Magazinrundschau

Das Kulturerbe der Muppets

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.11.2011. Eltern können sich ändern, sogar, wenn sie irisch-katholisch sind, erzählt Anne Enright in der Montreal Gazette. Im Iran redet man, um zu schweigen, erklärt Amir Hassan Cheheltan in Guernica. Das TLS liest, wie sich Samuel Beckett gegen James Joyce behauptete. 1000 Belgier schaffen mehr als eine Regierung, behauptet das Manifest des G1000. "Das System gefällt uns nicht!" ruft Magyar Narancs

Montreal Gazette (Kanada), 07.11.2011

Das Gespräch mit Anne Enright hätte bestimmt gewonnen, wenn sich Interviewer Ian McGillis für die Antworten der Autorin interessiert hätte. Aber immerhin, sie vermittelt doch einen guten Eindruck von den Auseinandersetzungen, die sich in den letzten dreißig Jahren in irischen Familien abgespielt haben: "Meine Generation wurde so etwas wie die verlorene Generation. Die Menschen, mit denen ich 1985 auf dem College meinen Abschluss machte, haben fast alle das Land verlassen, einige, weil sie die klaustrophobische und moralisch unrealistische Umgebung nicht aushalten konnten. Aber man sieht eine allmähliche Veränderung, wenn auch die Eltern ihre Sichtweise verändern. Die Welt, in der sie heute leben, hätten sie sich niemals vorstellen können, und sie müssen mit Menschen klarkommen, die nicht existierten, als sie aufwuchsen. Zum Beispiel Lesben. Nur Protestantinnen waren damals lesbisch und nur reiche Frauen. So wurden sie mit dem Aufwachsen ihrer Kinder permanent gezwungen, verschiedene Leute als Menschen anzuerkennen, unabhängig davon ob diese gesellschaftlich korrekt waren. Sie hatten furchtbare Angst davor, dass man in der Gosse landet, wenn man aus der Reihe fällt, weil es das war, was ständig passierte."
Stichwörter: Enright, Anne

Guernica (USA), 01.11.2011

Wie kann man ein moderner iranischer Autor sein, ohne westlich zu sein, möchte Shiva Rahbaran von Amir Hassan Cheheltan wissen. Angesichts der Situation im Iran, die Cheheltan beschreibt, kommt einem diese Frage etwas seltsam vor: "In der iranisch-islamischen Kultur gibt es etwas, das man Taqiyeh nennt. Es bedeutet, dass man schweigt, nicht protestiert, nichts sagt, damit man weiterleben kann, um es sagen zu können, wenn sich die Situation verbessert hat. Mehr noch, nicht direkt zu sagen, was man meint, ist im Iran aus historischen Gründen tief verwurzelt. Es ist schwer zu wissen, wem man trauen soll; nicht den Nachbarn, nicht den Kollegen, nicht den Kommilitonen, nicht einmal dem eigenen Ehepartner. Wir reden viel, natürlich, aber nur, um einen wesentlichen Teil der Fakten zu verbergen, das ist zu einem sozialen Charakterzug geworden."

Iraj Isaac Rahmim, Schriftsteller und amerikanischer Jude iranischer Abstammung, hat seine Geburtsstadt Teheran besucht, wo er erst einen Besuch im leicht surrealen Museum für moderne Kunst macht und dann von einem vermeintlichen Bassidschi verfolgt wird. Bei der Gelegenheit erfahren wir, dass der schiitische Humor kein Stück prüder ist als der jüdische: "Eins der Dinge, die ich an den Iranern am meisten liebe, ist ihre kreative und dem Ereignis angemessene Art zu fluchen. Einmal saß ich in einem Taxi, das von einem privaten Auto geschnitten wurde - ein Anschlag auf die Männlichkeit jedes Teheraner Cabbies. Mein Taxifahrer reihte sich neben dem Auto ein, kurbelte die Scheibe herunter, bedeutete dem anderen Fahrer dasselbe zu tun und rief: 'Möge Gott deine Schwester ficken, denn ich habe dazu heute keine Zeit.'"
Archiv: Guernica

Eurozine (Österreich), 02.11.2011

Belgien ist seit dem 13. Juni 2010 ohne Regierung. Eine Gruppe von belgischen Aktivisten hat jetzt eine Idee, wie man diese Lücke füllen kann: 1000 zufällig ausgewählte belgische Bürger sollen am 11. November in Brüssel über die Zukunft ihres Landes beraten. In Island hat das schließlich auch geklappt. "In Island wurde 2011 selbst das Schreiben eines neuen Grundgesetzes 25 Bürgern anvertraut. Bürger, die die Chance haben, miteinander zu sprechen, können, sofern sie Zeit und Informationen erhalten, rationale Kompromisse schließen. Das glückte selbst im tief gespaltenen Nordirland. Katholiken und Protestanten, die ansonsten wenig miteinander redeten, schienen imstande zu sein, für so heikle Themen wie Unterricht Lösungen zu finden."
Archiv: Eurozine

