Magazinrundschau

Das Universum entschied

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.07.2012. In La Regle du Jeu wehrt sich der Rabbiner Yeshaya Dalsace gegen den Vorwurf Michel Onfrays, das Judentum habe den Monotheismus verbrochen. Bloomberg untersucht die Finanzen von Nummer 2 in China. Gatopardo stellt einige echte Mutbürger vor. Der Merkur klagt: Angela Merkel ist so langweilig. In Edge erklärt Joichi Ito im MIT die Vorteile disruptiver Erfindungen. Ars technica erzählt die traurige Geschichte von Winamp, dessen disruptive Entwicklung von Aol gestoppt wurde. Die NYT erinnert sich, dass Dichten mal eine Olympische Disziplin mit einem sehr rüden Schiedsrichter war.

La regle du jeu (Frankreich), 20.06.2012

Ein Text von Michel Onfray macht großen Wind in Bernard-Henri Levis Blog "La regle du jeu". Onfray hat Anfang Juni in Le Point den Historiker und Philosophen Jean Soler gepriesen, der in seinem neuen Büchlein "Qui est Dieu?" die Juden für die Erfindung des Monotheismus geißelt, der dann in Form des Juden-, Christen- und Muslimtums über die Welt hergefallen sei. Eine der falschen Annahmen über den lieben Gott der Juden, die Soler richtig stelle, sei, dass er erstmals eine universelle Moral darstelle: "Das ist falsch", so Onfray: "Seine Vorschriften betreffen nicht das Allgemeine und die Menschheit, sondern die Sippe, das Lokale, deren Existenz, Bestand und Zusammenhalt es zu sichern gilt. Die Nächstenliebe bezieht sich nur auf das Gleichartige, das Hebräische, für alle anderen wird sogar das Töten empfohlen." Darauf antwortet der Rabbiner Yeshaya Dalsace in La regle du jeu: "Laut Onfray kennt die Bibel das Universelle nicht und stiftet die Juden dazu an, die anderen zu vernichten ... Ein bisschen kurzgegriffen als Behauptung! (Ganz zu schweigen vom Mief der Verschwörungstheorie). Im Gegenteil, das Erstaunlichste an der Bibel besteht darin, dass ein kleines isolatiertes Bergvolk eine universelle Vision geschaffen hat, die immer wieder betont wird. Man begegnet ihr in der Vorstellung des einzigen Stammvaters der gesamten Menschheit, die als eine große, egalitäre Familie antritt; in der Vorstellung der Möglichkeit, einen universellen brüderlichen Frieden zu schaffen, die viele Propheten, insbesondere Jesaia, formulierten; in der Anweisung, Fremde zu respektieren, 'weil du selbst Fremder gewesen bist, sollst du den Fremden lieben wie dich selbst', die an zahlreichen Stellen wiederholt wird."

Weiteres dazu: Michel de Saint Cheron stellt das Buch von Soler vor, und Pascal Baque steuert noch eine Polemik gegen Michel Onfray bei, worin er ihn als "ein Symptom - bloß wovon?" bezeichnet.

Zu lesen ist außerdem die Besprechung des Buchs "Le Passage a l'Europe. Histoire d'un commencement" des niederländischen Historikers und Philosophen Luuk van Middelaar.
Archiv: La regle du jeu

n+1 (USA), 21.06.2012

Die Revolution ist nicht tot, schreibt Margaret Litvin in ihren teilweise recht komischen Impressionen aus Kairo, in denen sie auch das neueste Gerücht kolportiert: "Meine Freundin Nehad Selaiha ruft an und gibt mir aus ihrer Theaterkritikerinnen-Perspektive einen Überblick über die Ereignisse und Nicht-Ereignisse der Woche: 'Wusstest du, dass Mubarak klinisch tot ist und dass sie ihn künstlich am Leben halten, weil sie nicht wissen, wie sie ihn beerdigen sollen?', fragt sie. 'Er hat so viele militärische Orden erhalten, aber wie soll man jemandem ein militärisches Begräbnis geben, der im Gefängnis sitzt? Wie auch immer sie es machen, es gibt einen Aufstand.'"
Archiv: n+1

