Magazinrundschau

Ich habe mich auf Yoga verlegt

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.06.2012. Le Monde beobachtet, wie nach der Wirtschaft jetzt auch die griechische Kultur zusammenbricht. In der Lettre erklärt William Langewiesche das System Camorra. The New Republic besingt die Schönheit des Helden, der seinem Gefängnis entkommt. Die New York Times bewundert die unternehmerischen Erfolge des Joaquin Guzman. Der Economist staunt über die Millionenumsätze beim Crowdfunding. Der Guardian streift durch das heilige Dublin. Der New Yorker stimmt sich auf Rhythmische Gymnastik ein.

Lettre International (Deutschland), 15.06.2012

Die Lettre übernimmt aus Vanity Fair William Langewiesches große Reportage über die Camorra, deren Clans sich in Neapel einen finsteren Krieg liefern, seit Paolo di Lauro, einer der großen Bosse, verhaftet wurde: "Die Camorra ist keine Organisation wie die Mafia, die man von der Gesellschaft trennen, im Gerichtssaal disziplinieren oder auch nur klar definieren könnte. Sie ist eine amorphe Gruppierung in Neapel und Umgebung, die mehr als hundert autonome Clans und vielleicht zehntausend direkte Geschäftspartner umfasst, dazu ein sehr viel größeres Netzwerk von Nutznießern, Klienten und Freunden ... Die Neapolitaner nennen sie resigniert oder stolz das 'System'. Die Camorra gibt ihnen Arbeit, leiht ihnen Geld, schützt sie vor der Regierung und hält sogar die Kriminalität auf den Straßen kurz. Das Problem ist jedoch, dass die Camorra außerdem in regelmäßigen Abständen versucht, sich selbst zu zerreißen, und dann müssen die gewöhnlichen Neapolitaner die Köpfe einziehen." (Hier das englische Original)

Der Philosoph Abdelwahab Meddeb erinnert an den tunesischen Staatsmann Habib Bourguiba, der als erster Präsident die Republik auf Rechtsstaatlichkeit, Frauengleichheit, Bildung und Laizität verpflichtete. Dass Bourguiba 1957 die islamische Zitouna-Universität schließen ließ, hält Meddeb heute für einen Fehler, es zeigt aber auch, auf welchem Niveau damals gestritten wurde: "In dieser Hinsicht wird meine Kritik dadurch etwas abgemildert, dass es Bourguiba als einem unverfälschten Produkt der französischen Kultur der Dritten Republik gar nicht in den Sinn kommen konnte, auf dem Weg der Modernisierung eine Nische für die Tradition offenzuhalten; er teilte die reduktionistische Sichtweise des Laizismus, die den Anteil des Heiligen in der Struktur des Menschlichen vernachlässigte." Trotzdem, schreibt Meddeb: "Meine Bewunderung gilt weiterhin auch der Eindämmung des politischen Islam durch Bourguiba, der die Lage richtig analysiert hatte, als er in der ungezügelten Bezugnahme auf den Islam ein Hindernis für die Schaffung einer erneuerten, an die säkulare Welt des Jahrhunderts angepassten nationalen Gemeinschaft erblickte."

Le Monde (Frankreich), 15.06.2012

Zwei Jahre nach Beginn der griechischen Krise, bricht auch das Verlagswesen zusammen, berichtet Florence Noiville. Die Situation: Leser kaufen nichts mehr, Buchläden schließen, die Verleger krebsen vor sich hin, die Autoren sind entmutigt. "Was verblüfft, ist der Dominoeffekt, die Geschwindigkeit, mit der ein ganzes System sich auflöst. In den Verlagen werden viele Angestellte nicht mehr bezahlt, sondern kommen umsonst zur Arbeit. Sie wissen, dass sie anderswo keine Anstellung finden. Vor der Krise, waren über die Hälfte der in Griechenland publizierten Titel Übersetzungen. Jetzt sind die Ankäufe von Rechten eingefroren." Viele Verleger retten sich inzwischen durch Programmumstellungen, wie Eva Karditi: "Ich habe mich auf Yoga verlegt."

Außerdem: Als ideologisch und mit dem Friedensgedanken unvereinbar kritisiert der tunesische Schriftsteller Hele Beji die Wiederaberkennung des Preises des arabischen Romans für den algerischen Autor Boualem Sansal; dessen Stifter, die arabischen Botschafter, hatten ihn Sansal nach einer Israelreise wieder entzogen. Beji, selbst Mitglied der Preisjury, wettert: "Mit welchem Recht? Im Namen welchen Krieges? Welchen Hasses? Welcher Angst? Welcher Religion? Welcher Staatsräson?"
Archiv: Le Monde

New Republic (USA), 28.06.2012

An Kropotkins abenteuerliche Flucht aus der Peter-und-Paul-Festung fühlt sich Paul Berman durch den chinesischen Anwalt Cheng Guangcheng erinnert, der, blind und mit gebrochenem Fuß, seinem Hausarrest in der Provinz Shangdong entkam und sich in die amerikanische Botschaft in Peking rettete: "Es ist schön und atemberaubend zu beobachten, wie einem Heros der Menschenrechte die Flucht gelingt. Der Helden mag durch andere Wirren gehen, und am Ende könnten die dunklen Kräfte triumphieren. Aber noch nicht! Derweil erhaschen wir einen Blick von der Freiheit, diesem flüchtigen Wesen, wie sie um die Ecke schleicht. Und die Seele frohlockt."

