Magazinrundschau

Mit persönlicher Note

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.10.2011. La regle du jeu feiert das Fleisch des Coucou de Rennes. In Babelia bittet der Philosoph Javier Goma Lanzon: Seien Sie höflich, lügen Sie. Im Espresso findet Umberto Eco ein Lexikon der Wendehälse von 1815. In der NYRB bekommt Saul Bellow einen weisen Ratschlag. Die Lettre feiert die luststeigernde Parfümkultur Arabiens. Die NYT rechnet das Kidnappinggeschäft durch.

New York Review of Books (USA), 27.10.2011

Die NYRB druckt erstmals einen - 1988 nur mündlich gehaltenen - Vortrag von Saul Bellow zum Thema "A Jewish Writer in America". Das war schon ein Problem für die amerikanischen Kritiker, und erst für die jüdischen! "In den Fünfzigern besuchte ich S. Agnon in Jerusalem. Als wir zusammen beim Tee saßen und auf Jiddisch plauderten, fragte er mich, ob ich ins Hebräische übersetzt worden sei. Bis jetzt war ich es noch nicht. Er meinte mit seiner liebenswerten Durchtriebenheit, das sei ein Unglück. 'Die Sprache der Diaspora wird nicht überleben', erklärte er mir. Ich hatte das Gefühl, die Ewigkeit schwebte über mir und fühlte mich sehr unbedeutend. Trotzdem verlor ich nicht meine Geistesgegenwart, und um seinem Witz Feuer zu geben und die Konversation aufrechtzuerhalten, fragte ich ihn: 'Was wird aus Dichtern wie dem armen Heinrich Heine?' Agnon antwortete: 'Er wurde wunderbar ins Hebräische übersetzt. Sein Überleben ist gesichert.'" Das ist tröstlich, denn im Deutschen Klassiker Verlag wurde Heine ignoriert.

Außerdem: Hugh Eakin schickt eine Reportage aus Qatar.

La regle du jeu (Frankreich), 10.10.2011

Und weiter geht es mit dem Projekt der insgesamt fünf Wochen dauernden Fleischverherrlichung, in deren Rahmen auf der Seite täglich ein erklärter Fleischliebhaber zu Wort kommt. Zuletzt schilderte unter anderem Jean-Louis Olivier unter der Überschrift "Die drei Tage des Schweins" eine ländliche Sauschlachtung, wie sie früher stattfand. Der bretonische Geflügelzüchter Paul Renault singt dagegen eine Hymne auf die Hühnerrasse Coucou de Rennes, die er auf Anregung von drei französischen Spitzenköchen - "das ist das Huhn meiner Großmutter, ich aß es in meiner Kindheit" - zu züchten begann. "Mit den Leuten vom Eco Musee Rennes haben wir in den Archiven recherchiert, wie man das Coucou de Rennes aufzieht, die Entartung der Rasse durch unpassende Kreuzungen vermeidet, wie man sein schönes graues Gefieder mit einer wie beim Kuckuck gesprenkelten Brust, von dem es auch seinen Namen hat, bewahrt." (Sollte ein Huhn mit dem Namen Coucou de Rennes nicht eher auf der Bühne als in der Pfanne landen?)
Archiv: La regle du jeu
Stichwörter: Schwein, Rasse, Schweine

Babelia (Spanien), 08.10.2011

Der spanische Philosoph Javier Goma Lanzon (mehr) hat einen guten Rat nicht nur für SPD und Grüne: "Jahrhundertelang hat man von den Menschen nicht Ehrlichkeit, sondern Tugendhaftigkeit erwartet. Im 18. Jahrhundert jedoch beschlossen eben diese Menschen, u. a. mit Rousseau und Goethe, ihre einzige Pflicht sei es, 'sie selbst' zu sein. Seitdem genießen die Dreisten und Unverschämten, indem sie offen hinausposaunen, dass sie nun einmal so seien, wie sie sind, nahezu völlige Unangreifbarkeit, und wir anderen müssen die Folgen ihrer Bekenntnisfreude geduldig hinnehmen. Schon Moliere hat im 'Menschenfeind' die Auswüchse dieser Haltung lächerlich gemacht. Ich stimme ihm zu, heute mehr denn je: Wir brauchen die wohltuende Verstellung, das gelegentliche Einknicken und Nachgeben, die frommen Lügen, die das Leben liebenswert machen, weil sie einen glauben lassen, dass beide Seiten sich wohlwollend gegenüberstehen. Mir ist die menschenfreundliche Lüge jedenfalls lieber als die menschenfeindliche Ehrlichkeit."
Archiv: Babelia
Stichwörter: Menschenfeind, Moliere

Lettre International (Deutschland), 01.10.2011

Siham Bouhlal widmet sich ausführlich der Parfümkultur Arabiens. Die ist sehr poetisch, manchmal sehr religiös und manchmal auch sehr wissenschaftlich: "In seiner erotologischen Abhandlung 'Dschawami alladha' (Die vollkommene Erfüllung der Lüste) verrät uns der Kosmograph und Geograph al-Qazwini (1203-1283) eine Reihe von Rezepturen auf der Basis von Düften, die im wesentlichen bewirken, dass sich Vagina und Uterushals zusammenziehen und kräftigen, ihre Feuchtigkeit sich verringert und die Lust der beiden Partner sich auf diese Weise steigert." Leseprobe hier.