Gatopardo (Kolumbien), 30.06.2012

"Keine Papiere, keine Angst!" Eileen Truax stellt eine Gruppe echter Mutbürger vor: Die Dream Activists, Kinder illegaler Einwanderer in die USA, die nicht mehr mit dem Erreichen der Volljährigkeit vor dem Nichts bzw. der Ausweisung stehen wollen und sich deshalb - auf eben die Gefahr hin, des Landes verwiesen zu werden - für die Umsetzung des weiterhin höchst umstrittenen Dream Act einsetzen, der ihnen u. a. die Möglichkeit bieten soll, über ein Studium einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen. Einer ihrer Anführer ist Mohammad Abdollahi, Sohn eines aus dem Iran stammenden Mathematikers, der nach Abschluss seines Studiums an der Universität von Michigan in den USA geblieben war: 'Manchen von uns fällt es schwerer, die Scham oder die Angst zu überwinden, was wahrscheinlich daran liegt, dass unser kultureller Hintergrund teilweise sehr verschieden ist: Diejenigen von uns, die diese Schwelle überwunden haben, sind da im Vorteil, aber eben deshalb auch verpflichtet, für die anderen einzuspringen. Allen sage ich aber: Sobald ihr bei einer unserer Aktionen verhaftet werdet, nutzt die Gelegenheit, dass ihr einem Polizisten von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und sprecht mit dem Herzen zu ihm. Vielleicht verhaftet derselbe Polizist morgen jemand anderen, und wie er den behandelt, hängt auch von eurem Verhalten ab: Wir dürfen mit den Polizisten nicht so umgehen wie sie mit uns, wir müssen sie mit unserer Liebe töten.'"
Archiv: Gatopardo
Stichwörter: Dreamer, Mathematik, Mathematiker

Edge.org (USA), 21.06.2012

Der 1966 geborene Joichi Ito, japanischer Aktivist, Entrepreneur, Venture-Kapitalist und seit 2011 Direktor des MIT Media Lab (obwohl er keinen akademischen Abschluss hat), erklärt in einem Beitrag für edge.org, was die Internetwelt vom Rest der Welt unterscheidet: ihre Vorliebe für disruptive Erfindungen und die Möglichkeit, erst etwas zu erfinden und dann zu überlegen, wozu es gut sein könnte. "Wenn man an Google denkt oder Yahoo oder Facebook - diese Produkte wurden nicht in riesigen Versuchslabors mit hunderten Millionen Dollar Forschungsgeldern erfunden, sondern von jungen Leuten in ihrem Schlafzimmer. Wenn man in früheren Tagen eine Idee hatte, schrieb man einen Geschäftsplan und begann dann, nach Geld dafür zu suchen. Heute baut man das Ding erst, sucht Geld und dann erst denkt man sich einen Plan aus und überlegt, was das Geschäftsmodell sein könnte. Es ist das genaue Gegenteil. Man muss niemanden mehr um Erlaubnis fragen, wenn man etwas erfinden will. Stellen Sie sich vor, eine Typ wäre zu Ihnen gekommen und hätte gesagt: 'Ich werde die populärste Enzyklopädie der Welt aufbauen. Der Trick dabei wird sein, dass jeder daran mitarbeiten kann.' Sie hätten diesem Typen keinen Schreibtisch gegeben, Sie hätten ihm keine fünf Cent gegeben. Heute kann er einfach rumprobieren und sehen, ob es funktioniert. Wenn man zurückblickt, stellt man fest, dass viele der größten Erfindungen, die wir heute sehen, nie genehmigt worden wären."
Archiv: Edge.org

