Magazinrundschau

Pakt des Nicht-Lesens

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
31.01.2012. In der französischen Huffington Post erklärt die Philosophin Catherine Clement, warum der Griot Youssou N'Dour kaum Chancen hat, Präsident des Senegal zu werden. Womit haben wir Pitchfork verdient, fragt N+1. Businessweek porträtiert den Albtraum amerikanischer Verleger, Amazons Larry Kirshbaum. Peter Sloterdijk (in Le Monde) und Umberto Eco (im Espresso) denken über das Vergessen nach. Al Ahram begutachtet die Depression der jungen Revolutionäre in Ägypten. Das New York Magazine findet die neuen Dekabristen auch nicht gerade in Hochstimmung vor. Das TLS flüchtet zu den Kaminfeuern des britischen Landadels.

Prospect (UK), 25.01.2012

Im Determinismusstreit zwischen Geistes- und Neurowissenschaften über die Rolle des Gehirns für das Subjekt will sich Roger Scruton weder auf die eine, noch auf die andere Seite schlagen. Stattdessen schlägt er eine Synthese vor: "Die wirkliche, von Evolutionsbiologie und Neurowissenschaft aufgeworfene Frage ist nicht, ob diese Wissenschaften widerlegt werden können, sondern ob wir, was sie zu sagen haben, akzeptieren und dennoch zugleich an den Werten festhalten können, die die Moralität von uns verlangt. Von Kant und Hegel bis zu Wittgenstein und Husserl hat es Versuche gegeben, eine Philosophie der conditio humana zu entwickeln, die abseits der biologischen Wissenschaft verortet ist, ohne zu ihr im Gegensatz zu stehen. (...) Selbst wenn wir die Behauptungen der evolutionären Psychologie annehmen, bleibt das Geheimnis der conditio humana bestehen. Es lässt sich in einer einzigen Frage umfassen: Wie kann ein und dieselbe Sache als Tier erklärt und als Person verstanden werden?"

Jetzt, da Iran Uran anreichern kann, wird die Inkohärenz der iranischen Politik besonders deutlich, findet Ali Ansari. Alexandra Coghlan berichtet von Diskussionen über die ästhetische wie logistische Vereinbarkeit von elektronischer und klassischer Musik.
Archiv: Prospect

Huffington Post fr (Frankreich), 29.01.2012

Die Philosophin Catherine Clement liefert einen interessanten Hintergrund zu den Präsidentschaftswahlen im Senegal, wo die Kandidatur Youssou N'Dours abgeschmettert wurde, weil er angeblich nicht genug Unterschriften präsentieren konnte, die seine Kandidatur unterstützen. Schon vorher, so Clement, waren sich die Senegalesen aber einig, dass er unmöglich Präsident werden könne. Auf die Frage, ob er reüssieren könne, gaben mir "alle meine senegalesischen Freunde die selbe Auskunft: 'Völlig unmöglich. Er gehört der falschen Kaste an.' Ja, einer Kaste... Er ist das Gegenteil eines 'freien Manns'. Youssou N'Dour, unberührbar, wie ein indischer Pariah, Angehöriger einer falschen Kaste, weil seine Mutter eine Griotte war. Denn im Senegal, das sich brüstet, eine egalitäre Demokratie zu sein, existiert seit Urzeiten ein ungerechtes Kastensystem, das Schmiede und Griots diskriminiert. Öffentlich wird Ihnen das keiner sagen. Sie können sogar berühmt und superreich sein, Sie können zum Minister ernannt werden - aber Schwiegersohn eines freien Mannes oder gar gewählter Repräsentant des Landes, auf keinen Fall. Sie spielen in der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Die Schmiede gelten traditionell als Magier, die Griots kennen die Familiengeschichten, die sie besingen, aber gewählt zu werden, ist ihnen verwehrt. Bis jetzt."

n+1 (USA), 01.01.2012

Richard Beck schreibt über eins der erfolgreichsten online-Magazine in den USA: Pitchfork, ein Musikmagazin, das 1995 von Ryan Schreiber gegründet wurde. Trotz seines Erfolgs hat Pitchfork "nicht einen einzigen wichtigen Kritiker produziert", so Beck. Statt dessen hat das Magazin Kritik "in eine Übung für perfekten kulturellen Konsum verwandelt". Aber das passt dann doch wieder - sowohl zur Musik als auch zu den Fans, die beide immer harmloser werden, meint Beck, der sich freundlicherweise mitmeint. "Mit Sufjan Stevens adoptierte Indie kostbaren, pastoralen Nationalismus exakt zur Halbzeit von Bushs Regierung. In M.I.A. feierte Indierock eine Musikerin, deren größter Verdienst es war, verschiedene Katastrophen in der Welt in remixte Popsongs zu verwandeln. Es ist mit anderen Worten eine Art von Musik, die sehr gut darin ist, unangenehme Gespräche zu vermeiden. Pitchfork hat so gesehen Indierock imitiert, inspiriert und ermutigt."
Archiv: n+1

