Magazinrundschau

Was ist ein Buch?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
26.04.2011. Gigaom informiert über neue Publikationsformen für journalistische Artikel. Tehelka berichtet über neue Widerstandsformen gegen als unfair empfundene journalistische Berichterstattung. In Le Monde streiten sich Tariq Ramadan und Abdelwahab Meddeb über die Rolle des Islams bei den arabischen Aufständen. Wie gut war die alte ungarische Verfassung, wenn sie ihre eigene Demontage erlaubte, fragt Elet es Irodalom. Die LRB stürzt sich in den Hoppelpoppel von Mark Twains Autobiografie. Die NYRB erklärt, warum libysche Islamisten Osama bin Laden ablehnen.

Gigaom (USA), 22.04.2011

Der interessanteste Magazin-Artikel der Woche steht nicht online und irgendwie doch. Es handelt sich um Jon Krakauers bestürzende Recherche "Three Cups of Deceit", die den in Amerika höchst populären Philanthropen Greg Mortensen als Schwindler und Betrüger entlarvte. Mortensen hat in Afghanistan und Pakistan Schulen gebaut - aber die Geschichten, die er darüber erzählte, waren falsch, die meisten Schulen stehen leer, und die Spenden seiner Organisation CAI wirtschaftete er zum großen Teil in die eigene Tasche. Krakauer hat seine Recherche bei dem neuen "Verlag" Byliner als "Kindle Single" veröffentlicht: Man kann seine Reportage, die siebzig Buchseiten entspricht, für etwa 3 Euro bei Amazon kaufen.

Für Mathew Ingram stellt sich durch diese neue Publikationsform die Frage: "Was ist ein Buch?" Neue Dienste wie Byliner oder The Atavist (Website) publizieren ausführliche journalistische Artikel in Ebook-Format, schreibt er. Diese beiden Unternehmen "stellen sich in einen Markt, in dem auch Amazon mit seinen 'Singles' selber tätig ist, kurzen buchähnlichen Formaten, die praktisch jeder produzieren kann. So hat der Blogger und Hunch.com-Gründer Chris Dixon jüngst alle seine Blogeinträge zum Thema Risikofinanzierung zu einem Ebook zusammengefasst und bei Amazon herausgebracht. .. Gleichzeitig machen manche Autoren durch Self-Publishing Milionen. Amanda Hocking wurde in der Branche in den letzten sechs Monaten berühmt, weil sie mit ihren Jugendbüchern über zwei Millionen Dollar eingenommen hat."
Archiv: Gigaom

Le Monde (Frankreich), 22.04.2011

Le Monde bringt ein spannendes Steitgespräch zwischen dem milden Islamisten Tariq Ramadan (dessen Großvater Hassan al-Banna die Muslimbrüder gründete) und dem säkularistisch gesonnenen Erforscher der islamischen Zivilisation Abdelwahab Meddeb. Ramadan will in den Revolten auch einen religiösen Aspekt erkennen: "Unsere Analysen sind von Islamismusfurcht zur Leugnung des Islams umgeschlagen. Aber diese Revolutionen haben sehr wohl einen islamischen Aspekt: Sie werden nicht im Namen des Islams gemacht, aber die Werte, um die es ihnen geht, stehen nicht im Widerspruch zum Islam. Es handelt sich um universelle Werte, nicht um westliche Werte, die dem Islam fremd sein könnten." Meddeb sieht es anders: "Die Frage des religiösen Aspekts hat sich gar nicht gestellt. Diese Ereignisse haben nichts mit religiöser oder kultureller Identität zu tun. Es sind Revolten gegen eine Situation, in der die mindesten Rechte des Individuums nicht gewährleistet waren. .. Und es gibt nicht tausend Arten, eine Demokratie zu werden. Warum soll man sich von den westlichen Erfindungen distanzieren? Sie gehören der Menschheit."
Archiv: Le Monde

Elet es Irodalom (Ungarn), 22.04.2011

Kürzlich hat das ungarische Parlament die neue umstrittene Verfassung der Orban-Regierung verabschiedet. Kritiker bemängeln nicht nur die Schwachstellen des Textes. Sie sind oft auch der Ansicht, dass eine neue Verfassung unnötig war, weil das bisherige Grundgesetz die parlamentarische Demokratie durchaus garantiert habe. Der Publizist Janos Szeky sieht das - bei aller Kritik an der neuen Verfassung - anders: Bei den insgesamt 369 freien Parlamentswahlen, die in den 27 EU-Ländern seit 1945 stattgefunden haben, kam es nur ein einziges Mal vor, dass nach einer zwanzigjährigen parlamentarischen Demokratie eine einzige Partei die Zweidrittelmehrheit errang - 2010 in Ungarn. Wenn die alte Verfassung eine derartige Selbstdemontage erlaubte, wie kann sie dann gut gewesen sein? fragt Szeky. "Dass eine Partei an die Macht kommt, die die Pluralität von Meinungen und Interessen verachtet, wurde vom 1989 geschaffenen und in manchen Punkten geänderten System nicht nur ermöglicht, es hat geradezu automatisch dazu hingeführt. Die Fidesz-Partei griff dieses demokratische System nicht von außen an, wie irgendein barbarischer Eroberer, sondern mutierte innerhalb des Systems zu solch einem Angreifer. Bis zu den Wahlen von 2010 hatte sie die Grenzen der konstitutionellen Ordnung nicht überschritten [...] Ich behaupte nicht, dass die mit der neuen Verfassung entstehende politische Situation besser sein wird als die vorherige. Fest steht aber, dass sich das System von '89 in einer permanenten Krise befand und dass die Einparteienmacht und die neue Verfassung, die diese Macht kodifiziert, eine Antwort darauf ist - und zwar eine aus dem bisherigen System logisch folgende Antwort. Sie ist der Abschluss der Selbstzerstörung."