In einem sehr hintergründigen Essay rekapituliert die Ökonomin Deirdre N. McCloskey die Versuche ihrer Kollegen seit dem Utilitarismus-Begründer Jeremy Bentham, das Glück der Menschheit zu messen. Leider verkaufen sie einem dabei meist Vergnügen oder Lust als Glück: "Lust ist ein zeitlich begrenzter Gehirnstrom, Glück ist eine gute Lebensgeschichte."
Archiv: New Republic

Guardian (UK), 15.06.2012

Der irische Schriftsteller Colm Toibin führt zum Bloomsday durch Dublin und dessen verschüttete Geschichte, deren Spuren sich auch mit James Joyce' Werken besser nachvollziehen lassen. Joyce' Ehefrau Nora Barnacle "arbeitete im Finn's Hotel und der Fußweg zum Merrion Square, wo beide sich für den 16. Juni 1904 auf ein Treffen verabredet hatten, führte an der Hausnummer 6 der Clare Street vorbei, von wo aus Samuel Becketts Vater sein Geschäfte betrieb und wo Beckett später Teile seines Romans 'Murphy' schreiben würde. Joyce, der sich noch in diesem Jahr an die Arbeit zu den Geschichten in 'Dubliners' machen würde, und Nora hatten vor, sich vor dem Haus zu treffen, in dem Sir William Wilde gelebt hatte und in dem Oscar Wilde aufgewachsen ist, ein Ort, an dem viele Partys stattgefunden hatten. Bram Stoker, der Wilde am Trinity College in Dublin kennengelernt hatte, war häufig Gast des Hauses. Dessen Frau war eine frühere Freundin von Oscar Wilde. So kann die runtergekommene Innenstadt von Dublin zum heiligen Ort werden, wenn man diese Namen kennt und sie einem etwas bedeuten. Wenn nicht oder wenn man es eilig hat, so wie einige Charaktere in 'Ulysses' oder wie heute noch immer viele es eilig haben, dann ist sie gewöhnlich, eine Straße in irgendeiner Stadt."

Außerdem: Mario Vargas Llosa gibt Stuart Jeffries Auskunft über seinen neuen Roman, der von dem irischen Widerstandskämpfer Roger Casement handelt und dieser Tage auf Englisch erscheint. Richard Williams porträtiert den Songtexter und Musikproduzenten Van Dyke Parks, der die Texte von Brian Wilsons legendärem "Smile"-Album schrieb, damit bei den Beach Boys in Ungnade fiel und heute ein vielbeschäftigter Mann im Business ist. Der "Drive"-Regisseur Nicolas Winding Refn verrät zudem, warum er Andy Milligans trashige B-Movies aus den 70ern gemeinsam mit dem British Film Institute vor dem Vergessen bewahren will.
Archiv: Guardian

Economist (UK), 16.06.2012

"Crowdfunding boomt", liest man in diesem Artikel, der nicht schlecht darüber staunt, dass seit März, als auf Kickstarter, dem prominentesten Crowdfunding-Portal, erstmals eine Million Dollar eingesammelt wurden, bereits sieben Mal die Milliongrenze überschritten wurde. "Die Auswirkungen dieser Entwicklung zeichnen sich vor allem in den kreativen Künsten ab: Etwa zehn Prozent aller Filme, die bei Sundance und in Cannes gezeigt werden, wurden auf diese Weise finanziert, sagt Yancey Strickler, einer der Gründer von Kickstarter. Auch Wohlfahrtsverbände ziehen daraus Nutzen. Auch der in den USA kürzlich verabschiedete 'Jumpstart Our Business Start-ups"-Act (JOBS) gibt Anlass zur Hoffnung, dass Crowdfunding auch die Art und Weise wandeln wird, wie Firmen Kapital einholen. Duncan Niederauer, der Vorstand der NYSE Euronext, behauptet, 'so sieht die Zukunft für die meisten kleinen Firmen aus, um sich zu finanzieren', sofern es richtig angegangen wird."
Archiv: Economist
Stichwörter: Crowdfunding