Magyar Narancs (Ungarn), 27.10.2011

Am 23. Oktober, dem Jahrestag der Revolution von 1956, fand in Budapest unter dem Motto "Nem tetszik a rendszer!" ("Das System gefällt uns nicht!") eine Großdemonstration gegen die Regierung statt - mit mehreren 10.000 Teilnehmern und mitgetragen von verschiedenen Organisationen, darunter von der 2006 gegründeten "alternativen Jugendbewegung" 4K!, der Szolidaritas und der Facebook-Gruppe Milla ("Eine Million [Menschen] für die Pressefreiheit"). Auch Tibor Kovacsy war dabei und fühlte sich wohl: "Die ungeschliffenen, entschiedenen Worte der Redner klingen gut, und während wir den Refrain der Hymne der Demonstration wiederholen, bekommen wir das Gefühl, nicht umsonst zu bibbern, wenn wir uns als eine große Masse für unsere Werte einsetzen. Als Peter Juhasz [der Sprecher der Demo] ankündigt, Milla werde die Wahl eines alternativen Staatspräsidenten initiieren, bricht echte Begeisterung aus."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Pressefreiheit, 1956

HVG (Ungarn), 29.10.2011

Etwas anders sieht dies der Publizist Laszlo Seres, der Vorschläge der Demonstranten für die längst überfälligen Strukturreformen vermisst hat: "Die tatsächlichen oder vermeintlichen wirtschaftlichen Opfer der Fidesz-Ära auf die Straße zu bringen, ist für eine linke Slogans verkündende, aber im Grunde anti- und apolitische Bewegung nicht besonders schwer. Diese Schichten interessieren sich nämlich, brutal ausgedrückt, nur für das Innenleben ihres Geldbeutels, nicht aber für die Demokratie. ? Wie kann es sein, dass im vergangenen Jahr gegen die Verstaatlichung der privaten Rentenkassen und gegen die Erpressung der Versicherten nur einige Hunderte demonstriert haben? Die Nachrichtenagentur Reuters irrt sich, wenn sie meint, die Menschen in Ungarn hätten sich am Wochenende für die 'marktwirtschaftliche Demokratie' eingesetzt. Dem ist nicht so. Was vielmehr geschah, war, dass die nicht gerade kapitalismusfreundliche Regierung eine nicht gerade kapitalismusfreundliche Opposition bekommen hat."
Archiv: HVG

Wired (USA), 01.11.2011

Die enge Kooperation mit diversen MP3-Streaming-Services, allen voran das schwedische, in Deutschland schlechterdings noch nicht nutzbare Spotify, hat Facebook mit seinen Nutzerzahlen schlagartig zum zentralen Faktor im Musikbusiness gemacht, schreibt Steven Levy in einer ausführlichen Reportage, die einen Blick auf die Zukunft von Musik in sozialen Netzen wagt. Dabei erweist sich die im Bereich der Onlinespiele bewährte Facebook-Methode, Fremdentwicklern eine Schnittstelle anzubieten, einmal mehr als effizient: "Da Facebook das eigentliche Streaming seinen Partnern überlässt, muss es gar nicht mit den großen Tieren in der Musikindustrie Lizenzen aushandeln. [...] Für die Endnutzer mag das keinen Unterschied machen - aber Facebook fühlt sich heute mit Sicherheit wie ein Musikservice an."

Jonathan Keats plädiert für eine (bereits erfolglos beantragte) Aufnahme der Wikipedia ins Unesco Weltkulturerbe - und mokiert sich zugleich über die mangelnde Flexibiliät der Kulturstandswahrer im digitalen Zeitalter. Michael Wolff poträtiert den in den USA argwöhnisch beäugten Russen Yuri Milner, der im Silicon Valley einen beispiellosen Aufstieg vom Maccaroni- zum umtriebigsten Social-Media-Investor hingelegt hat und mittlerweile auch das teuerste Wohnhaus der USA bewohnt. Und Andrew Goldman fragt sich, ob ausgerechnet der Schauspieler Jason Segel, bestens geschult im schlüpfrigen bis fäkalen Jungshumor der Judd-Apatow-Schule, der richtige Mann dafür ist, das im Kino zuletzt kaum mehr präsente Kulturerbe der Muppets mit einem neuen Film wiederzubeleben (aber gewiss doch, sagen wir!).
Archiv: Wired