ars technica (USA), 24.06.2012

Wie eine kleine, feine Erfindung in der hierarchisierten Welt eines Großkonzerns versauern kann, davon erzählt Cyrus Farivar am Beispiel des Mediaplayers Winamp. Justin Frankel programmierte Winamp, weil er Mitte der neunziger Jahre keinen Mediaplayer fand, auf dem man zufriedenstellend MP3s abspielen konnte. 1997 stellte er ihn ins Netz und ein Jahr später gründete er die Firma Nullsoft und versuchte herauszufinden, wie man das ganze monetarisieren könnte. 1999 stellte Frankel Rob Lord ein, der zum Firmensitz (Frankels Schlafzimmer im Haus seiner Eltern) in Sedona in der Wüste von Arizona zog. "'Es gibt dort diesen sehr robusten Indvidualismus und einen sehr robusten spirituellen Geist und Frankel kam von dort', sagt Lord. Der Sedona Ethos schlug durch, als man geschäftliche Entscheidungen fällen musste. Lord erinnert sich an einen Moment, als es nicht genug Informationen gab, um zuversichtlich eine Entscheidung zu treffen. 'Wir machen einfach x und lassen das Universum entscheiden, sagte Frankel', erinnert er sich. 'Ich glaube, das beschreibt unseren Modus ganz gut - Dinge passieren aus gutem Grund.' Das Universum entschied, dass Winamp fantastisch war. In den ersten zwei Jahren, in denen Lord für Nullsoft arbeitete, vervierfachten sich Winamps Nutzerzahlen von 15 auf 60 Millionen Nutzer." Alles änderte sich, als die Firma für 100 Millionen Dollar von AOL gekauft wurde. 'Aol hat die Weiterentwicklung stärker behindert als jede andere Firma die ich kenne, sagt Chamath Palihapitiya, Winamps früher Chef für wirtschafliche Entwicklung. 'Diese Bürokraten sahen jede Entscheidung als politische Entscheidung. Wirklich gute Ideen starben noch in der Entwicklung.'"
Archiv: ars technica
Stichwörter: Behinderte, Lorde

Merkur (Deutschland), 01.07.2012

Thomas E. Schmidt schickt einen gewaltigen Stoßseufzer in den Politikhimmel: Angela Merkel, die nüchterne, ideologielose Physikerin hat nicht nur die Rechts-links-Kulturkämpfe beendet, sie hat das ganze Land sediert. Seither herrscht Langeweile: "Nachdem sie es eine Zeitlang anders versucht hatten, sind sie heute die Meister in der Kalibrierung des Normalzustands. Keine Haupt- und Staatsaktionen, keine politischen Umschwünge, die das Volk und die Verbündeten seekrank zu machen drohen, keine die politische Moral bis ins Mark zerfressenden Skandale, kein machtbewusstes Auftrumpfen auf offener Bühne. Aber auch keine Grandeur, keine nationalen Aufschwünge, kein atemberaubendes Machttheater, keine Siegertypen. In dieser Hinsicht nichts oder nur stümperhafte Versuche."

Marc Schweska unternimmt eine kleine Phänomenologie der Farbe Grau: "Eine Feier der Schönheit von Grau ist beinahe undenkbar, eher eine Ästhetik seiner Hässlichkeit. Wer erinnert sich nicht an den grauen Ostblock, dessen Antikonsumismus sich im Übermaß der Farbe Grau darstellte. Diesen Eindruck gaben zahlreiche Augenzeugen beiderseits des Eisernen Vorhangs wieder, der ebenfalls grau war. Unstrittig ist, dass die Zweite Welt den Untergang allein aufgrund ihrer Grauheit verdient hatte."
Archiv: Merkur

Bloomberg Businessweek (USA), 29.06.2012

Im März hat sich Chinas KP des so populären wie korrupten Kaders Bo Xilai entledigt, nun hat ein Reporterteam von Bloomberg in einer offenbar recht aufwändigen Recherche die Vermögensverhältnisse von Xi Jinpings Familie unter die Lupe genommen. Xi ist die Nummer zwei im Staat und immerhin als Apostel der "sauberen Regierung" aufgestiegen ist. Er selbst soll keinerlei Vermögen angehäuft haben, das seiner Familie wird jedoch auf etwa 376 Millionen Dollar geschätzt. "Xi und seine Geschwister sind die Kinder des verstorbenen Xi Zhongxun, einem Revolutionshelden, der 1949 Mao Zedong half, die Kontrolle über China zu gewinnen - mit dem Versprechen, Jahrhunderte von Ungleichheit und Machtmissbrauch zu beenden. Das macht sie zu Prinzlingen, Sprösslinge der hohen Parteikader, denen die Abstammung hilft, Einfluss in Politik und Wirtschaft zu bekommen. Laut öffentlichen Angaben, die Bloomberg zusammengestellt hat, gehören die meisten Vermögenswerte in Xis weiterem Familienkreis seiner älteren Schwester Qi Qiaoqiao, 63, ihrem Mann Deng Jiagui, 61 und Qis Tochter Zhang Yannan, 33. Deng hielt bis zum 8. Juni 18 Prozent am Seltene-Erden-Konzern Tungsten Group. Die Preise der Erze, die in Windturbinen und amerikanische Smart Bombs verwendet werden, stiegen in die Höhe, als China das Angebot verknappte." (Die chinesische Regierung ist so sauer über diesen Artikel, dass sie in China Bloombergs Webseite gesperrt haben soll, meldet Gawker.)

