Magazinrundschau

Drei Millionen an Sevcik

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.03.2012. Im Merkur flaniert Stephan Wackwitz durch Tiflis. Auch in Indien hat man in den Achtzigern schöne Stummfilme gemacht, meint Outlook India. Bloomberg Businessweek setzt sich bei den Samwars ins Kuckucksnest. Prospect amüsiert sich über Putin. Salon.eu.sk lernt, wie man slowenische Politiker besticht. In Wired erzählt George Dyson, wie der Computer entstand: aus dem Schlamm des Zweiten Weltkriegs und dem Himmel der Mathematik. Das New York Magazine porträtiert Filmlegende Mike Nichols.

Merkur (Deutschland), 01.03.2012

Stephan Wackwitz, seit dem Herbst für das Goethe-Institut in Tiflis, flaniert durch die Stadt und erlebt in einem Vergnügungspark, wie poetisch und absurd zugleich sie ist: "Das Absurde in freundlich-produktiver Koexistenz mit dem Poetischen ist ja die Denkform und Zentralmetapher der Filme Federico Fellinis in den frühen sechziger Jahren gewesen: zu einer Zeit, in der Italien etwa in derselben Weise zwischen Mittelalter und Moderne stand wie Georgien heute. Es waren die Sonne, die Zypressen, die ordinären oder madonnenhaften Frauen in Fellinis '8 1/2', die mir hier in Tbilissi wieder erschienen, die Nächte und Leuchtreklamen, die nächtlichen Treppen, Terrassen, Ruinen und Brunnen in 'La Dolce Vita'. Schönheitskult und Schafherden."

Christoph Kappes, Blogger und Internetunternehmer, gibt Entwarnung angesichts der, auch von Eli Pariser geschürten, Furcht vor der "Filter Bubble", in die uns Google zu umhüllen drohe. Gefiltert wird immer, auch offline, meint Kappes, und angesichts der Potenzierung von Informationen im Internet muss es dies erst recht: "Wer in Schwabing oder Blankenese wohnt, hat bald ein anderes Bild von der Welt als Cindy aus Marzahn. So wie jede Entscheidung Selektion ist, ist jede Entscheidung, die Situation nicht zu verändern, ein Schritt in die eigene 'Bubble'. Bemerkenswert ist nur, dass wir bei Onlinemaschinen mit Entsetzen 'Bubble!' rufen, während wir uns selbst in unserem Offlinekokon gut eingesponnen haben. Der Mensch verliert die Fähigkeit zu unterscheiden, wenn er zu lange nur auf Gegenstände und Routinen sieht, die sich nicht unterscheiden."
Archiv: Merkur

Outlook India (Indien), 12.03.2012

Der Oscarerfolg von "The Artist" lässt Naman Ramachandran in der indischen Filmgeschichte stöbern. Dabei entdeckt er den Film "Pushpak" aus den Achtzigern, der sich zwar nicht am ästhetischen Modus der klassischen Stummfilme orientiert, aber ebenfalls ganz auf Dialoge verzichtet. Und er kann auch heute noch bestens bestehen, findet Ramachandran: "Gewiss, die Botschaft, dass Geld die Wurzel vielen Übels ist und Ehrlichkeit die beste Handlungsmaxime, wird hier mit der Spachtelkelle aufgetragen. Aber das ist nur ein geringer Einwand, wenn man sich vor Augen hält, wie wunderbar der Film auch bei einer wiederholten Sichtung noch funktioniert. Die Zusammenarbeit zwischen Regisseur Singeetham Srinivasa Rao und dem Schauspieler Kamal Haasan, die mit 'Raja Paarvai' erstmals aufkeimte und später zu vielen, denkwürdigen Filmen führen sollte, blühte in 'Pushpak' richtig auf."

Youtube sei Dank kann man sich von dem Film selbst ein Bild machen:


Archiv: Outlook India

Bloomberg Businessweek (USA), 29.02.2012

Die deutschen Samwer-Brüder haben ein ganz eigenes Business-Modell entwickelt, das sich inzwischen bis nach Amerika herumgesprochen hat: Gute Ideen kopieren und sich dann auskaufen lassen. Am Beispiel von Groupon erzählt Caroline Winter, wie das funktioniert: "Im Januar 2010 lancierten die Samwers einen Clon namens Citydeal. Innerhalb von fünf Monaten war die Website Marktführer in Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Irland, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, Polen, Finnland, Dänemark, Schweden und der Türkei. Groupon hätte Citydeal auf diesen Märkten bekämpfen können. Es hätte auch eine Urheberrechtsklage einreichen können, aber nur mit geringen Chancen, denn Geschäftsideen können nicht patentiert werden, und Markenzeichen gelten nur für ein Land. So ging Groupon womöglich den Weg des geringsten Widerstands und kaufte im Mai den deutschen Clon für 14 Prozent seiner eigenen Aktien."