Bloomberg Businessweek (USA), 25.01.2012

Larry Kirshbaum, 67, war lange Zeit Chef der Buchabteilung von Time Warner, hatte in Händchen für Bestseller und galt als der beliebteste Mann der Branche. Aber seit kurzem hat sich diese Sympathie ins Gegenteil verkehrt, schreibt Brad Stone in einem Porträt über Kirshbaum, bei dem jedem Verleger anders werden muss. Jeff Bezos hat Larry Kirshbaum für die Amazon Publishing-Sparte angeheuert und plant für Amazon einige Bestseller. Die Verleger sind höchst beunruhigt: "Amazon könnte ein nicht zu bremsender Wettbewerber für die großen Verlagshäuser sein. Die Erfahrung lehrt, dass Bezos nicht zögern wird, Geld zu verlieren, wenn es darum geht, exklusive Inhalte zu schaffen, die in den Ebookstores von Barnes und Nobles und Apple nicht zu haben sind. Er hat auch unendliche tiefe Taschen, aus denen er Vorschüsse für Autoren zahlen kann. Noch ungemütlicher ist für die Verleger, dass Amazon ihr größter Vertriebspartner ist, so dass sie mit einem Geschäftspartner in Wettbewerb treten müssen."

Le Monde (Frankreich), 30.01.2012

Auf dem Feld akademischer Texte sieht der Philosoph Peter Sloterdijk einen "Pakt des Nicht-Lesens" wirken, der seinerseits für die Anfälligkeit und Neigung zum Plagiat konstitutiv wird. Man müsse davon ausgehen, argumentiert er, dass zwischen 98 und 99 Prozent der im universitären Kontext veröffentlichten Texte in der Erwartung geschrieben wurden, gar nicht gelesen zu werden. "In diesem System führt die unerwartete tatsächliche Lektüre zur Katastrophe. Das Interessant daran ist, dass das, was man tatsächliche Lektüre nennt, angesichts der ungeheuerlichen Lawine der akademischen Textproduktion gar nicht mehr stattfinden kann. Heutzutage sind nur noch digitale Lesegeräte und spezialisierte Suchprogramme in der Lage, als Vertreter des ursprünglichen Lesers mit einem Text ins Gespräch oder ins Nicht-Gespräch zu treten. Der menschliche Leser - nennen wir ihn Professor - schwindet im Gegenzug. Und dies exakt auch insofern, als der Akademiker wie der Experte seit langem dazu verdammt ist, eher Nicht-Leser als Leser zu sein."
Archiv: Le Monde

Espresso (Italien), 25.01.2012

Palo Rossi Monti ist tot. Umberto Eco erinnert an den Pionier der Wissenschaft vom Erinnern. Rossi beschäftigte sich außerdem schon früh mit der "kulturellen Vergesslichkeit" als Folge der Informationsflut. "In seinen Aufsätzen aus den letzten Jahren trieben ihn nicht die Erinnerungsleistungen der Antike um, sondern das heutige Erinnern. Ich möchte an zwei seiner jüngsten Aufsätze erinnern (La storia della scienza: la dimenticanza e la memoria, in Lina Bolzoni, "Memoria e memorie" und "La memoria, le immagini, l'enciclopedia", in Pietro Rossi "La memoria del sapere"). Rossi wusste genau, dass mit der Erfindung des Buchdrucks die Furcht vor dem Vergessen wegen des natürlich-biologischen Verfalls des Gedächtnisses durch eine neue Angst ersetzt wurde: jene vor dem Nicht-Erinnern wegen eines exzessiven kulturellen Datenreichtums (denn die Erfindung des Drucks stellt nicht nur eine enorme Menge an Texten zur Verfügung, sondern macht es für jeden auch sehr einfach, diese anzuzapfen)."
Archiv: Espresso