Tehelka (Indien), 30.04.2011

Nisha Susan berichtet von einer Konferenz südasiatischer FeministInnen in Nepal. Sie verfährt dabei insgesamt sehr summarisch, interessant aber ist eine einzelne Geschichte, die sie erzählt. Es geht darin um die britische Journalistin Sarah Harris, die - so Susan - in einer Dokumentation über SexarbeiterInnen nicht nur üble Klischees verbreitete, sondern auch noch eine Frau als HIV-positiv outete. Die Organisation Veshya Anyay Mukti Parishad (VAMP), die Harris Zugang gewährte und sich verraten fühlt, schlug daraufhin zurück: "Das Kollektiv produzierte einen kurzen und bündigen Video-Gegenschlag und postete ihn bei YouTube - das ist ein bemerkenswertes Dokument. Mehrere Mitglieder des Kollektivs sprechen direkt in die Kamera und konfrontieren Harris, wo immer sie ist, mit ihrem Rassismus, ihrer Manipulation der Fakten und ihrer schieren Ignoranz. 'Sind wir in Dein Haus gekommen und haben Deinen Gott beleidigt? Hast Du der jungen Frau gesagt, dass Du alle Welt über ihre HIV-Erkrankung informieren willst?' Die erste Wirkung des Videos war, dass Harris das Outing aus ihrem Film genommen hat. Eine Entschuldigung der Filmemacherin gab es bislang nicht, aber fast 10.000 Menschen haben das Antwortvideo von VAMP bislang gesehen."
Archiv: Tehelka
Stichwörter: Nepal, Rassismus

London Review of Books (UK), 28.04.2011

Erst hundert Jahre nach seinem Tod solle seine Autobiografie in ungekürzter Fassung veröffentlicht werden, verfügte Mark Twain testamentarisch. Das Jahrhundert ist um, der erste Band nun in einer wissenschaftlich edierten Fassung erschienen. Ein geschlossenes Werk ist das nicht, manches daraus kannte man schon. Dennoch hat Thomas Powers das Buch mit einiger Begeisterung gelesen: "'Autobiografie' war das Wort, das Twain selbst für sein Projekt benutzte. Einige frühere Versuche hatte er schnell abgebrochen, aber im Jahr 1904 in Florenz - wohin er seine todkranke Frau in der Hoffnung auf Erholung gebracht hatte - kam er 'auf die richtige Methode, eine Autobiografie zu schreiben'. Das hieß freilich: Sie überhaupt nicht im konventionellen Sinne zu schreiben, sondern sie zu diktieren, ohne jeden vorgezeichneten Plan, einfach nur das zu sagen, was ihn im Moment interessierte - Geschichten aus der tiefen Vergangenheit, Anekdoten von Freunden, Empörendes in der Zeitung vom Morgen. (...) Dieses Buch ist ein Hoppelpoppel, aber es ist reiner Twain, und oft auch allerbester Twain, genau so, wie er es hinterlassen hat. Manche Rezensenten scheinen irritiert von der Überfülle, der Unordnung und der schwankenden Qualität, aber ich finde, das ist so, als beschwerte man sich darüber, dass ein Wörterbuch zu viele Wörter hat, darunter allzu viele langweilige."

Weitere Artikel: Mit einiger Skepsis liest Will Self das Buch des Journalisten Greg Lindsay über die "Aerotropolis"-Zukunftsvisionen John Kasardas von einer Welt der flughafenbasierten Instant-Verschickungs-Zivilisation. In England steht eine Teil-Privatisierung der Royal Mail bevor - James Meek ist nach Holland gereist, um die katastrophalen Folgen eines Post-Privatisierungsprojekts zu begutachten. Michael Wood hat noch und wieder einmal Eisensteins Klassiker "Panzerkreuzer Potemkin" gesehen.

