Magazinrundschau

Ich sah deine Fußabdrücke im Schnee

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.08.2012. Nicht Autoren, Künstler sind die neuen Rockstars, meint der Philosoph Simon Critchley in The Brooklyn Rail. Wenn man sie in einer Künstlerkolonie mal in Ruhe lässt, kriegen auch Schriftsteller heute noch was hin, meint Romancier Alexander Chee in The Morning News. Komponisten dagegen fressen die Bären. Elet es Irodalom hofft, dass sich ungarische Aktivisten ein Beispiel an Pussy Riot nehmen. Die London Review reist nach Mali. Der Economist beobachtet, wie die Katholische Kirche in den USA versucht, die Steuer auszutricksen. In Rue89 vertraut der tunesische Karikaturist _Z_ nicht mehr auf den Schutz des Staates. Die New York Times besucht einen wiedergeborenen Atheisten im Bible Belt.

Brooklyn Rail (USA), 28.08.2012

Man kann viel gegen zeitgenössische Kunst sagen: ihre pompöse Unverständlichkeit, ihre schickimicki-Globalität, ihre zynischen Vermarktungsstrategien. Und doch möchte der englische Philosoph Simon Critchley sie verteidigen, "jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Es ist einfach eine Tatsache, dass zeitgenössische Kunst ein zentraler Platzhalter für den Ausdruck kultureller Deutungen wurde - gut, schlecht oder indifferent. Ich bin alt genug um mich daran zu erinnern, dass diese Rolle einst von der Literatur - vor allem dem Roman - gespielt wurde. Die kulturellen Torhüter waren Literaturkritiker oder Sozialkritiker mit literarischem Hintergrund. Diese Welt ist vergangen. Der Roman ist heute ein altmodisches, gefühlsbeladenes und völlig unbedeutendes Phänomen. Die heroischen Kritiker der Vergangenheit gibt es nicht mehr. Ich habe gesehen, wie diese Veränderung langsam passierte, als ich in den Sensation-getränkten Neunzigern noch in England lebte und erinnere mich - wie eine kulturelle Marke - an die Eröffnung der Tate Modern 2000, als unglaublich lange Schlangen von Menschen darauf warteten, Louise Bourgeois' riesige Spinne in der Turbinenhalle zu sehen. Es war klar, dass sich hier etwas in der Kultur verschob. ... Zeitgenössische Künstler scheinen gerade eine Menge Spaß zu haben, wie Rockstars in den Siebzigern, nur dass sie länger leben."
Archiv: Brooklyn Rail

Magyar Narancs (Ungarn), 09.08.2012

Im Vorfeld der Verurteilung der russischen Punk-Band "Pussy Riot" hatte sich Russlands Präsident Wladimir Putin gegen ein "zu hartes Urteil" ausgesprochen und die Meinung geäußert, in Israel oder im Kaukasus hätte man die jungen Frauen für ihre Tat gelyncht. Die liberale Wochenzeitung Magyar Narancs ist empört: "Damit behauptet er nichts Geringeres, als dass er der gute König sei, den man nur lange genug bitten müsse, um Gnade walten zu lassen, und andererseits, dass sich die 'Schuldigen' freuen sollten, dass sie mit ihrem Leben davongekommen sind. [...] Die Worte des Präsidenten legen nahe, dass Russland [...] bei weitem kein demokratischer Staat ist und dass seine jetzige Führung auch nicht beabsichtigt, diesbezüglich etwas zu verbessern. In Russland ist immer noch die Vergangenheit die Gegenwart. Und das Schlimmste daran ist doch - abgesehen von den äußerst negativen Auswirkungen auf das persönliche Schicksal der Russen -, dass es allen Möchtegern-Diktatoren dieser Welt ein Vorbild liefert."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Pussy Riot, Kaukasus

