihn verzichtet, meint er: "Zudem kommt heute wieder eine politische Tugend ins Spiel, die die ideologischen Gewissheiten lange Zeit hatten überflüssig erscheinen lassen: die Bescheidenheit. Die Gesellschaft muss wieder damit umgehen lernen, dass man Vieles eben nicht so genau weiß. Das macht die politische Arbeit heute so unbefriedigend: Mit all den Einschränkungen der Gegenwart zurechtkommen und Entscheidungen ständig mit anderen abstimmen zu müssen, hat längst nicht den Sex-Appeal souveräner Machtausübung früherer Zeiten."
Archiv: Babelia

Prospect (UK), 15.12.2010

Prospect hat von einer Gruppe von ExpertInnen eine Liste der zehn wichtigsten Persönlichkeiten für die digitale Zukunft zusammenstellen lassen. WWW-Erfinder Tim Berners-Lee auf Platz eins ist keine Überraschung, über den Aca-Fan Henry Jenkins auf Platz drei darf man sich freuen. Und was Jiang Zemin auf Platz acht zu suchen hat, begreift man nach ein wenig Nachdenken auch: "Die Bedeutung des Internets wächst stetig, ebenso die Fragen von Zensur und virtueller Kriegsführung. Und wenige Individuen haben auf diesem Feld mehr Einfluss gehabt als der frühere chinesische Premier Jiang Zemin, der als Präsident Chinas zwischen 1993 und 2003 die Einrichtung der 'großen Firewall' überwachte, die heute das raffinierteste System der Online-Überwachung, -Regulierung, -Infiltration und -Kriegsführung ist. Wer die Natur des modernen Netzes verstehen will, muss diese Kräfte verstehen - wie sie entstanden sind und wie sie ausgeübt werden."
Archiv: Prospect

Tehelka (Indien), 22.01.2011

Tehelka dokumentiert einen höchst erstaunlichen Fall. Der lange Zeit sehr mächtige Hindu-Ideologe und Anti-Muslim-Terrorist Swami Asimananda bekennt, wie es aussieht, aus freien Stücken seine Taten und will nun auch islamistische Fanatiker zur Umkehr bewegen. In einem Brief an die indische Präsidentin Rashtrapati Bhavan schildert er selbst die Geschichte seiner Bekehrung: "Im Gefängnis begegnete ich einem jungen Muslim namens Kaleem, der sehr freundlich zu mir war. Ich fragte ihn, was ihn ins Gefängnis gebracht hatte und er berichtete, die Polizei von Hyderabad habe ihn zu Unrecht verhaftet und gefoltert im Zusammenhang mit den [seinem eigenen Geständnis nach von Asimananda organisierten, PT] Bombenanschlägen von Mecca Masjid. Das traf mich tief. Es verwandelte mich. Der Mann, der jeden Grund hatte, mich zu hassen, zeigte mir seine Liebe. Schließlich hatte er für meine Untaten leiden müssen. Ich verstand, dass Liebe zwischen zwei Menschen mächtiger ist als der Hass zwischen zwei Gemeinschaften... Ich habe ebenfalls einen Brief an den pakistanischen Präsidenten geschrieben, in dem ich ihm von meinem Fall berichte und ihn gebeten, mir eine Möglichkeit zu geben, islamistische Anführer des Terrors und Fußsoldaten des Dschihad in Pakistan auf den Weg des Friedens zu führen."
Archiv: Tehelka
Stichwörter: Dschihad

London Review of Books (UK), 20.01.2011

Seinen äußerst deprimierenden Bericht zur Lage in Pakistan beginnt Tariq Ali mit der Schilderung der Ermordung des Gouverneurs des Punjab Salman Taseer, der ein Schul- und Studienfreund Alis war: "Taseers entschiedene Verteidigung von Asiya Bibi, einer 45jährigen christlichen Bäuerin aus dem Punjab, provozierte wütende Reaktionen religiöser Gruppen. Bibi war fälschlich der Blasphemie beschuldigt worden nach einem Streit mit zwei Frauen, die sie beschuldigt hatten, ihr Wasser zu verschmutzen, weil sie aus dem selben Gefäß trank... Taseer verteidigte Bibi nicht aus einer Laune heraus. Er hatte die Kampagne mit Präsident Zardari abgestimmt, sehr zum Verdruss des Justizministers Babar Awan, eines Fernsehpredigers und früheren militanten Vertreters der Jamaat-e-Islami." Alle Offiziellen blieben, fügt Ali hinzu, der Beerdigung demonstrativ fern.

Weitere Artikel: Über das Staats-, Geheimnis- und Machtverständnis von WikiLeaks und Folgen für die Öffentlichkeit denkt Slavoj Zizek nach: "Wir können jetzt nicht mehr so tun, als wüssten wir nicht all das, von dem jeder wusste, dass wir es wissen." Ob das gut ist, ist freilich, so Zizek, eine andere Frage. Iain Sinclair schildert, wie Londons Bürgermeister Boris Johnson nach Pariser Vorbild die Fahrräder nach London brachte. Jenny Diski fragt sich, was der Nutzen des neuen Google-Spielzeugs ngram-Viewer sein könnte. Peter Campbell besucht eine Norman-Rockwell-Ausstellung in der Dulwich Picture Gallery und Brian Dillon eine Ausstellung mit Fotografien von Francesca Woodman in der Galerie Victoria Miro.