Smithsonian Magazine (USA), 01.10.2011

Das Moma feiert gerade den niederländisch-amerikanischen Willem de Kooning in einer großen Retrospektive. Mark Stevens porträtiert den mit 22 Jahren von Holland nach Amerika eingewanderten Maler, der fest glaubte, "man muss sich ändern, um derselbe zu bleiben". Stevens zeichnet diese Veränderung nach, zum Beispiel in den späten Vierzigern, als de Kooning plötzlich schwarz/weiße Bilder malte: "Obwohl sie grundsätzlich abstrakt sind, blieben de Koonings verzwickte Bilder voll flüchtig erhaschter Blicke auf menschliche Körperteile und Gesten; die Bilder von Pollock vermittelten die transzendente Ahnung der Weltloslösung. Die Titel der beiden großartigsten Bilder in de Koonings Schwarzweißserie, 'Attic' (siehe oben) und 'Excavation', legen nahe, dass der Künstler nicht darauf aus ist zu vergessen, was die Welt vergraben oder zur Seite geschoben hat. (De Kooning erfreute sich zweifellos an der implizierten Bedeutungsunschärfe der Titel. 'Attic' beispielsweise kann sich auf einen wirklichen Dachboden beziehen, die Höhen des Himmels meinen oder an das alte Griechenland erinnern.) Jedes Gemälde ist voller figurativer Störungen - eine gewendete Schulter hier, die Kurvenlinie einer Hüfte dort, doch ein einzelner Körper lässt sich in beiden Bildern nicht ausmachen. 'Selbst abstrakte Formen', sagte de Kooning, 'müssen ein Ebenbild haben.'"

Espresso (Italien), 03.10.2011

Nachdem die italienische Wikipedia ihren aufsehenerregenden Online-Protest gegen geplante Gesetzesänderungen erst einmal heruntergefahren hat, macht Umberto Eco munter weiter mit seinen Sticheleien gegen die Regierung. Seine Munition holt er sich aus einem Antiquariatskatalog, der einige Kuriositäten birgt und Silvio Berlusconi nicht nur wegen der Körpergröße näher an Napoleon heranrückt. "Der Titel, der mich wirklich vom Stuhl gehauen hat, weil er so gegenwärtig erscheint, ist 'Das Wörterbuch der Wetterfahnen' von Aymery Alexis. Der vollständige Titel der zweiten Auflage von 1815 lautet : 'Das Lexikon der Wendehälse... Ein Werk, in dem Diskussionen Verlautbarungen, Lieder, Auszüge aus Schriften, die über die Regierenden in den vergangenen 25 Jahren erschienen sind und in denen die Posten, die Gefälligkeiten und die Titel vermerkt sind, die Politiker, Schriftsteller, Generäle, Künstler, Sänger, Bischöfe, Präfekten, Journalisten, Minister und so weiter unter gewissen Umständen erhalten haben....'. Es ist ein riesiges biografisches Lexikon, das sich von Fouche über Murat (der die Treue auf die Republik geschworen hatte nur um später unter Napoelon König von Neapel zu werden) bis zu Chateaubriand und anderen bekannten Opportunisten spannt, die von Napoleon bis zur Restauration mit dem Wechseln der Loyalität nie Probleme hatten. Also, nichts Neues unter der Sonne."
Archiv: Espresso

Magyar Narancs (Ungarn), 29.09.2011

Der ungarische Philosoph Janos Kis, eine der emblematischen Figuren der Wende von 1989, hegt eine gewisse Zuversicht, dass Viktor Orbans antidemokratischer Kurs aufgehalten werden kann: "Es kommt das Land teuer zu stehen, dass die Mehrheit der Ungarn bei den Wahlen 2010 Orban freie Hand zur Zerschlagung der Verfassung und zur Zerrüttung der Wirtschaft gegeben hat ... Eines aber haben wir dazugelernt. Die Befürworter der Wende gerieten in den letzten Jahren in die Defensive und konnten den demokratischen Rechtsstaat und die kapitalistische Marktwirtschaft nur durch komplizierte Erklärungen verteidigen - wenn überhaupt. Jetzt könnte sich diese Situation grundlegend ändern. Nach dem schrecklichen Abenteuer der 'Wahlkabinenrevolution' können die Ideen der Wende erneut in einfachen, allgemein verständlichen Slogans formuliert werden: Kein Wohlstand ohne Freiheit. Keine Existenzsicherheit ohne Rechtssicherheit. Keine Rechtssicherheit ohne unabhängige Justiz. Keine Gerechtigkeit ohne Einhaltung der Gesetze. Keine Demokratie ohne Pressefreiheit. So einfach ist das."
Archiv: Magyar Narancs