La regle du jeu (Frankreich), 04.03.2012

Bernard-Henri Levys Blog La regle du jeu und der bekannte Historiker Pierre Nora verfolgen in der Frage, ob die Leugnung von Genoziden unter Strafe stehen sollte, diametral entgegengesetzte Positionen. Ara Toranian greift Nora in La regle du jeu scharf an: "Die Gruppe um Pierre Nora übernimmt selbst die leugnende Rhetorik des türkischen Staats, indem sie eine historische Kommission befürwortet. Genau wie Ahmadinedschad, der eine solche für die Shoah verlangt. Diese Forderung ist die gefährlichste Kriegslist des propagandistischen Arsenals Ankaras hinsichtlich der Ereignisse von 1915. Sie legt es darauf an, Zweifel zu säen, indem sie weismacht, die Vernichtungsaktion sei noch nicht völlig aufgeklärt. Außerdem tritt sie die Arbeit Hunderter Historiker aller Nationalitäten mit Füßen, die seit dutzenden von Jahren über das Thema schreiben."
Archiv: La regle du jeu

Prospect (UK), 22.02.2012

Würde Putin häufiger ins Netz schauen, würde ihm vielleicht dämmern, dass seine markigen TV-Auftritte, in denen er sich etwa mit der Schlange Kaa aus dem "Dschungelbuch" vergleicht, die ihre Opfer hypnotisiert und dann erwürgt, die prosperierende russische Satireszene überhaupt erst befeuern, findet Rachel Polonsky. Insbesondere die Theatertruppe "Citizen Poet", die einerseits klassisch auf Bühnen spielt, andererseits aber auch jeden Montag ihren YouTube-Kanal mit Videos über die aktuellen Fehlleistungen der politischen Kaste füttert (hier die Reaktion auf Putins Schlangenrhetorik), hat es der Autorin dabei angetan. Die Auswirkungen sieht man auf der Straße: "Wie die Dinge sich ändern: In diesem Winter war der beliebte Buchladen auf der Tverskayastraße in Moskau, der früher Putinporträts verkaufte, voll mit den Werken der Leute an der Spitze des Protests: Boris Akunin, der Journalist Leonid Parfyonow und die Romanautorin Ludmilla Ulitskaya. ... Im Fenster lag das Buch und die DVD von 'Citizen Poet' aus, vorne drauf Jefremow, der, verkleidet als der absurdistische Schriftsteller Daniil Kharms, anarchisch unter seinem kitterigen Hut hervorgrinst. Von Putin keine Spur."

Weiteres: Jane Shilling macht sich angesichts stapelweise angehäufter persönlicher Korrespondenz, die sie den Flammen zu überantworten denkt, Gedanken über die Unterschiede zwischen Papier- und Netzkorrespondenz. John Gray empfiehlt von Herzen John Lanchesters neuen Roman "Capital". Sam Leith fragt sich ernsthaft, ob orangefarbene Paprika es wirklich verdient haben, an der Spitze menschlicher Erfindungskraft zu stehen. Ian Irvine sammelt literarische Zeugnisse zum Schaltjahrtag. Und würde David Sedaris über die Welt herrschen, brächen gute Zeiten für Jesus Christus, unseren gepriesenen Herrn, an.
Archiv: Prospect

Salon.eu.sk (Slowakei), 20.02.2012

Die slowakische Politik ist bis in die Grundfesten korrupt - das zeigen die "Gorilla-Files", an deren Bekanntwerdung Peter Holubek, ein ehemaliger Mitarbeiter des slowakischen Geheimdienstes, und der kanadische Journalist Tom Nicholson maßgeblich beteiligt waren, erzählt Martin Simecka in Respekt (hier auf Englisch). Holubek hatte vom November 2005 bis August 2006 eine Wohnung abgehört, die ein Treffpunkt von Regierungsmitgliedern mit Mitarbeitern der Penta-Investmentgruppe war. Das Material tippte er ab und leitete es an Nicholson weiter, der jahrelang versuchte, slowakische Medien dafür zu interessieren. Vergeblich, und das bei diesem Stoff! Jetzt ist es im Internet erschienen und hat einen Riesenskandal ausgelöst: "Das Dossier enthüllt, dass einer der Menschen, die regelmäßig den mächtigen Penta-Mitarbeiter Jaroslav Hascak trafen, der damals neu ernannte Wirtschaftsminister Jirko Malcharek war. In ihren Gesprächen spielt Hascak den Lehrer, der einen Novizen in die mysteriösen Wege des Systems einweiht. ... So informiert Hascak den Minister über die Höhe der Summen, die er seinen Beratern zahlen soll, die ebenfalls in den Kommittees sitzen, die über die Privatisierung der Energiekonzerne entscheiden: 'Drei Millionen (slowakische Kronen, das sind über 100.000 Euro) an Sevcik, zwei Millionen an Vlasaty, der Rest später, wenn der Deal abgeschlossen ist' lesen wir in dem Dossier. Natürlich würde Malcharek viel mehr bekommen, Millonen von Euro." (Mehr dazu auch von Michal Hvorecky in der Welt.)
Archiv: Salon.eu.sk
Stichwörter: Hvorecky, Michal