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.08.2012

Die drei verurteilten Mitglieder von "Pussy Riot" schmoren jetzt zwar im Arbeitslager, aber eins haben sie mit ihrer Aktion doch erreicht: Die Welt noch einmal auf die manipulierten Wahlen in Russland aufmerksam zu machen. Man sollte sich die drei zum Vorbild nehmen, meint János Széky, denn in Ungarn finden in zwei Jahren Wahlen statt und man hat gerade damit begonnen, das Wahlgesetz dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán auf den Leib zu schneidern: "Mit der feministischen Punk-Gruppe 'Pussy Riot' sympathisieren lediglich sechs Prozent der Russen, die Mehrheit verurteilt sie. Die liberale Opposition in den Großstädten hielt sie stets für verrückt und bewertete ihre Aktionen als nutzlos. Nun haben sie mit ihnen ein riesiges Glück: Nachdem die drei Mädchen mit dem Kopf gegen die Wand gerannt sind, haben die russischen Freunde der Freiheit eine Angelegenheit in der Hand, für die sie sich einsetzen können und die auch die Aufmerksamkeit der Welt weckt. Dies muss ein fataler Schlag gegen das Prestige Putins gewesen sein ... Die Frage ist, ob es 2014 in Ungarn derart mutige und sympathische Provokateure geben wird, die etwas tun, das die Welt verstehen lässt, was hier läuft."

New Yorker (USA), 03.09.2012

Lizzie Widdicombe porträtiert Scooter Brown, den Manager und "Entdecker" von Teenie-Idol Justin Bieber, und gibt einen Einblick in die Branche des Star-Machens. "Wo immer Talent ist, ist auch ein Manager. Danny Goldberg, Manager von Nirvana und danach Betreiber mehrerer Plattenlabels, erklärte mir, es kursierten zwei Definitionen, was ein Musikmanager ist. Die eine beschreibt den unterschätzten Visionär, 'den Manager, der alles für den Künstler gibt, sich für ihn aufopfert und wenn der Künstler dann Erfolg hat, abserviert wird' (wie beispielsweise bei Andrew Oldham und den Rolling Stones). Die andere beschreibt den Manager als hinterhältigen Manipulator: ein berechnender Puppenspieler, der einen Star aus ausnutzt, um seine eigene Gier oder seinen Ehrgeiz zu befriedigen (wie Lou Pearlman, der Impresario hinter den Backstreet Boys und 'Nsync, dem Justin Timberlake später 'Plünderung' vorwarf und der wegen Verschwörung und Geldwäsche ins Gefängnis kam)."

Weiteres: Sasha Frere-Jones schreibt über die britisch-irische Boygroup One Direction, die aus der englischen Version der TV-Talentsuche "The X Faktor" hervorging und jetzt mit ihrem Debütalbum die amerikanischen Charts aufmischt. Anthony Lane stellt das Buch "Portrait of a Novel: Henry James and the Making of an American Masterpiece" von Michael Gorra vor. Philip Gourevitch kommentiert den Kulturkampf innerhalb der Partei der Republikaner. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Birnam Wood" von T.C. Boyle.
Archiv: New Yorker

Rue89 (Frankreich), 27.08.2012

Afef Abrougui interviewt für Global Voices und Rue89 den bloggenden tunesischen Karikaturisten "_Z_", der erklärt, warum er auch unter den neuen Herrn weitermacht, Symbole des Islams zeichnet (und verspottet) und seine Anonymität schützt: "Ich berufe mich auf die Gewissensfreiheit (Artikel 5 der Verfassung), die auch den Begriff des Heiligen relativiert. Blasphemie existiert nur in der inneren Logik eines religiösen Systems - aber nicht eines Systems, das die Gewissensfreiheit toleriert. Obwohl der Artikel 5 bis heute gilt, wird er in der Praxis ignoriert. Man hat Nessma TV für die Ausstrahlung eines Zeichentrickfilms verklagt, in dem Gott auftritt ('Persepolis'). Man hat einen Internetnutzer wegen Veröffentlichung blasphemischer Zeichnungen zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. In der Praxis hat das religiöse Tabu also Vorrang vor der Gewissenfreiheit - und also der Freiheit an sich."
Archiv: Rue89