Economist (UK), 08.10.2011

Sein größter Erfolg ist es gewesen, aus rein funktionalen Gadgets etwas mit persönlicher Note zu machen, was die Leute lieben, steht in der Hommage an Steve Jobs. Und: Die Ära solcher persönlicher Technologie steht in mancher Hinsicht überhaupt noch an ihrem Anfang. Ohne das charismatische Oberhaupt ist Apples Rolle darin indes zumindest ungewiss: "Die Ankündigung eines neuen iPhones diese Woche vom neuen Managment unter Tim Cook, der im August Steve Jobs' Position übernahm, wurde zwar gemeinhin als kompetent, aber uninspiriert eingeschätzt. Ohne Steve Jobs, der seinen Sternenstaub über die Veranstaltung verstreut, fühlte sie sich einfach nur wie eine weitere Produkteinführung eines gewöhnlichen Technologieunternehmens an. Bei der kürzlichen Entschleierung eines Tablets von Jeff Bezos von Amazon, dessen Unternehmen sich derzeit bestens anschickt, an Apples Spitzenposition beim Kombinieren von Hardware, Software, Content und Dienstleistungen in einem leicht zu bediendenden Gesamtpaket aufzuschließen, wurde einiges von Apple übernommen. Aber indem er Mr. Jobs imitierte, schmeichelte Mr. Bezos ihm auch. Jetzt, da Mr. Jobs gestorben ist, ist Apple nur eins von vielen Technologieunternehmen, die mit ihren neuen Produkten versuchen, darin dessen unbändigen Geist heraufzubeschwören."

Vor allem immer mehr Regionalzeitungen richten Paywalls ein. Ein kurzer Artikel umreißt einige Hintergründe.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 09.10.2011

388 quälende und quälend langweilige Tage wurden Rachel und Paul Chandler von somalischen Piraten gefangen gehalten, erzählt Jeffrey Gettleman in einer spannenden, vom Comickünstler Wesley Allsbrook illustrierten Reportage im Sunday Magazine, in der man viel über das Kidnapping-Geschäft lernt. "Was man in Adado wusste, war dass ein junger Aufsteiger namens Buggas die Chandlers nach Amara gebracht hatte, einen kargen Flecken nahe der Küste, und dass die Einwohner von Amara hinter ihm standen. Lokale Unterstützung ist entscheidend, denn Geiselnahmen sind - besonders wenn sie lange dauern - sehr kostspielig. Die Geiseln müssen ernährt und streng bewacht werden, damit rivalisierende Piratengangs oder islamistische Milizen sie nicht ihrerseits kidnappen. Paul Chandler schätzt, dass es Buggas rund 20.000 Dollar im Monat kostete, ihn und seine Frau als Geiseln zu halten: am Tag 300 Dollar für Khat, 100 Dollar für Ziegen und wahrscheinlich noch einmal mehrere hundert Dollar für Tee, Zucker, Milchpulver, Benzin, Munition und andere Vorräte. Dann müssen die Leute bezahlt werden - im Falle der Chandlers bedeutete das Bargeld für den Piratentrupp und die rund 30 Handlanger, die sich als Wächter abwechselten. Obendrauf kommen die Dolmetscher, die eine happige Gebühr verlangen, um mit den Geiseln zu kommunizieren und das Lösegeld auszuhandeln. Piraten führen ihre Geschäfte meist auf Pump."

Weiteres: Höchst bedeutsam findet der Bioethiker Peter Singer in der Sunday Book Review das neue Buch von Steven Pinker, demzufolge die Entwicklung der Menschheit durchaus positiv verläuft, die Vernunft zunimmt, Gewalt und Grausamkeit dagegen schwinden: Selbst in Detroit sei die Mordrate nicht mehr höher als bei besonders friedfertigen Völkern wie den malaysischen Semai, den zentralarktischen Inuit oder den Kung der Kalahari. Charles McGrath meldet, dass Christopher Hitchens von der Atheist Alliance of America zum Freidenker des Jahres gekürt wurde.
Archiv: New York Times