New York Magazine (USA), 22.01.2012

Unter der Überschrift "Die neuen Dekabristen" porträtiert Michael Idov einige der Organisatoren der großen Demonstrationen in Moskau, denen ihr Erfolg bereits unheimlich zu sein scheint. "'Oh, wir sind völlig durchgedreht', sagt Katja Krongauz über Tee und Eiern in der winzigen Küche ihres Einzimmerappartements, das sie und Ilija Krasilshchik über einem Schönheitssalon in einem sowjetischen Gebäude teilen. Ihr zehn Monate alter Sohn Leva krabbelt vom Wohnzimmer in die kleine Küche und wieder zurück, regelmäßig den Weg der Familienkatze Couscous und des Hundes Fena kreuzend. 'Wir bei der Zeitschrift Bolshoi Gorod quengeln seit zehn Jahren: Wir müssen uns selbst respektieren, wir müssen unsere Rechte respektieren, blah blah blah. Und plötzlich stellt du fest, dass Leute dir zuhören und Zehntausende auf die Straße gehen. Und du hast keine Ahnung, was du tun sollst, denn die Wahrheit ist, dass du total zufrieden damit warst, dir deine Rechte nur selbst zuzubrummeln.'"

Benjamin Wallace-Wells porträtiert den ägyptischen Google-Mitarbeiter Wael Ghonim, der die Revolution mit seiner Facebookseite We are all Khaled Said, die er auch heute ständig aktualisiert, nicht unerheblich beeinflusst hat. Ghonim ist etwas enttäuscht, wie wenig sich verändert hat. Gleichzeitig bekennt er sich absolut zur Demokratie. "'Vielleicht irre ich mich, aber wenn die Menschen sich entscheiden, dass die Muslimbrüder das Land regieren sollen, dann muss man diese Entscheidung respektieren. Das ist die Wahl der Menschen, das ist Demokratie.' Manchmal überrascht ihn der Konservatismus seiner Mitglieder. Im Dezember, als die Militärführung den Ex-Premierminister Kamal Ganzouri zum neuen Premierminister ernannten, dachte Ghonim, sein Publikum diese Wahl hassen. Aber als er eine Umfrage machte, waren 55 Prozent seiner Leser für Ganzouri."

Al Ahram Weekly (Ägypten), 26.01.2012

Dass die jungen Revolutionäre bei den Wahlen so schlecht abgeschnitten haben, lag zum Teil auch an der Diffamierungskampagne der Militärs, die sie als Marionetten ausländischer Gruppen denunzierten, berichtet Mohamed Abdel-Baky. Viele leiden jetzt unter Frustrationen, Depressionen und Enttäuschung, zitiert er einen Psychologen, der weiter sagt: "Ich glaube die meisten der jungen Leute, die am 25. Januar demonstriert haben, fühlen sich verraten. Sie haben schließlich nicht dem Sicherheitsapparat getrotzt und das Regime gestürzt, nur damit sie wieder von einer Gruppe von 65-Jährigen regiert werden."
Archiv: Al Ahram Weekly

Open Democracy (UK), 28.01.2012

N. Jayaram ärgert sich über die Heuchelei indischer Politiker: Einerseits machen sie es Salman Rushdie unmöglich, Jaipur Literary Festival zu besuchen. Andererseits beschweren sie sich in Russland, weil die russisch-orthodoxe Kirche im sibirischen Tomsk ein Verbot der Bhagavad Gita beantragt hatte: "Die Gita gilt unter Hindus als heilig. Die Tagesordnung des indischen Parlaments wurde lange unterbrochen, weil Regierung und Oppositionsführer miteinander wetteiferten, die drohende Zensur im fernen Tomsk zu verurteilen. Das Gericht in Tomsk verwarf schließlich den Antrag."
Archiv: Open Democracy

New Republic (USA), 26.01.2012

Paul Berman erinnert sich, wie er Vaclav Havel 1996 im Schloss interviewte. Vor allem wollte er wissen, was Havel meinte, wenn er Heideggers 'Sein' und einen neuen Multikulti-Gott beschwor. Berman knabbert heute noch daran: "Havel hatte Angst vor dem Atheismus. In seinen Augen war der Kommunismus die Apotheose des Atheismus. Der Kommunismus verführte jeden dazu, sich auf die materiellen Umstände zu konzentrieren und davon zu träumen, diese Umstände zu verbessern, und von nichts anderem zu träumen. Denn warum sollte irgendjemand von etwas anderem als materiellen Verbesserungen träumen? Mehr gab es nicht. ... Die Wahrheit sagen dagegen erforderte einen Glauben an etwas, das materiellen Dingen überlegen zu sein schien. Ein mehr, das besser war als ein Auto und darum etwas, für das man seine Chance auf ein Auto freiwillig aufgab. Aber man musste erklären können, wenigstens vor sich selbst, was so großartig an der eigenen Würde war. Havels 'Sein', wo auch immer seine Herkunft bei Heidegger liegt, war im Grunde eine scharfe Erwiderung auf Marx' berühmte Behauptung, 'Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.'"
Archiv: New Republic