Times Literary Supplement (UK), 04.11.2011

Einen einzigen "embarras de richesse" nennt Alan Jenkins den zweiten Band der Briefe von Samuel Beckett, durch den er sich mit höchster philologischer Gewissenhaftigkeit arbeitet. Erfahren hat er dabei zum Beispiel, wie Beckett James Joyce das Feld streitig machen wollte: "Über Joyce sagte Beckett: 'Je mehr Joyce wusste, umso mehr konnte er.' Von diesem Ideal der Kunst als Allwissenheit, höchster Fertigkeit und Überfülle wandte sich Beckett einer Kunst der, wie Beckett es nannte, Ignoranz und Inkompetenz zu, der Kunst 'des Nicht-Wissers, des Nicht-Könners'."
Stichwörter: Beckett, Samuel, Joyce, James

Bloomberg Businessweek (USA), 03.11.2011

Warum ist TechCrunch-Gründer Michael Arrington unter die Venture-Kapitalisten gegangen? Ganz einfach, schreibt Felix Gillette in einem ausführlichen Porträt über den durchaus umstrittenen Großblogger und zitiert einen anderen Risikofinanzier: "'Der Traum der Unternehmer ist, ein neues Google zu gründen', sagt Chris Dixon, Kopf des Founder Collecticve, eines 40 Millionen Dollar schweren Risikokapitalfonds. 'Die zweitbeste Lösung ist, die Person zu sein, die als erste an Google glaubte.' Er braucht gar nicht hinzuzufügen, dass der erste Blogbeitrag über Google bei weitem nicht so glamourös ist - und bei weitem nicht so profitabel. 'Es ist nun mal sehr viel lukrativer, in Firmen zu investieren als über sie zu schreiben.'" Arrington selbst fügt noch einen zweiten Aspekt hinzu: "Ich mag die Idee, Geld zu investieren, das nicht meines ist, und damit selbst Geld zu verdienen. Kommt mir wie ein gutes Geschäftsmodell vor."

Außerdem in dieser immer lesenswerten Wirtschaftszeitung: David Kamp schickt eine Reportage aus dem italienischen Prato, einer 190.000-Einwohner-Stadt, in der 40.000 Chinesen illegal in Sweatshops arbeiten. Und die interessante Frage, die Kamp dabei stellt: Wird sich etwas an den europäisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen ändern, wenn China die Staatsanleihen der europäischen Länder aufkauft?
Stichwörter: Geld

Telerama (Frankreich), 03.11.2011

Xavier de Jarcy nimmt in Telerama (mit einigen schönen Fotos) eine Anregung aus Michel Houellebecqs Roman "Karte und Gebiet" auf und beschäftigt sich eingehender mit dem Urvater britischen Designs, William Morris, der marxistischen Ideen anhing und im Geiste eines utopischen Sozialismus Stoffe und Tapetenmuster entwarf, die heute allerdings superbürgerlich und unerschwinglich wirken. Die Firma, die er mit anderen Designern gründete, Morris & Co., gibt es immer noch. Jarcy beschreibt Morris' Idee so: Er "möchte den Geist des Mittelalters wiederbeleben, wo 'der größte Künstler doch ein Handwerker und der demütigste Handwerker doch immer ein Künstler war', wie Morris schrieb. Die dekorativen Künste sollen auf das Niveau der so genannten großen Künste, also der Malerei und Skulptur, gehoben werden. So werden die Arbeiter als Kunsthandwerker von der Sklaverei der Maschinen befreit und finden das Glück der Arbeit wieder, indem sie zur Verschönerung der Welt beitragen."
Archiv: Telerama

New York Review of Books (USA), 24.11.2011

Anlässlich einiger Neuerscheinungen beschreibt Eyal Press sehr anschaulich die Proteste in Israel in diesem Sommer. So wie im arabischen Frühling Israel keine Rolle spielte, so zog in Israel diesmal nicht das Sicherheits-Argument, das in der Vergangenheit Diskussionen oft abgewürgt hatte. Das führte dazu, dass sich im Laufe des Sommers immer mehr israelische Araber, die im Durchschnitt eher zur unteren Einkommensklasse zählen, unter die protestierende israelische Mittelschicht mischten: "Mitte August war es nicht mehr ungewöhnlich, bei einer Demonstration einen arabischen Sprecher über Ungerechtigkeit reden zu hören, der stürmischen Beifall von einer vorwiegend jüdischen Menge erntete. Bei einem Protestmarsch demonstrierten arme Araber aus Ajami, einem Viertel in Jaffa, zusammen mit armen Juden aus einem traditionell pro-Likud-Viertel im Süden Tel Avivs. Das hätte sich im Juni kaum jemand vorstellen können."

Cathleen Schine schreibt über Joan Didions Buch "Blue Nights" über den Tod ihrer Tochter: "Das Buch ist geprägt von unermesslicher, unerbittlicher Verzweiflung."