Newsweek (USA), 15.01.2011

Mike Giglio besingt die tunesischen Blogger, die es mit einer staatlichen Zensur aufgenommen haben, die gleich hinter der von China und Iran rangiert: "Die Aktivistin und Bloggerin Lina Ben Mhenni zum Beispiel, begann, durch das Land zu reisen, um auf Fotos und Videos Proteste aufzunehmen und die Menschen, die, wie sie sagt, bei den Niederschlagungen getötet wurden. 'Es gibt keine Journalisten, die das tun. Die offiziellen Medien haben sogar noch angefangen, Lügen über die Ereignisse zu verbreiten', sagt Ben Mhenni und fügt hinzu, dass sie sich entschieden hat, unter ihrem wirklichen Namen zu bloggen. 'Selbst wenn man ein Pseudonym benutzt, finden sie einen', meint sie. Man kann anderen ein Beispiel geben. Sie sagen dann: Seht, sie hat keine Angst.'"

Weiteres: Daniel Lyons erklärt Rupert Murdoch neue Online-Strategie: "Worauf es ankommt, ist Knappheit. Im Netz gibt es keine." Und Dan Ephron stellt den israelisch-palästinensischen Schriftsteller Sayed Kashua vor, der es schafft, mit seinen Haaretz-Kolumnen und Romanen Israelis und Palästinenser gleichermaßen gegen sich aufzubringen.
Archiv: Newsweek

Open Democracy (UK), 17.01.2011

Unter all den vielen Botschaften, die der Sturz des tunesischen Regimes in die Welt aussendet, ist auch eine für den Westen dabei, glaubt Mohammed Hussainy, Direktor des Identity Centers in Amman: "Obwohl sie sich unter dem Vorwand, dem irakischen Volk gegen die Diktatur Saddam Husseins zu helfen, an der Besatzung des Irak beteiligt haben, hielten sich die USA und viele europäische Länder zurück, Demokratie voranzutreiben und behielten eine nebulöse Haltung gegenüber dem, was in Tunesien stattfand. Sie haben es nicht geschafft, ihre Unterstützung für Ben Alis Regime zu rechtfertigen - was nur ein Beispiel dafür ist, dass diese Demokratien nichtdemokratische Regime unterstützen, um ihre eigenen Interessen zu wahren."
Archiv: Open Democracy
Stichwörter: Irak, Tunesien, Hussein, Saddam

New York Times (USA), 16.01.2011

Vor Angola hat man ein riesiges Erdölreservoir gefunden. Vielleicht. Benjamin Wallace-Wells erzählt im Sunday Magazine aus der Sicht von Geologen und Ingenieuren, was es bedeutet, einen Teil der geschätzten letzten 650 Milliarden Barrel Öl auf der Welt zu finden und an Land zu pumpen: Man muss die fliegenden Kühe einschätzen. "Es gibt ein Element von Unsicherheit in jedem komplizierten Ingenieurs-Vorhaben. 'Im Juli 2003 wurde im Pazifik ein japanisches Fischerboot von einer fliegenden Kuh versenkt', erzählte mir Robert Bea. Bea ist Professor für Tief- und Umweltbau in Berkeley und ein führender Forscher zu Risiken. Er hat außerdem viele Jahre in der Forschung und im Management von Shell gearbeitet. Die Kuh, stellte sich heraus, war Teil eines illegalen Viehhandels zwischen Anchorage und Russland. Als das Flugzeug sich seinem Zielort näherte, wurden die Schmuggler nervös und fingen an, ihre Fracht aus dem Flugzeug zu schubsen. 'Keine Risikoanalyse kann jemals perfekt sein. Niemand kann eine fliegende Kuh vorhersehen.'"

Außerdem: In der Titelgeschichte fragt Paul Krugman, ob die europäischen Demokratien die gemeinsame Währung retten werden oder das europäische Projekt sterben lassen. Steven Erlanger beschreibt das sehr komplizierte Verhältnis zwischen Nicolas Sarkozy und Angela Merkel und endet mit einer Prognose des ehemaligen amerikanischen Botschafters in Berlin, John Kornblum: Der "sieht die Vereinigten Staaten als Vorbild für Deutschland - wegen ihrer Fähigkeit, Europa nach dem Krieg zusammenzuhalten, bei Meinungsverschiedenheiten zu vermitteln und Kompromisse zu finden. 'Die Deutschen verstehen das noch nicht', sagt er. 'Aber sie werden die Rolle der Vereinigten Staaten in Europa und die ausgleichende Rolle, die wir lange Zeit hatten, übernehmen müssen.' In dem Moment wird Deutschlands Ehe mit Frankreich nicht mehr eine so große Rolle spielen."

In der Sunday Book Review versucht Ian Buruma den Übertreibung von Michel Houellebecq und Bernard-Henri Levy in "Volksfeinde" etwas Komisches abzugewinnen, schafft es aber nicht: "As the people Houellebecq has always supported like to say: 'Oy vey!'" Jessica Kerwin Jenkins stellt eine Geschichte von Chanels No. 5 vor. Und Francine Prose bespricht Colm Toibins Roman "The Empty Family".
Archiv: New York Times