London Review of Books (UK), 05.07.2012

David Bromwich hat sich nochmals Obamas Reden im Lichte von David Maraniss' neuer Biografie angesehen und findet, dass dieser Präsident sich maßlos überschätzt: "Obama versteht sich selbst als den kühlsten Kopf, den vernünftigsten Zuhörer, den pragmatischen Mann in einer Welt voller Theoretiker und Fanatiker, doch keine dieser Eigenschaften qualifiziert eine Person, im Alleingang Entscheidungen zu treffen, die zwölf nur mit starken Gewissensbissen treffen könnten. Es gibt eben doch einen Punkt, in dem messianische Leidenschaft und die Liebe zur Exekutivmacht zusammenlaufen könnten. Indem er die Drohnenanschläge in Pakistan angeordnet hat, hat Obama es sich angemaßt, ungestraft ohne Gerichtsverfahren Personen zu richten und zu töten, die seiner Ansicht nach sterben sollten."

Außerdem: Perry Anderson liest sich durch einen ganzen Regalmeter von Literatur zur Geschichte der indischen Unabhängigkeit und Gandhis Rolle darin. Dokumentiert wird ein Vortrag der Kulturwissenschaftlerin Marina Warner über Damien Hirst. Richard Clogg meint, dass die Griechen angesichts der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 durchaus das Recht haben, gegenüber deutschen Forderungen empfindlich zu sein. Michael Wood legt dar, warum Ridley Scotts neuer Film "Prometheus" kein "Alien"-Prequel im strengen Sinne darstellt. Philip Oltermann erklärt den britschen Lesern den Status der Bild-Zeitung in Deutschland. Jenny Turner führt durch eine Ausstellung über britischen Glamour im Victoria & Albert Museum in London.

Rue89 (Frankreich), 01.07.2012

"The Newsroom", die neue Serie des "Westwing"-Autors Aaron Sorkin ist eine leise Enttäuschung, schreibt Marie Telling. Zum Trost stellt sie eine Reihe anderer Serie, sämtlich mit Trailern, zusammen, die ebenfalls vom Journalismus handeln. Am besten schneiden "The Hour" und "State of Play", zwei Serien der BBC ab, aber, oh Wunder, auch eine französische Serie findet Tellings Gefallen, "Reporters" von Canal Plus: "Die Serie zeigt sehr gut die Erschütterungen der heutigen Medienwelt, vor allem die Agonie des Papiers und die Entstehung des Internets und der Real-Time-Information. Trotz guten Rhythmus und guter Schauspieler hat die Serie nur zwei Saisons durchgehalten. Schade: Schon wurden die Räume von rue89 inspiziert. Die dritte Saison sollte von einem Online-Medium handeln."
Archiv: Rue89
Stichwörter: Rue89, Sorkin, Aaron

New York Times (USA), 01.07.2012

Wussten Sie, dass Dichten in der Antike eine Olympische Disziplin war? "Im antiken Griechenland waren literarische Ereignisse ein untrennbarer Teil von Sportfestivals. Voll bekleidete Dichter konnten bei der Menge genauso beliebt sein wie die muskulösen Athleten, die nackt und ölglänzend herumstolzierten", erzählt Tony Perrottet. "Philosophen und Historiker stellten neueste Arbeiten vor, während unbekanntere Dichter Stühle aufstellten oder auf Seifenkisten deklamierten. Kritik konnte brutal geäußert werden: als der sizilianische Diktator Dionysius 384 v.Chr. schlechte Gedichte vortrug, schlugen ihn die angewiderten Sportfans zusammen und zerstörten sein Zelt." Dichterwettbewerbe gab es bei den Olympischen Spielen noch einmal von 1912 bis 48, danach störte man sich an dem Amateurstatus der Dichter und schaffte die Wettbewerbe ab.

Im NYT Magazine erzählt Rob Walker, wie man als Amateur bei Youtube Geld verdient. Und Adam Davidson blickt auf die Filmindustrie und fragt sich, wie man bei diesen Produktionskosten überhaupt noch Geld verdienen kann.
Archiv: New York Times