Wired (USA), 20.02.2012

Kevin Kelly führt ein schönes, aber auch sehr melancholisches Gespräch mit dem Computerhistoriker George Dyson (mehr), der seine Kindheit im Arbeitsumfeld von Alan Turing und Co. verlebte: "In einigen Schöpfungsmythen erhebt sich das Leben aus der Erde; in anderen kommt es aus dem Himmel. Der Schöpfungsmythos des digitalen Universums beinhaltet beide Metaphern. Die Hardware kam aus dem Schlamm des Zweiten Weltkriegs, der Code fiel aus abstrakten mathematischen Konzepten. Computerei benötigt sowohl eine physische Grundlage als auch eine logische Seele, um lebendig zu werden. Das waren damals junge Kids, die gerade den Zweiten Weltkrieg hinter sich hatten, die die Elektronik von Flugzeugen reparieren und diese noch am selben Tag wieder zum Fliegen bringen konnten, und von Neumann brachte sie mit mathematischen Logikern zusammen, die in der Lage waren, sich ein Universum vorzustellen, das allein aus Nullen und Einsen entsteht."

Außerdem: Brian Raftery stellt den Musikblogger Bob Lefsetz vor, der seit den Achtzigern die Musikszene kommentiert (damals noch mittels eines kostenpflichtigen Rundbriefs) und insgeheim von der guten alten Zeit der Musikindustrie träumt. Eine Pille zum gezielten Löschen von Erinnerungen könnte die Traumatherapie und zugleich unsere Auffassung vom Wesen menschlicher Erinnerungen revolutionieren, glaubt Jonah Lehrer. Und Steve Daly stattet einen Setbesuch bei den Dreharbeiten zum neuen Disney-Film "John Carter" ab, dessen Regisseur Andrew Stanton sich nach einer Karriere bei Pixar erstmals mit den Herausforderungen eines Live-Sets herumschlagen muss.
Archiv: Wired

Le Monde (Frankreich), 06.03.2012

Die rituelle Schlachtung von Tieren nach dem islamischen (oder auch jüdischen) Ritus ist eines der unheimlicheren Wahlkampfthemen in Frankreich, seit Martine Le Pen versuchte, das Thema für ihre Zwecke umzumünzen. Le Monde hat zu dem Thema recherchiert - und findet manches problematisch, etwa, dass es keine klare Definition der "Halal"-Schlachtung gibt. Hinzukommt, so Stéphanie Le Bars, dass heute "einige Schlachthöfe auf eine doppelte Schlachtungkette verzichten und deshalb mehr rituell geschlachtetes Fleisch auf den Markt bringen als gebraucht wird (14 Prozent des Fleisches kommen in Frankreich laut Landwirtschaftsministerium aus ritueller Schlachtung, während nur zehn Prozent der Bevölkerung jüdisch oder muslimisch ist). Das Landwirtschaftsministerium schätzt, dass 50 Prozent des Lammfleischs und 12 Prozent des Rindfleischs aus ritueller Schlachtung kommen."
Archiv: Le Monde
Stichwörter: Schlachthöfe

New York Magazine (USA), 12.03.2012

Jesse Green porträtiert den 1931 in Berlin geborenen Filmregisseur und -produzenten Mike Nichols, der gerade Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" für den Broadway inszeniert. Die Hauptrolle spielt Philip Seymour Hoffman. Nichols hatte das Stück 1949 gesehen, in der Inszenierung von Elia Kazan, den er als seinen "Helden" bezeichnet. "Wenn Kazan eine Art spiritueller Vater war, dann war er ein fehlerhafter - auch wenn Nichols sagt, es sei unmöglich über Kazans Entscheidung zu urteilen, Kollegen an das Kommittee für unamerikanische Umtriebe zu verraten, ohne in dessen Haut gesteckt zu haben. Zumindest sind Kazans Fehler bekannt und können 'untersucht' werden. Nichols' wirklicher Vater war dagegen die meiste Zeit nur eine Vorstellung. Um seine Arztpraxis einzurichten, zog er ein Jahr vor seiner Familie von Berlin nach New York, um dann, fast unmittelbar nach ihrer Ankunft, Mike und seinen vier Jahre jüngeren Bruder Robert nach Long Island zu schicken, wo sie bei einem Patienten leben sollten. Danach kam die Verbannung ins Internat und zwei Jahre später starb sein Vater an Leukämie, eine Folge der radiologischen Tests, denen er sich unterzog. Die Anerkennung eines Menschen zu brauchen, dessen Aufmerksamkeit man nicht mal erregen kann, ist, nun ja, eine Tragödie. Während die meisten Kritiker den 'Handlungsreisenden' also als eine Anklage gegen den amerikanischen Traum verstehen, sieht Nichols das zwangsläufig ganz anders. Für ihn geht es darin um etwas fundamental Menschlicheres, das heute noch relevanter ist als in der Zeit, in der Miller das Stück schrieb: die Sehnsucht, erkannt zu werden."