New Yorker (USA), 25.06.2012

"Die olympischen Spiele und die wahre Bedeutung des Synchronschwimmens" - unter dieser vielversprechende Überschrift räsoniert Adam Gopnik über den regelmäßig wiederkehrenden Drang zu nationalistischer Begeisterung, selbst bei Sportarten, für die sich ansonsten kein Mensch interessiert - wie eben Synchronschwimmer oder Rhythmische Gymnastikerinnen. Gopnik schreibt nichts wirklich Neues, das aber sehr unterhaltsam und mit einer schönen Pointe: "Im Sport geht es insofern - und nur insofern - um die menschliche Natur, als er ein Beleg dafür ist, dass sich mit genügend Anstrengung alles meistern lässt. In diesem Licht betrachtet, ist der Drang, unser komplettes Maß an nationaler Hingabe Synchronschwimmern - oder Kugelstoßern und sogar Gehern und den Beach-Volleyball-Frauen in ihren Bikinis - zu widmen, durchaus logisch und auch großartig. Wir begrüßen die randständigen Meister unter uns mit offenen Armen, um eine Mannschaft zu bilden, genauso wie wir mit offenen Armen einst randständige Menschen begrüßt haben, um eine Nation zu bilden. Also führe uns, Julie Zetlin, zumindest für eine Woche oder zwei. Und vergiss dein Gymnasikband nicht."

Im Blog skizziert Wendell Steavenson die schwierige Lage des frisch gewählten ägyptischen Präsidenten Mohamed Morsi: "Morsi hat ein Mandat bekommen, aber es ist weit entfernt von überwältigend. Er wird eine Präsidentschaft ohne Verfassung oder Parlament übernehmen und seine Verwaltung wird mitten in einem Machtkampf mit dem Militär zu arbeiten beginnen. Es ist nicht mal klar, wie lange er regieren wird - bestimmte Generäle haben bereits gesagt, dass es nach Verabschiedung der Verfassung eine neue Präsidentschaftswahl geben muss. Aber inmitten dieser andauernden Unsicherheit muss man heute erst einmal zugestehen, dass eine freie und faire Wahl abgehalten wurde und dass Ägypten, zum ersten Mal in seiner siebentausendjährigen Geschichte, wie mir ein Demonstrant auf dem Tahrir-Platz versicherte, seinen eigenen Führer gewählt hat."

Weiteres: Ezra Klein analysiert ungeliebte Mandate und Meinungsumschwünge bei amerikanischen Politikern. Emily Nussbaum erkennt bei Aaron Sorkins neuer Serie "Newsroom" ziemlich vernichtend auf rein "künstliche Intelligenz".
Archiv: New Yorker

New York Times (USA), 17.06.2012

Patrick Radden Keefe widmet sich in einem ausführlichen Report dem mexikanischen Sinaloa-Kartell, dessen berüchtigter Chef Joaquin Guzman, genannt El Chapo, halb Mexiko in der Tasche hat und einen großen Teil der amerikanischen Grenzer wahrscheinlich auch. Keefe kann dabei eine gewisse Bewunderung für den Drogenboss nicht verhehlen, der - nach gerade einmal drei Schuljahren ein halber Analphabet - immer drei Milliarden Dollar Gewinn im Jahr macht. "Von der entlegenen Bergfestung aus, in der er vermutet wird, kontrolliert Chapo, zu jeder Zeit umgeben von einer ganzen Batterie Leibwächter, ein logistisches Netzwerk, das so ausgefeilt ist wie das von Amazon oder UPS - doppelt so ausgefeilt, wenn man es genau bedenkt, denn Drogenhändler müssen sowohl ihr Produkt wie ihren Profit im Geheimen transportieren und ständig manövrieren, um Tod oder Gefängnis zu vermeiden. Als Spiegelbild eines legalen Warengeschäfts erinnert das Sinaloa-Kartell an den alten Spruch über Ginger Rogers, die genau die gleichen Schritte macht wie Fred Astaire, nur rückwärts und auf hohen Absätzen. Mit seiner Lebensdauer, Profitabilität und Reichweite ist es wahrscheinlich das erfolgreichste kriminelle Unternehmen aller Zeiten."

In der Sunday Book Review liest Matthew Bishop eher skeptisch Paul Krugmans Streitschrift "End this Depression Now!", auch wenn Krugman mit seiner Plädoyer für mehr Inflation einen Punkt mache: "Ihn stört wenig, dass die Deutschen Inflation angesichts ihrer Erfahrung in den zwanziger Jahren 'hassen, hassen, hassen'. Denn tatsächlich, meint er, war es die Deflationspolitik der dreißiger Jahre, die Sie-wissen-schon-wem  den Weg bereitete." Und Parul Sehgal unterhält sich bestens mit dem Roman "Alice Bhattis Himmelfahrt" des Pakistaners Mohammed Hanif: "Er ist ein Bestrafer wie Jahwe, Flannery O'Connor und Muriel Sparks. Er ist ein Moralist im Gewand eines Folterers (oder war es umgekehrt?), er mag es, wenn seine Geschöpfe zappeln. Niemand entkommt unversehrt."
Archiv: New York Times