London Review of Books (UK), 30.08.2012

Bruce Whitehouse geht der Frage nach, wie es einer Handvoll Militärs gelingen konnte, im bis dahin unauffälligen Mali in kurzer Zeit erfolgreich zu putschen. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass der afrikanische Vorzeigestaat keineswegs so demokratisch gefestigt war, wie es bis dahin den Anschein hatte: "Die Putschisten machten sich die allgemeine Enttäuschung über eine fadenscheinige Demokratie und eine schwache Regierung zunutze, um ihre Aktionen zu rechtfertigen. Stunden nach der Übernahme, sprach Juntaführer Sanogo über die Sehnsucht seiner Leute nach Reformen: 'nicht der Armee, sondern des Staates'. ... Ob Sanogo beachsichtigte, Malis Demokratie zu retten oder zu konfiszieren, ist offen. Doch hätten er und seine Leute keine Hoffnungen darauf setzen können, Präsident Touré zu stürzen und unter der Bevölkerung Malis Unterstützung zu finden, wenn die zentralen Institutionen des Landes - die Polizei, die Gerichte und die Durchführung der Wahlen - robust gewesen wären. Die Soldaten, die am 21. März den Palast des Präsidenten stürmten, wussten dass Touré von der Bevölkerung nicht mehr legitimiert war. Touré selbst wusste das auch."

Weiteres: David Conn zeichnet anhand seines Lieblingsvereins Manchester City die Kommerzialisierung des Fußballs in den vergangenen 40 Jahren nach. Mit seiner Wahl von Paul Ryan als seinen künftigen Vizepräsidenten sendet Mitt Romney eindeutige Signale an die Wall Street aus, dass diese sich unter Romney ihre Regeln selbst schreiben könnte, meint David Bromwich. Michael Wood schaut sich Alfred Hitchcocks Stummfilm "The Lodger" an, den er zunächst eher gräßlich findet ("ein schwerfälliger, alter Stummfilmthriller, dessen schreckliche schauspielerische Leistungen und Gesten düsterer Vorahnungen 'Das Kabinett des Dr. Caligari' wie ein cinematisches Understatement erscheinen lassen"). Iain Sinclair schreibt während der olympischen Spiele Tagebuch, und Julian Bell besucht die Munch-Ausstellung in der Tate Modern.

Outlook India (Indien), 03.09.2012

Gandhi, ein technophober Modernekritiker? Das Bild bedarf der Berichtigung, schreibt Sudheenra Kulkarni in seinem neuen, offenbar sehr netzaffinen Buch "Music of the Spinning Wheel", in dem er die Ansicht vertritt, dass gerade das Internet heute die symbolische Funktion von Gandhis Spinnrad übernehmen könnte. Outlook India präsentiert daraus einige Auszüge: "Das Internet erfüllt die Erwartungen an eine ideale Maschine, wie Gandhi sie sich vorstellte. ... Der durch das Netz bedingte Wandel beweist, dass es im Dienst des 'Khadi Geistes' steht. Er bedeutet einen Übergang von Globalisierung zu Glokalisierung; von Zentralisation zu Dezentralisation; von Macht und Wohlstand in den Händen einiger in die vieler; von rein über materielle Begriffe definiertem Wohlstand hin zu einem, der den Reichtum der Kultur und ethische Werte herausstellt; von ungesundem Wettbewerb hin zur gesunden Kooperation; von einer vom Erkundungswillen geprägten Einstellung gegenüber der Natur und ihrer Ressourcen hin zu einer Einstellung des harmonischen Miteinanders." (Nur gut, dass Gandhi keine Wikipedia-Edit-Wars, Internet-Trolle und Youtube-Kommentatoren mehr erleben musste, sonst hätte er wohl doch wieder sein Spinnrad aus dem Keller geholt.)
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 18.08.2012

Misswirtschaft, sinkendes Spendenaufkommen und nicht zuletzt die hohen Kosten der zahlreichen Kindesmissbrauchsprozesse treiben derzeit zahlreiche katholische Kirchengemeinden in den USA in den Bankrott, erfährt man in diesem ausführlichen Artikel. Freilich lassen sich manche Pleite-Gemeinden unorthodoxe Manöver einfallen, um ihren Gläubigern ein Schnippchen zu schlagen: "In einem besonders herausstechenden Beispiel hat die Diözese San Diego den Wert eines ganzen Stadtblocks in der Innenstadt mit 40.000 Dollar angegeben, dem Anschaffungspreis des Objekts in den 40ern, statt den heutigen Marktwert zu ermitteln, wie es erforderlich wäre. Schlimmer noch, sie änderte die Form, in der Vermögenswerte aufgelistet werden müssen. Die zuständige Richterin, Louise Adler, war deshalb und wegen anderer Faxen seitens der Diözese dermaßen erbost, dass sie eine Sonderuntersuchung der Kirchenfinanzen einleitete".
Archiv: Economist
Stichwörter: Innenstadt, Innenstädte