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.02.2012

Der Rechtsprofessor Andreas Fischer-Lescano hat mit seiner Rezension von Karl-Theodor zu Guttenbergs Doktorarbeit in der Zeitschrift Kritische Justiz die Plagiatsvorwürfe ins Rollen gebracht. Im Rückblick für die Blätter zieht Fischer-Lescano recht weitreichende (und ehrlich gesagt leicht melodramatisch anmutende) Konsequenzen aus der Affäre, die er als "Baustein postdemokratischer Desillusionierung" sieht, "in der Politik nur noch der äußeren Form nach demokratisch betrieben wird, in der die sozioökonomischen Realitäten faktisch aber nicht mehr zur Disposition der Gesellschaft stehen. Die Netzwerke aus Politik und Wirtschaft verfolgen zunehmend ihre Partialinteressen ohne Respekt vor den gesellschaftlichen Werten. Demokratie ist damit immer weniger Mittel der Selbstregierung der Regierten, sondern ein Selbstbedienungsinstitut der Regierenden."

Times Literary Supplement (UK), 30.01.2012

Ins Herz der Englishness ist Helen Castor mit Adam Nicolsons Geschichte von 12 Familien des Landadels, "The Gentry", vorgestoßen: "Die Schwierigkeit, den Landadel klar zu definieren, rührt aus der Kluft zwischen Theorie - die treu an einem Adel festhielt, in dem Geburt, Manieren und Landbesitz natürlicherweise zusammentrafen - und der viel chaotischeren Praxis. Denn tatsächlich verbargen die ruhigen Fassaden einer beständigen sozialen Ordnung, in der jeder Mann seinen Platz kannte, den Tumult sozialer Mobilität: Ein Gentleman konnte darauf hoffen, in die erhabene Sphäre der Nobilität aufzusteigen, aber wenn er danebentrat, dann riskierte er, im Gedränge aufsteigender Männer niedergetrampelt zu werden."

New York Times (USA), 29.01.2012

Im Wirtschaftsteil setzen Charles Duhigg und David Barboza die Serie (hier der erste Teil) über Apple in China fort. Diesmal geht es um die miserablen und oft genug lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen in chinesischen Fabriken. 7,31 Milliarden Dollar Gewinn im dritten Quartal 2011 waren Apples Lohn für das souveräne Ignorieren aller Beschwerden. Auch Apples Kunden kümmert es wenig: "Apple ist eine der am meisten bewunderten Marken. In einer nationalen Umfrage der New York Times vom November erklärten 56 Prozent der Teilnehmer, sie wüssten nichts Negatives über Apple. 14 Prozent fanden, das schlimmste an der Firma seien die hohen Preise für ihre Produkte. Nur zwei Prozent erwähnten die Arbeitsbedingungen in Übersee."

Vor fünfzig Jahren erschien Henry Millers "Wendekreis des Krebses". Doch in Frederick Turners Hymne "Renegade" will Jeanette Winterson in der Book Review nicht einstimmen. "Turner stellt Miller neben Walt Whitmann und Mark Twain als einen Erneuerer hin, der Anti-Literatur ist, nicht weil er ein Philister ist, sondern weil die neue Welt, die Amerika ist, eine neue Literatur braucht. Sie muss lebendig sein, nicht verfeinert, in den Docks und den Sweatshops geschrieben werden, nicht im Studierzimmer oder an der Universität." So weit, so gut. Aber seine Tiraden gegen Amerika, das "geldgieriger als die niederträchtigste Hure" sei, findet sie absolut verlogen, Ausbeutung von Frauen habe Miller nämlich nie gestört: "Ihm kam nie in den Sinn, dass, egal wie arm ein Mann ist, er sich für den Sex immer eine noch ärmere Frau kaufen kann."

Außerdem: Im Sunday Magazine lotet Ronen Bergman aus, wie wahrscheinlich ein israelischer Schlag gegen den Iran ist. Eve Fairbanks bewundert die schräge südafrikanische Band Die Antwoord.
Archiv: New York Times