Magyar Narancs (Ungarn), 14.04.2011

Die neue Verfassung und der sich darin manifestierende Umgang mit der Armut wird verheerende Folgen für die Gesellschaftspolitik des Landes haben, glaubt der Abgeordnete der Grünen-Partei LMP, Gabor Scheiring: Beispielsweise sei das Recht auf Arbeit nicht mehr im Gesetzestext enthalten, dafür aber die Pflicht zu arbeiten; somit muss also in der neuen Welt jeder einer Arbeit nachgehen, während die Schaffung der Arbeitsmöglichkeiten allein dem Markt überlassen wird. Sozialleistungen werden indes an "für die Gesellschaft nützliche Tätigkeiten" gebunden - sprich, der Staat garantiert keine Arbeit, und wer auf dem Arbeitsmarkt keine Beschäftigung findet, kann künftig auch auf Sozialhilfen nicht zählen. Für Scheiring ist das ein Rückfall ins Mittelalter: "In der Tat ist die Kombination aus demokratischem Sozialstaat und Marktwirtschaft angeschlagen, aber eine Kehrtwendung ist die schlechtest mögliche Antwort darauf. Soziale Staatsbürgerschaft, ökologische Nachhaltigkeit und die finanzpolitische Verantwortung gegenüber zukünftige Generationen bilden den Kern der ökopolitisch geprägten Gesellschaftsphilosophie. Viktor Orban ist dabei, deren wichtigste Komponenten aus dem Fenster zu werfen. Er richtet seinen Blick lieber in den die Moderne grundsätzlich ablehnenden Orient, in eine Welt der Hierarchie und der auf ewig geltenden Kaste."
Archiv: Magyar Narancs

New Republic (USA), 21.04.2011

Mit großer Begeisterung hat Alan Wolfes Lawrence Scaffs Buch über Max Weber in Amerika gelesen. Gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen dem "tiefen" deutschen Soziologen und einem Amerika auf der Schwelle zum Flappertum? Weber besuchte 1904 für drei Monate Amerika. Scaffs Beschreibung dieses Besuchs zeigt Wolfe: "Weber kann nicht verstanden werden ohne seine Erfahrungen in diesem Land einzubeziehen. Und Amerikas spezieller Weg in die Moderne ist schwer zu verstehen ohne in Webers umfangreiches Werk einzutauchen. Wie Antonin Dvorak, der amerikanische Spirituals und Folkmusik in seine Symphonien und seine Kammermusik einarbeitete, straft Webers Faszination für alle Aspekte des amerikanischen Lebens die Behauptung Lügen, die alte und die neue Welt könnten sich nie auf Augenhöhe treffen."
Archiv: New Republic

Guardian (UK), 23.04.2011

Die Autorin Elif Batuman erzählt von einem Abendessen mit Jonathan Franzen und anderen Literaten, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie anfing, berühmt zu werden. Sie hatte einen Essay über Isaac Babels Erzählungen in n+1 veröffentlicht, der die Aufmerksamkeit eines Redakteurs des New Yorker erregte, für den sie schließlich das Porträt eines preisgekrönten thailändischen Kickboxers schrieb, der eine Schule in San Francisco eröffnet hatte. Kurz darauf lernte sie ihre jetzige Agentin kennen, "die ich sehr mag. Sie meinte, es wäre nett, wenn ich mein erstes Buch über die wachsende Szene von Martial-Art-Kämpferinnen in Amerika schreiben würde. Ich wiederum wollte eine literarische Neuauflage von Dostojewskis 'Dämonen' schreiben, angesiedelt in einem Fachbereich für Literaturwissenschaften in Stanford. Von diesen auffallend unterschiedlichen Ausgangspunkten aus begannen wir über das Thema meines Buchs zu verhandeln."
Archiv: Guardian

New York Review of Books (USA), 12.05.2011

In der libyschen Rebellenhochburg Darna trifft Nicolas Pelham eine Reihe ehemaliger Dschihadisten, von denen einige sogar in Guantanamo saßen, die jetzt mit großen Hoffnungen auf - ausgerechnet - Amerika sehen. Abgezeichnet hat sich eine solche Entwicklung schon lange, meint er. "Die Trennung der libyschen, lokal gegen Gaddafi kämpfenden Islamisten vom globalen Dschihad hat sich über längere Zeit vollzogen. Sie begann, als Bin Laden in den späten 80ern seine Vision von einem globalen islamischen Superstaat enthüllte, sie verstärkte sich, als er seinen Krieg gegen Kreuzfahrer und Juden erklärte und kulminierte nach dem 11. September, als einige afghanische Dschihadisten, darunter die Libysche Islamische Kampftruppe sich formell von Bin Laden trennten. Ich stolperte über diesen Konflikt in einem Starbucks in Golders Green, einem Vorort in Nordlondon, der vor allem von Muslimen und Juden bewohnt wird. Das war in den späten 90ern, kurz nachdem Bin Laden seinen Krieg gegen Kreuzfahrer und Juden erklärt hatte. Noman Benotman leitet jetzt einen Think Tank in Großbritannien, Quilliam, und trägt einen Anzug. Aber damals war er ein libyscher Dschihadistenführer, der zwischen London und Bin Ladens Camp hin- und herreiste. Er sagte, er sei gegen al Qaidas Gewalttaten, weil sie arabischen Autokraten wie Gaddafi einen Vorwand liefern, lokale islamistische Bewegungen mit westlicher Unterstützung niederzuschlagen."

Weitere Artikel: Kwame Anthony Appiah bespricht Peter Firstbrooks Buch über die Familie Obamas. Jonathan Raban schreibt über David Foster Wallaces "The Pale King". Lorrie Moore hat zwei autobiografische Bücher über den Tod von Familienangehörigen gelesen.