Morning News (USA), 27.08.2012

In Amerika gibt's die schöne Einrichtung der Sommer-Künstlerkolonie. Alexander Chee singt ihr ein Loblied: Das Leben dort ist kostenlos oder zumindest sehr billig. Und man wird in Ruhe gelassen. "Es ist eine Bürde, unter Nichtkünstlern zu leben, wenn man in den Zustand der Versunkenheit gerät, die für das Kunstschaffen unerlässlich ist, denn dann ist man keine normale Person. Die gute Neuigkeit ist, dass das in einer Kolonie auch nicht erwartet wird - man muss natürlich höflich und respektvoll sein zu anderen Besuchern, aber nicht normal. Das ist eine große Erleichterung." In der Kolonie MacDowell schließt die Rundumversorgung einen morgendlichen Picknickkorb ein, der die MacDowell Gazette mit umfasst, "ein Newsletter, der von Hope Tucker und Dan Basila erstellt wird, mit Kapiteln wie 'Erwünschte Verbindungen' und einem Mix aus echten und ausgedachten Neuigkeiten. 'THE NEW GAYDAR - NUR SCHULE MÄNNER KÖNNEN ANDERE SCHWULE MÄNNER BEIM SEX IM WALD SEHEN.' 'MACDOWELL-KOMPONISTEN SIND BESONDERS GEFÄHRDET DURCH BÄRENANGRIFFE.' Der Küchenklatschreport listet die Lieblingsbands einer Küchenhilfe auf, in die wir alle verknallt sind: 'Die junge Küchenhilfe SAM liebt AC/DC, Black Sabbath, Megadeth und die Bee Gees. Die Anomalität wurde nicht erklärt.' Meine Lieblings-'Erwünschte Verbindung': 'Ich sah deine Fußabdrücke im Schnee. Sie gingen den Hügel hinauf und wieder herunter. Wo hast du geschlafen? Nicht mit mir.'"
Archiv: Morning News
Stichwörter: AC/DC, Black Sabbath, Newsletter

New York Times (USA), 26.08.2012

Es gibt nicht nur religiöse Fanatiker in den USA, sondern auch Atheisten. In bescheidener Anzahl zwar, aber ihre Zahl wächst - sogar im bibelfesten mittleren Westen, erzählt Robert F. Worth im New York Times Magazine. Er erzählt von Jerry DeWitt, einem 42-Jährigen Prediger, dessen Glauben immer liberaler wurde, bis er eines Tages feststellte, dass er auch nicht mehr beten konnte. Das isolierte ihn nicht nur von seiner Familie und seinen Freunden und Bekannten. "Der Übergang weg vom Glauben mag mit einer intellektuellen Offenbarung beginnen, aber dann muss man durch eine schwierige Neuinterpretation der eigenen Vergangenheit. Für Gläubige gibt es etwas, das DeWitt einen 'Köder' nennt, eine Wundergeschichte, die hilft, den Glauben zu verankern. Er nannte mir ein Beispiel: Dank einer ehemaligen Grundschullehrerin, die ihn mit nach Baton Rouge nahm, war er in Jimmy Swaggarts Kirche wiedergeboren worden. Später entdeckte er, dass diese Lehrerin bei ihrer Geburt beinahe gestorben wäre, und dass sie erst sicher aus dem Mutterleib gezogen werden konnte, nachdem ein Prediger aus der Nachbarstadt, den man geweckt hatte, im Kreissaal für sie gebetet hatte. Dieser Prediger war DeWitts Großvater. Ein Zufall, der DeWitt schicksalhaft erschien, als ein Zeichen, dass er selbst zum Prediger bestimmt war. 'Diese Geschichte gab mir das Gefühl, Gott habe mich berufen', sagt DeWitt. 'Wie erklärt man sich das jetzt? Wie gibt man seinen Leben Sinn? Es ist nicht leicht.'"
Archiv: New York Times